Wir hatten Quartier in Babel genommen. Zwei Schuhkartonzimmer mit offen liegender Elektrik, unterm Dach, gut 50 Meter über der Straße, dabei unterhalb der Traufkante der meisten umstehenden Häuser. Über einem rußschwarzen Schacht vom Durchmesser einer Kücheneckbank konnten wir uns durch winzige Fenster Zigaretten reichen.
Links arbeitete ein ägyptischer Schneider, gegenüber führte ein nigerianischer Exporteur von Haushaltswaren aus Plastik sein Geschäft und von irgendwo her wären auch exotischere Drogen zu beschaffen, waren wir sicher, als wir den sehr schmalen Spanier im Fahrstuhl trafen, der nervös an seinem verschorften linken Handrücken rieb.

Das Babel dieser Stadt war geteilt, ein kurzer Block lag zwischen den beiden Türmen. Dort hatte ich vor wenigen Tagen gelernt, weshalb sich Menschen nach Diamanten sehnen. Nie zuvor hatte ich ein solches Strahlen gesehen, wie es aus dem Schmuck in den Schaufenstern der Juweliere auf das Stück Straße zwischen den Türmen brach. Musste ein besonderes Licht gesetzt werden, ähnlich dem in Fleischauslagen, um diesen Glanz zu erzeugen? Brachten die Steine ihn unter jedem Licht hervor? Vielleicht auch ganz von selbst? Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich ein Diamantkollier besitzen. Gegebenenfalls auch eine passende Lampe.

Stattdessen hatte ich am Nachmittag ein Jacket gekauft, das in Schnitt wie Textur den gekochten Wollsachen ähnelte, die Comme des Garcons um die Mitte der 1990er herausbrachte. Die grobe thermische Behandlung hatte den Stoff irreversibel verknüllt, die Eiweißketten waren verklumpt und verzogen und lagen nun kreuz und quer auf mir. Ich fühlte mich in diesem Jacket nicht wie in Kleidung. Mehr wie von einem Tier mit Fäden warm umsponnen, in einer Hülle viel eher als unter einer Schicht. Ich fühlte mich so gut wie sehr lange nicht mehr.

Die neue entropische Jacke trug ich, als wir gegen 21 Uhr unsere Zimmer verließen um von Babel II hinüber nach Babel I zu gehen. Das indische Restaurant auf Ebene 3 des Block G hatte „Members only“ an die Tür geschlagen. Auf unser Klingeln öffnete ein junger Mann und wies uns einen Tisch nahe am Rand des etwa 70 Quadratmeter großen fensterlosen Zimmers zu, unmittelbar neben der offenen Spülküche. Um uns Einheimische um die zwanzig, viele junge Männer in dem Emo-Look den ich während der letzten Wochen lieben gelernt hatte, nahezu alle Plätze waren besetzt. Sie trugen meist schwarz und ausnahmslos schöne Brillen. Wie sie begannen wir laut zu sprechen und schnell zu essen. Daniel suchte aus, ich wollte mich nicht darum kümmern. In Indien, sagte er, würde man sehr schnell sehr dick, denn alles andere als essen sei dort sehr unangenehm.

Das hier war nicht Indien. Wir tranken das Bier, das wir seit Wochen tranken, wie stets aus Wassergläsern, rauchten Mentholzigaretten aus Japan, sprachen über die Eigenheiten der Schinkengasse auf der Inselseite der Stadt, fragten uns, ob die Straße unten noch voller von Menschen geworden sein mag und was wir mit ihnen gemeinsam zu erwarten hätten. Wir bezahlten ungefähr nichts für hervorragendes Essen. In eineinhalb Stunden würde das neue Jahr beginnen.

Unten wäre es nun doch wie dort, sagte Daniel, als wir herauskamen. Dicht drängten die Menschen in Richtung der Fähre und des Museumsareals. Wer nicht gehen konnte, hätte sich gefahrlos tragen lassen können. The invention of street diving. Dabei war es kaum lauter als im Restaurant.

Zwei Blöcke entfernt hatten wenige Stunden zuvor Atomic Kitten vom Dach der Mall, in der ich meine Jacke gekauft hatte, gespielt. Wir gingen leicht schief rechts geneigt, die Menge trug uns weich in die zur Mall führende Seitenstraße.
Am Sheraton stoppte der Fluss. Die Menschen hier waren wie die im Restaurant. Einige schauten die Hotelfassade hinauf und riefen „Ah!“. Dann schauten auch die anderen. Alle schauten, auch wir schauten. Es gab nichts zu sehen. Noch mehr riefen „Ah!“

Wir drängten weiter, um die Ecke, zum Wasser hin. Hier nun war es plötzlich leerer. Minuten zuvor hatte es Daniel abgelehnt, sich umzuschauen. Die Massen, sagte er, mochten in ihm einen klaustrophobischen Schub auslösen, wenn er sie nicht nur vor sich, sondern auch mögliche Rückwege verstellend sehen würde. Nie zuvor hatte ich von ihm gehört, dass er diese Veranlagung besäße und blieb deshalb völlig sorglos. In diesen Tagen sagten wir häufig solche Dinge, weil wir als die, als die wir hier herkamen, nicht hätten bleiben können.

Hinter uns lag eine Lücke der Straßenvergitterung einer Polizeisperre, vor uns das von weiteren Gittern versperrte Museumsareal, dahinter die Meerenge, auf deren anderer Seite lief die erleuchtete Skyline vor einem beträchtlichen Berg entlang. Am Nachmittag waren wir im Taxi hinaufgefahren, hatten hinuntergeschaut von dem beträchtlichen Berg auf die Skyline, von nur wenig oberhalb ihrer höchsten Häuser. Daniel trank stilles Wasser und aß wie stets Zitronentarte, ich trank Kaffee und las Wallpaper. Es war die einzige Illustrierte, die Starbucks hatte.

Hier an der Uferseite des Sheraton waren wir nun allein. Die vor dem Hotel verlaufende sechs- oder auch nur vierspurige Straße war von drei Seiten abgeriegelt, die vierte bildete das Hotel. Offenbar hatten uns nur die Unaufmerksamkeit des Wachpersonals und unsere naive Chuzpe das Areal betreten lassen. Am nächsten Tag würden wir in der Zeitung lesen, dass 360.000 Menschen hier an die Südspitze der Halbinsel gekommen waren und wir würden uns über die seltsame Genauigkeit dieser Schätzung wundern. Hierher waren sie nicht gekommen. Polizisten adressierten durch Megaphone vage warnend klingende Durchsagen an die Massen. Der starke, milde Wind trieb Baustellensand umher. Alle zusammen warteten wir auf das neue Jahr und das grandiose Feuerwerk über der Skyline.

Die Menge begann zu zählen. „Ten. Nine..“ Weit vor „One“ verebbte der Chor, setzte nach einer guten Minute erneut an, ging in Murmeln unter. Sollen sie zählen, sagten wir. Erst das Feuerwerk würde das neue Jahr sicher markieren.
Die Anzeige von Daniels Uhr erlaubt kein minutengenaues Ablesen der Zeit. Sie zählten schon wieder. Jetzt kamen sie durch bis zum Jubel nach „One“. Ein einzelner roter Luftballon flog über die leere Straße. Nun würde also das Feuerwerk beginnen.

Wir stießen mit dem Dosenbier an, an dem wir seit einer knappen halben Stunde tranken und waren froh, allein zu sein. Nicht nur weg von der Menge. Wir tranken weiter in kleinen Schlucken und schauten auf die diamantenen Hochhäuser am anderen Ufer. Daniels Uhr war nun 0:10 erkennbar näher als Mitternacht. Es würde, verstanden wir, kein Feuerwerk geben.

Mein Jacket war warm für die Nacht. Sollten wir nach einer Stroboskopfunktion an unseren Kameras suchen? Sollten wir anderen Ersatz für das Feuerwerk finden? Sollten wir mit der Fähre zur Schinkengasse auf der Insel übersetzen und uns mit den I-Bankern und Studenten betrinken? Sollten wir? Bleiben?

Hier war der Grund des Sees, um uns der Strudel. Niemand braucht Feuerwerk am Grund des Sees. Niemand braucht Feuerwerk. Niemand braucht irgendetwas, wenn er trocken und warm im Strudel auf dem Grund des Sees steht und Dosenbier hat.

Die Straßen hinter den Absperrungen leerten sich rasend schnell, der See lag trocken. Zurück im Schuhkarton, wird der Auftritt von Atomic Kitten im Fernsehen wiederholt. Selten war kein Feuerwerk schöner.

[Hong Kong, 31 Dec 2006]