Berlin nach Osten und mit der S-Bahn zu verlassen bedeutet immer, Klassenfragen zu wälzen. Von Osten zurückzukommen nicht, dann herrscht die Entspannung des von Brandenburg korrigierten Blicks. Wer aber hinausfährt, überschreitet am Ostkreuz eine Grenze und muß sich beschäftigen damit, warum er sie wahrnimmt; die vertraut aussehenden Menschen jenseits sind ältere Damen mit Halsband und einer kleinen Plastiktüte mit ungepflanzten Blumen. Die Jüngeren aber haben rötere Gesichter, kürzere Haare, bleichere Kleidung, klobigere Schuhe und mehr und größere Hunde als die Leute in Mitte und Prenzlauer Berg.

Wo sich die S 75 von der 7 trennt, dreht sich rechts ein riesenhaftes Haus an die Bahn heran im weiten Bogen. Ein guter Einfall, eine Art Einfallstor für den Wind; eine lange, kantenlose Front der Plattenbausiedlung nach Osten. Vor ein paar Jahren gab es die Geschichte, daß aus einer der Wohnungen dort bei einem Beziehungskrach eine Waschmaschine aus dem Fenster geworfen worden sei und ein Kind erschlagen habe. Dieser Art sind die Geschichten, die man sich über die Leute hier erzählt; die BZ druckt sie, die Leute hier vergessen sie, die aus dem Prenzlauer Berg merken sie sich jahrelang.

Ich fahre bis Springpfuhl. Man macht hier keinen Hehl aus der Qualität des Geländes, auf dem die Hochhäuser stehen. Springpfuhl, Wuhlheide. Das Bezirksamt Marzahn ist dort oben, in einem braunen, verhältnismäßig niedrigen Haus auf vernarbtem Beton, vor Jahren war ich einmal dort. Zurück nach Friedrichsfelde Ost, wo es am Bahnsteig seltsam still ist. Kaum Straßenlärm. Nur eine kleine junge Frau lacht und spricht leise unter den Zärtlichkeiten ihres bulligen und sehr viel größeren Freundes; sie kichert, ey die Leute denken noch Du machst wat wat ick garnich will; die Leute, das bin wohl ich gewesen, aber ich habe nichts dergleichen gedacht.

Am Alexanderplatz, wo neuerdings eine permanent bratwurstige Feststimmung auf einer Art Dauer-Weichnachtsmarkt herrscht, hatte ich noch Angst, die Stadt in einer Herde Oster-Sommerfrischler verlassen zu müssen, aber gefehlt: Nach Biesdorf bin ich im Zug alleine mit Pendlern, wir seh’n uns morgen, sagen sie, wenn sie aussteigen, zu denen die bleiben. Morgen ist Ostersonntag.

Ein verirrtes Tassimo-Plakat hängt da, als schäme es sich. Die zweifelhafte Praxis des Milchschaumschlürfens, die man im Prenzlauer Berg für den höchsten Ausdruck von Lebensqualität hält, weckt hier, möchte man meinen, kaum Begehrlichkeit. Ich glaube, in meiner Gegend denken sie wirklich, daß es denen hier draußen schlecht gehe, weil sie nicht begriffen haben, wie fantastisch die laut rüsselnden neuen Automaten Milch auf den Kaffee schäumen können.

Berlin endet optisch in Mahlsdorf. Ich steige aus und gehe ein paar Schritte, aber es ist zu langweilig: Baumschulenweg, in viel kleiner, in noch viel schäbiger und noch langweiliger.

Auf dem Bahnsteig, allein, beim Warten auf die nächste 5, lese ich. Versöhnliches Wetter. Nicht schön (obwohl es natürlich schön ist) — versöhnlich. Fast still. Gleise schnurgerade nach Osten, dort muß irgendwo das mythische Strausberg sein. Ich verstehe jetzt, daß die S5 ein Fremdling ist am Hackeschen Markt. Sie gleitet lange und leer durch Brandenburg, in ihrem richtigen Leben. Die hektischen Abschnitte in Mitte sind kaum mehr als kurze Aufregungen.

Bahnsteig, Mahlsdorf. Blick nach Osten.

Karges, dunkles Land, auch in der Sonne. Birkenstein: Definitiv nicht mehr Berlin. Trost- und Baumlose Ebene mit wuchernden Fertighaus-Krampfadern. Auch hier baut City-Haus — Direkt vom Bauunternehmer. Dann Rapsfelder, in ein paar Wochen explodiert das hier in Farbe. Fredersdorf dagegen sieht nett aus, hat sich feingemacht, Fredersdorf bei Berlin. Und an jedem Bahnhof der S5 eine frische Sparkasse, eine Bäckerei, ein Dönerwagen.

Schließlich Strausberg. Ich wäre lieber bis Strausberg Nord gefahren, aber die Bahn endet hier, und ich habe keine Lust mehr zu warten. Ich werde den mythischen Ort also ein andermal besuchen müssen. Neben dem Dönerstand ein klassischerer Imbiß. Vier von ihrer Nutzlosigkeit erschöpfte Männer trinken Bier und stören sich gar nicht am Fettgeruch. Die hatn Messa da drinne pass bloß uff, ajaja, ajaja-ja.

Ich will nicht auf die Karte sehen und gehe deswegen einfach an der S-Bahn entlang. Eine brandenburgische Dorfstraße, niedrige Häuser, abwechselnd im Zustand des Verfalls oder unfertig renoviert: Neue Fenster, sichtbare Isolierschaumknollen. Das bleibt hier länger so, man begegnet hier dem Unfertigen viel gelassener als in Süddeutschland.

Wo die Bahn eine Biegung nach Norden macht (dort liegt Strausberg Nord), überquere ich, längst vollkommen allein, die Gleise. Links ein großes verfallendes Anwesen, zu dem es keinen Zugang zu geben scheint.

Das rätselfhafte Anwesen

Auf der Kopfsteinpflasterstraße bollern Kleinwagen mit jungen Männern vorbei, die mich in die Kategorie „Spinner aus Berlin, ungefährlich“ sortieren. Einmal überhole ich ein Paar mit Kinderwagen: Dicklich und extrem jung beide, er mit Stoppelhaar, sie in bequemen Sachen, die allerdings viel von einer sehr beweglichen Brust zeigen.

Militärisches Sperrgebiet. Die üblichen Schilder drohen mit Schußwaffengebrauch, ich entdecke den Zaun und die Warnungen erst, als ich wahllos zwischen die Bäume fotographiere und aus einem vorbeifahrenden Lieferwagen verblüfft angestarrt werde. Schließlich zweigt die Straße des Friedens ab, eine kleine DDR-Siedlung mit glatten zweistöckigen Neubauten. Nach einer Weile ein Sackgassen-Schild, das mich lockt. Ich hoffe auf einen Park- und Wendeplatz, auf dem nur ein einzelner vergessener Opel wartet, und dahinter: Nur trockene Gräser. Es ist aber immer noch nicht ganz still, ich höre eine Straße donnern. Und wirklich, die Enttäuschung folgt: Wieder Häuser zwischen den Bäumen mit einer Straße von irgendwo anders. Ich kehre um.

Bei der zweiten Begegnung schaue ich mir das verfallende Anwesen genauer an und entdecke, direkt am Bahndamm, einen kleinen Weg, der am Zaun entlang führt und direkt hinein in die Zone.

Die Zone. Ein Feuerlöscher, der nie ein Feuer löschen wird.

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Die Zone. Das rätselfhafte Anwesen, Rückansicht.

Ich kann fast ganz um das Anwesen herumgehen — zwei große Häuser und einige kleine Ziegelbauten, ein Teich, gespeist von einem Rinnsal, das unter der Bahn durchkommt, in der Mitte von etwas, das einmal ein Park gewesen sein könnte. Ich will das kaufen. Ich überlege, wieviel ich verdienen müsste und was man damit anfangen würde. Strausberg. Zu weit weg von Berlin, um hier häufig Berliner zu Gast zu haben. Andererseits nahe genug, wenn man nicht täglich in die Stadt muß und nur in Ruhe zu Ende leben will, und ab und zu ein Fest mit Lampions feiern.

Vermutlich gehört es einem irren westdeutschen Investor, der vom Dornröschenschlaf fiemelt und dem ein Hotel im Waldschlößchen vorschwebt oder gleich ein Spaßbad.

Hinter der Zone beginnt der Wald. Richtiger Wald, laublos noch, über den unvertraute Enten ziehen, die machen Geräusch. Mit jedem Schritt wird es stiller. Ich biege zweimal nach Laune ab immer dorthin, wo es einsamer aussieht. Eine kurze, surreale Begnung mit einem Moped. Dann wieder nur noch Enten und Wald. Ein Wald ist ein Ort für Dinge, die nur einmal geschehen.

(Unsere vielleicht mediale Angewohnheit, die Bühne sauberzumachen für weitere Aufführungen desselben Stücks. In der Serie glaubt der Konsument, sich an der Neuheit der Geschichte zu erfreuen, während er faktisch die Wiederkehr eines konstanten narrativen Schemas genießt. Umberto Eco, Die Innovation im Seriellen)

Einmalgeschichten also. Die Seltsamkeit Wald. Wo die Menschen nicht wohnen. Der Rest Stadtdröhnen verschwindet ganz, schließlich wird es lichter, und lichter, und endlich geht der Blick auf in die Weite: Kraftort.

Kraftort. Windräder.
Kraftort. Industrie.

Lautlos drehen sie sich, meine Freunde, dort, wo die S-Bahn nicht mehr hinfährt. Und lautlos zieht der Rauch aus dem fernen Schornstein nach Polen.


[Strausberg. Wald. Die beiden letzten Bilder zeigen den Blick aus der Kartenmitte nach Südsüdost.]