Immer, wenn ich in Osnabrück ankomme, mache ich den selben Orientierungsfehler. Vom Bahnhof gehe ich zu Fuß zum Neumarkt, um von dort den Bus zu nehmen. Das ist der ganze Plan – die Details, das weiß ich, kann ich vor Ort auflösen. Wie die richtige Linie heißt und den Namen meiner Haltestelle merke ich mir nie, das finde ich heraus, wenn ich am Neumarkt die Fahrpläne lese. Das funktioniert zuverlässig.

Den Fehler mache ich, weil ich vom Neumarkt doch noch zum Heger Tor zu Fuß zu gehen beschließe. Um die Katharinenkirche herum unterläuft mir ein 90°-Dreher, ich stoße, überrascht, senkrecht auf den Heger-Tor-Wall und muß mich ohne weitere Informationen für eine Richtung entscheiden, es ist fifty-fifty und ich irre mich natürlich.

In dieser Stadt befindet sich mein Gehirn ohnehin im Selbstanalysemodus. Es formuliert deswegen den Satz „Immer, wenn ich in Osnabrück ankomme, mache ich den selben Orientierungsfehler“, den ich im Lauf der nächsten vier Stunden dreimal aussprechen werde. Allerdings gelingt es mir nicht herauszufinden, wie der Fehler passiert. Es hat, vermute ich, damit zu tun, daß ich mit der Katharinenkirche als Landmarke zu navigieren versuche und daß sie nicht so zwischen Heger Tor und Neumarkt steht, wie ich das, offenbar unwiderruflich, abgespeichert habe.

Das Gebäude, einmal aufgespürt, ist braun, 6 Stockwerke hoch und kreuzförmig, also punktsymmetrisch. In der Mitte sind die Treppenhäuser, derer es vier gibt. In jedem Stockwerk ist, wenn man von unten kommt, nicht die Treppe des Balkens sichtbar, den man gerade im Rücken hat, vielmehr scheint die Treppe schräg gegenüber der kürzeste Weg zu sein, und so dreht man sich also auf jeder Etage um π halbe und geht zwischen den Etagen im Halbkreis die Treppe noch. Spätestens im zweiten Stock hat man jede Orientierung verloren. Die gutgemeinten DIN A4s mit Pfeilen und Himmelsrichtungen helfen auch nicht weiter, wenn man keine Karte im Kopf hat. Es ist hoffnungslos. Das Ziel lautet deswegen, durch kontrolliertes Herumirren die Tafel zu finden, auf der, seit ich sie kenne, π = 3 für kleine π und große 3 steht. Da ist es dann.

In der Neuroblopsychologie bekomme ich von vier Doktoranden jeweils 15 Minuten Zeit, um mir Momentaufnahmen ihrer Arbeit zeigen zu lassen. Biologen, Physiker, Informatiker. Die Jungs sind mindestens 20% schneller als die Welt draussen. Innert 3 Minuten bin ich überfordert und habe Spaß. Dran bleiben, nicht zum Fenster sehen, nicht wahrnehmen, was er für Musik in seinem iTunes hat, nicht einfach nur abnicken, oder vielleicht doch erstmal nicken, es wird sich gleich klären, aber aufpassen, denn wenn es sich nicht klärt: unbedingt backtracken und doch nachfragen.

Ich habe keine Ahnung von Wetware. Es gibt zu viel Vernetzung im visuellen Kortex für ein bisschen lokale Feature-Extraktion, wozu sind die vielen langen Verbindungen gut? — ich versuche, auf eine Idee zu kommen, die der Mann vor vier Jahren auch hatte, als man ihm zum ersten mal von der Sache erzählt hat. Ich will nicht seine Zeit stehlen, der soll sehen, daß es sich lohnt, mir das zu erklären.

I can see why you’re not doing this in humans. Sie haben ein Recording-Verfahren, bei dem Chemikalien ins Gehirn gegeben werden, die präzise und zeitlich hochaufgelöst neuronale Aktivität anzeigen, viel aufregender als das langsame fMRI, das man bei Menschen verwendet.

Wenn man Testpersonen Bilder von Natur oder Gesichtern zeigt, in denen einzelne Stellen künstlich leicht aufgehellt oder abgedunkelt wurden, finden die Testpersonen diese Stellen beim ersten Hinsehen (sie schauen sofort unwillkürlich an die interessante Stelle.) Es geht so schnell, daß man vermuten darf, daß die low-level-Verarbeitung selbst die Aufmerksamkeit dirigiert.
Bei fraktalen Bildern allerdings tritt der Effekt nicht auf. Je mehr man die Fraktale aber verrauscht, desto stärker kommt er zurück. Frage: Was ist da los?

Und dann gibt es noch die zwei, die kenne ich schon, hallo! mensch! — die kriegen jetzt den Gürtel. Der Gürtel heißt eigentlich Feelspace und funktioniert so: Man trägt einen Kompass-Gürtel, der die aktuelle Ausrichtung im Raum per Vibration an die Haut überträgt. Nach einigen Wochen fängt das Gehirn an, die Information, quasi als neue sensorische Modalität (nämlich absolute Raumorientierung) auszuwerten. Ohne daß die Gürtelträger genau sagen könnten, wie sie es machen, schneiden sie bei Navigationstasks besser ab als wir Nicht-Cyborgs. Diverse Leute am Lehrstuhl, der Chef eingeschlossen, haben den Gürtel getragen, können sich aber, so hieß es damals, nur untereinander einigermaßen darüber unterhalten, wie es ist.

Osnabrück, das Zentrum im Osnabrücker Land, wie das Schild am Bahnhof bis vor kurzem noch trocken feststellte, ist meiner Heimatstadt nicht unähnlich, nur etwas größer und norddeutscher. Gymnasiasten helfen aus innerem Bedürfnis den Fremden bei der Busauswahl. Die älteren Herren stecken alle in aktuellen Audis und gutgepflegten Wachsjacken, die jüngeren Frauen tragen allesamt Jeans, hübsche Sneakers und Frisuren, die nicht nur ihren Eltern gefallen.
Allerdings gibt es auch eine bemerkenswerte Konzentration von Livekabinen, Liebesshops und unauffälligen Clubs mit dubiosen Namen. Gleich wollen mir die leicht überakkurat gekleideten Silberschöpfe, die zwischen Neumarkt und Bahnhof zu Fuß unterwegs sind, etwas unheimlich erscheinen.


[Osnabrück Westerberg]