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2006.07.06 | 10:09 pm | Archiv PERMALINK  |  TRACKBACK
Nineteen-Ninety-Nine

Eine schon fast winterliche Form von Nebel zieht durch die verwinkelten Gassen der Straßburger Altstadt. Das Münster ragt verschwommen neben schrägen Dächern empor, versprengte Touristen irren über den Platz. Am Kanal herrscht unwirkliche Ruhe, Trauerweiden ragen ins Wasser, ein einzelner Schwan dümpelt an vertäuten Sightseeingbooten vorbei. Eigentlich müsste es regnen. Wir biegen in eine Seitengasse, passieren das Restaurant, in dem Kohl damals zusammen mit Mitterand Saumagen aß und klingeln drei Häuser weiter. Die schwere, dunkelblaue Tür gibt den Weg zu einer massiven Holztreppe frei. R. geht vor mir, und ich sehe auf Augenhöhe, dass seine Gesäßtasche fast wieder trocken ist. C. hatte eine sich am Nachmittag darin befindliche Bierdose geöffnet, mit flinker Hand, im Vorübergehen. Geschüttelt, ungerührt. Es war nicht die erste und auch nicht die letzte, die am Ufer geleert wurde. Die Clochards tranken gerne mit. Oben in der Wohnung sitzen vier Menschen auf einem ranzigen braunen Ledersofa und rauchen. Im Hintergrund läuft Musik aus Wien und in der Küche poliert jemand die Spiegel.

Vier Stunden später hat sich die immens vermehrte Abendgesellschaft auf die gesamte Altstadt verteilt. Ich sitze auf dem kalten Steinboden am Kanal, an genau der gleichen Stelle, an der wir nachmittags waren, die leeren Dosen stehen noch unter der Bank. Der Nebel hat sich verdichtet und wabert mit Hilfe der Straßenlaternen orange durch die Nacht. Vor mir sitzt die recht junge Tochter desjenigen Richters, der maßgeblich zur Abschaltung eines umstrittenen Atomkraftwerks am Rhein beigetragen hat und legt ihren Kopf auf meinen Arm, während ich ihren Nacken massiere. Hinter mir sitzt die Freundin eines der beiden Gastgeber, ebenfalls die Hände an einem Hals, dem meinen nämlich. Und während ich mir die Frage stelle, wie man den pittoresken Charme dieser Situation, der ohnehin nur durch maßlosen Drogenkonsum zu deuten ist, noch intensivieren könnte, kommen vier Freunde der Gastgeber die Treppe zum Kanal herunter, gehen mit einem von den Worten „Aha“ und „Viel Spaß noch, ihr drei“ begleiteten Pferdegrinsen vorbei und am anderen Ende des Bootsanlegeabschnitts wieder hinauf, jeder eine Dose Bier in der Hand.

Rätselhaft bleibt der Rückweg, begleitungslos, doch als ich wieder in der schlecht beleuchteten Gasse ankomme, treffe ich auf C., der gerade neben den Eingang des Saumagenrestaurants pinkelt. Wir beschließen, eine Nachtwanderung zu machen, über Kopfsteinpflaster, und Stöcke auch, an Kirchen vorbei. Kieswege, Parks, Grünflächen. Als wir zurückkehren, ist die Wohnung von himmlischer Stille erfüllt, Körper an Körper liegt eine große Zahl junger Menschen über die Einrichtung verteilt und schläft. Hinter dem gegenüberliegenden Dachfirst färbt sich der Himmel langsam hellblau. Doch keine Vogelgeräusche. In der Badewanne nur eine Person.

War da was?

Eines Morgens, in aller Frühe, trafen wir auf unser’n Feind.

In den Schatten der kleinen Blume, in die Berge bringt mich dann.

COMMENTS

1 - posted by cato | 2006.07.08 | 8:28 am

Wenn du bella ciao wenigstens auf Italienisch zitiert hättest…

2 - posted by zak | 2006.07.08 | 8:34 am

Ach, das ist doch eine tote Sprache, die versteht doch keiner. Und auf Deutsch gefällt es mir fast noch besser. Hüstel. Aber bitte: Una mattina mi sono svegliato, e ho trovato l’invasor. Mi seppelisci lassù in montagna sotto l’ombra di un bel fior.


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