Über die Durchlässigkeit der Welt: Am Abend des 3. Januar 2006 sah ich fern und blieb bei br alpha hängen; bei einer Sendung, in der es um eine Landschaft in Bayern ging. Das Erzähltempo und die Bilder schienen aus einer anderen Zeit gekommen zu sein. Diese Ruhe war fremd im Jahr 2006 und doppelt fremd im Fernsehen des Jahres 2006. Für mein Weblog notierte ich, aus dem Gedächtnis, einen Satz der Offstimme:

Stundenlang haben wir hier verharrt
auf die schweren Güterzüge gewartet
ihr Donnern verschlingt für Sekunden jede andere Gegenwart
dann wird wieder das sanfte Rauschen des Auwaldes
das Plätschern des Flusses hörbar

Das Bild dazu zeigte den stillen Fluß und am linken Bildrand eine Weide. Ich vergaß es, wie man Fernsehen vergisst, und erinnerte mich später mehrfach und grundlos wieder daran: Unvermittelt und jäh tauchte das Bild auf, auf dem glatten schwarzen Spiegel, und fand Eingang in diesen Kanon von Kulturfragmenten und Bildern, die uns begleiten, ohne daß wir sagen könnten, warum – warum hat sich dieses Bild eines Flusses festgesetzt, neben die Schatten der Kugeln von Louise Bourgeois, oder die Tropfen auf der Herdplatte?

Im Januar dieses Jahres beschloß ich, herauszufinden, was ich da gesehen hatte. Google blieb stumm. Ich wandte mich an den Mitschnittservice des Bayerischen Rundfunks, beschrieb vage, woran ich mich erinnerte, und entschuldigte mich für die Absurdität der Anfrage. Zwei Wochen später hatte ich Antwort, und ihre Genauigkeit erstaunte und rührte mich. Der BR nimmt das Bewusstsein seiner Zuschauer, mit dem er täglich hantiert, sehr ernst. Die Antwort enthielt eine Liste der Bildinhalte, und darin fand sich:

9 — Bahnlinie, fahrender Zug, auch Luftaufnahme 0’20“
10 — Innbrücke, v.v.E., über Brücke fahrende Güterzüge, Auwald am Inn 1’35“
11 — Bauerngarten neben Bahngleis, bunte Blumen 0’35“

Das war meine Sendung, ein „Unter unserem Himmel“ von 1993. Wer im Sendebereich des BR aufgewachsen ist, erinnert sich an die Zither im Vorspann dieser Reihe. Mein Wald war die Einstellung Nummer 10, über Brücke fahrende Güterzüge, Auwald am Inn. Ich bat den BR um eine Kopie der Sendung auf DVD. Hier ist der genaue Wortlaut meiner Stelle:


1993 ist das gedreht worden, von Georg Förtsch, anläßlich einer geplanten Modernisierung der Strecke für Fernschnellzüge: Zweigleisiger Ausbau, Elektrifizierung. Denn 1993 rollten die ersten ICE 1-Züge:

Sie gleiten durch das Land wie Wesen aus einer fernen Zukunft,
weißglänzend, schlank, und pfeilschnell.
Fast lautlos tauchen sie auf,
rasen auf uns zu,
ein scharfer Luftzug: Vorbei.

1993 war das Jahr, als die Menschen so aussahen, und die Computerspiele so.

Am Abend des 22. Mai 2011 komme ich in Mühldorf am Inn mit der Südostbayernbahn von München an. Es ist spät, schon dunkel, und vor dem Bahnhof warten drei einsame Taxis. Obwohl ich mir Sorgen mache, wegen des Hotels, gehe ich zu Fuß: Mühldorf ist nicht groß, und ich will nicht mit dem Taxi in die Innenstadt gefahren werden, das hier ist keine meiner hastigen Geschäftsreisen. Ich will durch das Münchner Tor zum Stadtplatz gehen, wie in der Sendung, derentwegen ich hier bin. Nach ein paar Minuten finde ich das Tor, seltsam vertraut, auch der Platz dahinter sieht aus wie 1993, nur glatter, renovierter, einkaufsstraßenhafter. Ein Müller, ein Weltbild Plus, Banken, K&L Rupert. Das Café Orange, vor dem ein paar Leute stehen und reden. Sie bemerken mich, und ich tausche einen langen Blick mit einem Mädchen. Ich trage ein weißes Hemd und meine verräterische Reisetasche: Ein Fremder in der Stadt. Zwei Brunnen passiere ich noch, dann bin ich am anderen Ende des Stadtplatzes, am Altöttinger Tor angekommen, wo ich mein Hotel finde.

Die Tür lässt sich aufdrücken, drinnen warmes Licht und Teppiche, eine Treppe und am Ende der Treppe Leere, die zurückstarrt. Neben der Leere eine Ritterrüstung. Der Metallmann schweigt. Die Rezeption ist unbesetzt, leise summen eine unsichtbare Leuchtstoffröhre und ein Kühlschrank mit Säften. Mehrere Türen führen vom Gang ab, alle sind verschlossen, kein Licht ist feststellbar hinter keiner von ihnen, nur im Flur ist es hell, vor der Rezeption, neben dem schweigsamen Metallmann. Ein Schild fordert mich auf, einfach den Hörer von einem Telefon abzunehmen, falls die Rezeption unbesetzt sei. Ich nehme den Hörer ab und lausche, höre eine Schaltung knacken, dann ein Tuten, im nächsten Moment klingelt es, bestialisch laut: Ein Handtelefon, dreissig Zentimeter vor mir. Ich lege auf. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und sage zum Metallmann: — Hm. Dann nehme ich den Hörer noch einmal ab. Wieder klingelt das Handset vor mir in seiner Schale, ich lasse es klingeln, es hallt durch den leeren Flur. Nach einer halben Minute lege ich auf, nehme meine Tasche, nicke meinem gepanzerten, aber nutzlosen Gefährten Lebewohl, und stehe wieder auf dem Stadtplatz von Mühldorf. Die Rezeption ist, lese ich auf einem Schild an der Tür, seit einer Stunde geschlossen. Immerhin, denke ich, ist die Nacht warm, und sehe mich um.

Im Café Orange, das „retro“ dekoriert ist, sitzen noch drei kleine Gruppen über Bieren. Das Mädchen von vorhin schaut hoch und grinst mich fragend an. Ich unterdrücke den Impuls, wegzuschauen, einfach nur zum Tresen zu gehen, etwas zu Trinken zu bestellen, den Schweiger zu markieren und nach einem Ginger Ale wieder in die Nacht zu verschwinden. Das ist keine gute Idee. Nie, heute besonders nicht. Wer scheu ist, schläft im Park. Ich sage also: — Ich bin ja auf Herbergssuche. Ich bräuchte ein Hotel, meins ist schon zu, oder die Nummer von jemandem, den man da noch rausklingeln kann. Warum ich „Herbergssuche“ sage, weiß ich nicht, ich glaube, ich hoffe, daß das im katholischen Oberbayern die richtige Mischung aus locker und harmlos ist.

Ich muß dann zuerst erklären, was ich in Mühldorf mache, man vermutet ein Bewerbungsgespräch. Ich erkläre, daß ich mir die Bahnbrücke über den Inn ansehen möchte, und, um das weniger wahnsinnig klingen zu lassen, erwähne ich, was ich studiert habe. Das funktioniert immer. In anderen Worten, ich labere mich wie üblich um Kopf und Kragen. Die drei sind gebürtige Mühldorfer, Chemiker, und arbeiten in Gendorf und Burghausen. Patrizia ist eine von diesen extrem gesunden bayerischen Frauen und glüht, blond und glänzend. Die beiden andern nennen sie „Patti“, und sie versichert mir, daß man mich schon nicht am Bahnhof wird schlafen lassen. Ich gehe aufs Klo, und fünf Minuten, nachdem ich zurückgekommen bin, verabschieden sich die Jungs, sie müssten früh raus morgen, und wenn sie jetzt noch ein Bier nähmen…

Patrizias Neunziger-Jahre-BMW riecht nach Wunderbaum, was sie konzediert. Das sei nicht aus dem Wagen zu kriegen. Sie bewohnt eine Einliegerwohnung im Haus ihrer Tante, drei große Räume mit kalten glatten Granitböden, Edelstahl-Küchengeräten, die einer Chemikerin alle Ehre machen, Flokatis, und einem Fernsehmöbel, alles unter einem leicht schrägen Dach. Die Tanne im Vorgarten, die wir von der breiten Giebelglasfront aus sehen könnten, wiegt ihre Äste im bläulichen LED-Licht einer Solar-Steck-Gartenlampe.

In Wirklichkeit war es nicht genau so. In Wirklichkeit nächtige ich in einem guten alten Garni, wo die Rezeption noch besetzt ist. Zum Zimmer führt eine Treppe aus Steinen mit Trilobiteinschlüssen und schwarzem Eisengeländer, und es riecht dunkel nach Teppichreiniger und Holzpolitur. Das Spannungsfeld zwischen dem Empfindsamen und dem Begehren, denke ich, ist intellektuell und emotional nicht auflösbar, nur praktisch. Das Empfinden selbst kennt kein Geschlecht, nur die große Wirklichkeit, aber die Unvollständigkeit und Lebendigkeit der Körper ist nunmal Teil dieser Wirklichkeit, und deswegen gibt es keine Sanftheit, keine Offenheit gegenüber der Welt, keine Korrespondenz mit der friedlichen Weltseele, die nicht gestört, befeuert und begründet würde von der Gier der Körper. Was denen erlaubt und richtig ist, ist nicht zu wissen, man hat das Recht und die Pflicht es zu versuchen. Wie jede Poesie braucht auch die Poesie der Innbrücke, die ich in Mühldorf jage, einen Adressaten.

Ich frühstücke zwischen ausnahmslos ältlichen Hotelgästen, die entschlossen sind, von diesem ihrem 50-Euro-Hotel gerade betrogen zu werden. Dauernd maulen sie hinter der extrem freundlichen und gutmütigen Chefin ihre albernen und ungerechten Vorwürfe her: Die Brötchen seien ganz sicher Aufbackbrötchen, gestern sei nicht genug Grünkernbrot da gewesen (empörend!) und die Mühldorfer führen frühmorgens mit ihren Autos auf ihrem Marktplatz herum, es sei kein ruhiges Hotel. Ich hasse die Bagage von ganzem Herzen.

Auf dem Weg am Inn entlang versuche ich, mir die Brücke vorzustellen, und die Güterzüge: Die Brücke müsste zwei Teile haben, die Steinbögen und den Stahltrog. Der Inn ist schon da. Der Inn fließt ruhig, unbeschifft, ungestört, ein einzelner Angler sitzt nahe Mühldorf noch am Ufer, dann bin ich allein im Auwald. Es ist nicht so still, wie ich mir das ausgemalt hatte, auf der anderen Flußseite verläuft die Straße nach Altötting. Sie ist meist nicht direkt hörbar, nur atmosphärisch präsent. Und der Himmel über Oberbayern dröhnt: Franz Joseph Strauß ist nicht weit. Es gibt stille Momente, in denen nichts übrig bleibt außer den Vögeln und dem Wasser, aber sie sind selten. Dann höre ich das Einstürzende-Neubauten-Geräusch fallenden Stahls vor mir. Da ist die Brücke und zwei Kräne: Sie bauen das zweite Gleis. In den 18 Jahren seit der BR-Sendung ist nichts passiert und nichts modernisiert worden, keine ICEs fahren zwischen Mühldorf und Salzburg. Jetzt aber passiert es: Die Brücke ist eine Baustelle und abgesperrt, gelbe Alpine-Schilder verbieten den Zugang, Ingenieure weisen auf Dinge und telefonieren, Männer mit Helmen gießen Stahlbeton und hieven Stangen durch die Luft. Neben dem alten Stahltrog ragt eine halbe Betonbrücke über den Inn, nicht auf den Doppelfundamenten der alten Brücke natürlich. Ich bleibe zwischen den Büschen stehen und störe nicht. Es hat keinen Sinn, auf der Baustelle dieser Leute herumzuschleichen.

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In Hörweite der Baustelle werfe ich die Jacke in die Uferböschung, setze mich, und warte auf Züge. Mehrere kurze Personenzüge rauschen vorbei, dann, später, endlich, ein langer Güterzug. Ich verstehe jetzt die besondere Akustik dieser Brücke: Die Stahltrogkonstruktion. Der Donner ist betäubend, rund, vollständig, füllt den Wald und den Fluß, verschlingt für Augenblicke jede andere Gegenwart, und wie ein Auftauchen aus Taubheit kehrt sie dann zurück aus dem Geräusch. Der Donner der Innbrücke bei Mühldorf ist jede Reise wert, selbst die Baustelle und die Flugzeuge sind unwesentliche Störungen. Und man muß auf Güterzüge warten, nur die Güterzüge sind lange und schwer genug für den Effekt, und man muß geduldig sein, häufig fahren sie nicht.

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Der Donner ist kein Zeichen, keine Kommunikation, keine unterlassene Kommunikation. Er enthält kein Urteil und keinen Verdacht. Ich frage mich, ob das noch denkbar ist, in der Inflation von Bestätigung und Zweifel, in der wir leben: Daß da eine Brücke im Wald ist, die nichts über uns verrät, nicht erhebt und nicht verdammt, nur packt und loslässt. Wo kämen wir da hin, mit dieser Brücke, wenn wir zuließen, daß dieser forderungsfreie Donner sich ausbreitete aus dem Auwald — wer könnte noch wissen, was er wert wäre? Ich warte, auf den Fluß schauend.

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Die Ostseite der Brücke ist sehr viel schwerer zugänglich. Ich muß die Bahn überqueren, in Aham, und auf der anderen Seite gibt es keine Möglichkeit, ans Innufer zurück zu kommen. Ein großes Anwesen zeigt ein Sackgassenschild und behauptet: „Privatweg“. Auf dem Hof große Autos mit Münchener Nummernschildern, später finde ich im Wald die östliche Grenze des Grundstücks, Stacheldraht und im Zaun nicht einmal eine Tür zum Wald hin: Ignoranten. Ich nehme einen Feldweg nach Töging, probiere ein paar tote Abzweigungen, werde von einem Hund verbellt, und stoße schließlich auf einen offenbar aufgegebenen Uferweg — vermutlich führt er nach Osten am Inn entlang bis zur Kanalmündung. Es gibt eine Bank ohne Sitzbretter und eine befestigte Treppe zum Ufer, über der umgestürzte Bäume liegen. Ich finde einen kleinen Bach und eine Quelle, und fülle meine Wasserflasche nach. Mir fällt auf, daß das, was ich da mache, möglicherweise Wandern ist. Nach Westen zurück, zur Brücke, gibt es am Wasser entlang keinen Weg, deswegen überquere ich ein Maisfeld — das geht jetzt Ende Mai noch problemlos — und lande in einem kleinen, wilden Waldstück. Und dann: Der Bahndamm. Auf dieser Seite der Baustelle ist nichts abgesperrt, nur ein Pro-Forma-Schild weist einen, der etwa aus dem Maisfeld käme, darauf hin, daß hier die Alpine baut und Eltern für ihre Kinder haften. Und da ist die Brücke wieder, viel näher als von der Mühldorfer Seite. Ein Güterzug begrüßt mich, eine lange Reihe schwerer Tanks.


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