grail keeper

Das Alter bietet auf den ersten Blick wenig, aber doch die Chance auf Weisheit. Wie so viele andere Männer war ich mein Leben lang auf der Suche nach etwas, manche nannten es Sinn, ich nannte es (manchmal spöttisch, manchmal auch ehrfürchtig) den Heiligen Gral. Nicht, weil ich mich etwa für auserwählt hielt, nein, sondern weil mein erstes, vollständig selbst gelesenes Buch die „Nordischen Sagen“ hieß. Die Artus-Legende darin faszinierte mich als kleiner Junge sofort, ich fieberte mit den noblen Rittern und ihren zahllosen Abenteuern und bittersüßen Frauengeschichten. Lancelot, Tristan, Gawain – ich hätte alles getan, um an ihrer Seite zu sein, doch nur mit einem von ihnen identifizierte ich mich von Herzen: mit dem jungen Parzival. Irgendwie eine sehnsüchtige, romantische Type, ein schöner Unglücksrabe, verdammt zur schmerzhaften Suche nach etwas, das er bereits früh gefunden und dann auch gleich wieder verloren hatte, ohne es überhaupt finden oder verlieren zu wollen. Was war das, verdammt? Ein Ding, ein Gefühl, ein Schatz, die Liebe? Was hatte Parzival so Gewaltiges erfahren, dass es ihn nicht mehr los ließ?

„Der Gral war: Frucht der Seligkeit, / Füllhorn aller Erdensüße, / er reichte nah an das heran, / was man vom Himmelreich erzählt.“

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la parole des morts

Manchmal ziehe ich mir spätnachts irgendwelche Kriegsdokus rein. Allerdings stets durch Zufall, ich hab keine Lust was zu streamen, zappe so rum und bleibe dann im WWI oder II hängen, manchmal auch in Vietnam oder Afghanistan. Ich habe in meinem Leben schon so viele davon gesehen, dass ich wirklich nichts, aber auch überhaupt gar nichts Neues mehr dabei erfahre. Das stört mich aber überhaupt nicht. Es kommt höchstens mal vor, dass irgendein Produzent sehr lange verschollenes Filmmaterial oder neue Zeitzeugen ausgegraben hat, das ist dann schon sensationell. Dazu die sonoren Stimmen der professionellen Sprecher, das dumpfe Wummern der Explosionen, die treibende Call of Duty Mucke, immer angenehm temperiert, mal auf, mal abschwellend, mal mit Bläsern, mal mit Marschmusik. Es gibt wenige Dinge in meinem Leben, die mich so zur Ruhe kommen lassen. Ich liege auf meinem warmen Sofa, eine flauschige Decke und die Katzen an meinen Füßen, der Holzofen bollert vor sich hin und ich nippe an einem Gläschen guten Bordeaux, nasche ein feines Stückchen Bio-Schokolade (mindestens 75% Kakao) und folge den Frontverläufen, als wären es wohlvertraute Familienbiographien. Ich gedenke still und ehrenvoll der Gefallenen, all den namenlosen Toten, den Zerfetzten, den Zerschmetterten und Zerhackten. Ich denke an sie, versuche mich in ihre Situation zu versetzen, fantasiere, wie es mir wohl ergangen wäre, wie ich mich wohl in dieser oder jener ausweglosen Situation verhalten hätte. Sie sind für mich wahre Helden. Aber nicht, weil sie sich für die eine oder andere abstrakte Idee von Ehre oder Vaterland geopfert haben, sondern weil sie einfach all das ertragen haben, weil sie jeden morgen wieder aufgestanden sind, die Waffen geputzt, die Stiefel gewichst, die Uniform entlaust haben, nur um sich dann den nächsten tödlichen Unsinn der rangnächsten Befehlshaber anzuhören, die Tageslosung des Verderbens, la parole des morts. Ihre bloße Existenz, ihr Schicksal, in Relation zu meinen alltäglichen Nöten eines einfachen Angestellten, erhebt mich, tröstet mich und macht mich dankbar. Da sein, atmen, planen, warten, weitermachen. Wir sind privilegiert.

 

 

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blitzkrrrieg bop

Jetzt, mit fast 50 (also eigentlich TOT) beginne ich zu begreifen, wie sehr der Punk mein Leben geprägt hat. Die Ironie dabei ist, dass ich mich dieser Bewegung nie wirklich zugehörig empfunden habe. GEFÜHLT war ich allenfalls ein Sympathisant, ich hörte (neben vielem anderen Zeugs) die Ramones, Ärzte, später Beasty Boys.

Gestern sagte meine Mutter zu mir, als wir über meine erste Freundin sprachen, wir wären halt rein äußerlich so ein wenig Hippie gewesen und sie hat natürlich wie immer recht. Wildes lockiges Haar, zerrissene Jeans, Anarchieaufnäher auf der Jacke, die zertretenen Sneakers und das bescheuerte, aber leider verdammt kuschelige Palästinensertuch und der Button mit der Friedenstaube. Wir waren harmlos, phasenweise engagiert, aber immer gegen was. Nicht gegen meine Eltern, wie viele Generationen vor mir, das wäre auch unsinnig gewesen,  sondern gleich viel größer, logo. Einfach gegen „das System“, das uns ja eigentlich schon längst besiegt hatte. Ein Umstand, der uns mutlos machte, rotzig, stolz und widerwillig. Immer auf der Hut, idealistisch, selten konstruktiv, dann bald (dank Computertechnologie) glücklich, im Rausch, eskapistisch.

Wir wechselten die Spielfelder und alles was nach Ehrgeiz und Anstrengung aussah, fanden wir blöd und wir waren, glaube ich, sehr froh, als uns die Neunziger mit der Popkultur des Cool und Uncool lässig die Hand reichte. Unser Unwohlsein an der Welt wurde dadurch glamouröser, ausschweifender, fröhlicher, differenzierter. Heute scheint es mir, als hätte ich damit den Punk in mir kultiviert, so wie man eben versucht, aus zwei wilden Obstsorten eine Wohlschmeckende zu schaffen. Ich denke, es hat auch irgendwie geklappt, ich habe funktioniert und süße Früchte geerntet und darüber dann vergessen, dass die Kraft, die sie mir gaben, nicht aus dem Pop stammte und meine ironisch-gebrochenen Bemühungen, „Teil einer Jugendbewegung“ zu sein, „Teil einer Arbeitsgemeinschaft“ zu sein, „Teil einer Kulturbewegung“ zu sein, zum Scheitern verurteilt waren.

Jetzt sind die süßen Früchte matschig, sie haben Würmer und neben dem alten Stamm, vielleicht zwei drei Meter vom Zaun entfernt, wächst eine junge, wilde Pflaume, mit sehr kleinen Früchten.

Ich nenne die hellrote Sorte Punk und das magere Fruchtfleisch schmeckt sehr frisch und bitter. Man hat nicht viel davon. In den ersten Jahren hab ich die Triebe immer abgeschnitten, aber das war natürlich sinnlos. Sie kommen immer wieder nach und jetzt erwische ich mich, wie ich in den heißen Sommern über den Zaun klettere und heimlich davon nasche. Die Wahrheit ist: das alles hat mir natürlich gar nichts gebracht. Ich hatte keine Wahl, es hat uns nirgendwo groß hingeführt, ich war immer zu stolz, zu rotzig, zu oberflächlich, zu verträumt, zu glücklich. Oder am Boden zerstört. Einfach nicht schnell genug, in einer schnellen Zeit.

HeyHo!

nobody is lost

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Wenn man schreibt, seit langem schreibt. Wenn man also einer geworden ist, „einer der schreibt“ (Max Frisch), dann ist das irgendwann (nach all den den Jahrzehnten) wie Schwimmen. Wie Schwimmen im Meer. Man schwimmt und schwimmt, das Ufer ist schon lange nicht mehr zu sehen. Manchmal weiß man gar nicht mehr, warum man losgeschwommen ist, manchmal verflucht man den Tag, manchmal feiert man ihn. Manchmal geht man fast unter. Der Rest: Monotonie. Wellengang, klar. Ein Fisch. Überhaupt, das Schwimmen. Wohin denn noch? Die einzige Möglichkeit sich zu erinnern, sind Inseln im Ozean. Kleine Inseln, große Inseln, ein neues Projekt, ein altes Projekt, ein neuer Job, eine neue Liebe. Man kann dort an Land gehen, mit dem Schreiben pausieren. Manchmal fühlt es sich so an, als könnte man bleiben, ausruhen, aufhören, einen übergeordneten Sinn konstruieren, rekonstruieren, dekonstruieren. Tatsächlich: Illusion. Diese Art zu Schreiben ist ein Hotel California. Keiner der hier einmal sehnsüchtig, hoffnungsvoll, ausgehungert eingecheckt hat, geht verloren. Seit ich an „zombifiziert“ arbeite (einen Titel, den der Verlag ausgesucht hat und der mir nicht einmal besonders gefällt), schwimme ich nicht mehr ins Nichts, ich schwimme eine mir selbst ausgelegte Kette aus Atollen ab, von der ich immer nur das nächste Glied sehe, Band 7, Band 8, Band 9. Es ist Schreiben mit Rettungsring, der Ring behindert mich, aber er gibt mir auch Sicherheit. Er macht mich langsam, unständlich. Aber da ich kein Ziel mehr habe, stört mich das nicht. Ich kann jetzt Dinge tun, die sinnlos sind, ohne mich dabei schlecht zu fühlen. In Wahrheit machen sie mir Freude. Zombifiziert ist eine wunderbare Ausrede, Dinge zu tun. Einfach so. Deswegen hier, hier und hier:

http://www.kult.de/zeitvertreib/zombiealarm-in-regensburg/150/14/1141994/

http://www.mittelbayerische.de/nachrichten/oberpfalz-bayern/artikel/untote-an-der-donau/1143062/untote-an-der-donau.html

http://www.wochenblatt.de/nachrichten/regensburg/regionales/Autor-Fabian-Lutz-65279-65279-Zombies-in-Zeiten-von-Ebola;art1172,273088

nur Sekunden

auf roms ruinen katzen füttern
kann sonderbar erfüllend sein
katzen sind gedächtnislose
tiere wie die meisten menschen
ihre dankbarkeit währt nur sekunden.
solang sie da ist, ist sie echt.

(Helmut Krausser)

Llewyn Davis Katze ist ein Kater

Da ich vom letzten Film der Coen Brüder (ich glaube es war A Serious Man) WIRKLICH akut genervt war, musste meine Mutter mir erst ne Karte schenken und tagelang an mich hinreden, bis ich mich endlich aufraffte und mit drei anderen (mir vollkommen unbekannten) Zuschauern die Freitagsnachmittagsvorstellung besuchte. Es wird ja immer sehr viel vom großartigen Humor dieser Filmemacher geschwärmt, natürlich auch von ihrer Intelligenz, klar, aber vor allem von ihrem absurden Humor. Im Grunde haben die beiden fast schon Woody Allen Status erreicht, was immer sie anpacken, wird automatisch Kult. Und jaja: ich bin natürlich AUCH ein glühender Verehrer des DUDES, logisch. Da ich nun aber keinen Bock hatte, mich vorher per Filmkritik zu informieren und meiner Mam nur zu entlocken war, dass er mir GARANTIERT gefallen würde, befand ich mich beim Gucken von Inside Llewyn Davis in der angenehmen Lage,  vollkommen erwartungslos an die Sache heranzugehen. Ich kaufte mir eine kleine Tüte Colaflaschen. Ich machte es mir in meiner Reihe bequem. Ich machte die Augen und Ohren auf und kaute so vor mich hin. 60er Jahre, New York. Aha. Erfolgloser, arrogant-arschiger, aber irgendwie auch sympathisch-verpeilter Musiker in der Folkszene. Aha. Ein entlaufener Kater. AHA. Schon hatten sie mich. Obwohl ich NICHTS von Musik verstehe,und schon gar nicht von diesem amerikanischen Volksmusik- und Gitarrenzupf-Kram, mit dem sie sich offensichtlich sehr lange und intensiv beschäftigt haben, der mich aber komischerweise keine Sekunde lang berührte. Der Plot ist zu vernachlässigen. Diese ganze waswärewenn Bob Dylan Sache: geschenkt. Es ist eigentlich nur wichtig, dass es in diesem Film zwei Katzen gibt, nämlich einen KATER und eine KATZE (bis jetzt habe ich keine Kritik finden können, die diesen entscheidenden Umstand bemerkt hätte)  und dass der Held der Geschichte den Kater (schon wieder namens Odysseus) entwischen lässt, ihn mit einer identisch aussehenden Katze verwechselt, diese dann aber wie seine geschwängerten Mädels im Stich lässt und im Sekundenschlaf vielleicht sogar mit dem Auto rammt. Dann läuft natürlich die ganze große Coen-Karma-Kafka Maschine wie ein Schiffsdiesel in meinem Kopf an und der arme Tropf wird für sein tierisches Fehlverhalten bitter bestraft. Ich behaupte sogar, er bekommt die ganze große Hades plus Fährman Packung, also das volle Seemannsgarnprogramm, denn er muss am Ende zurück in sein altes Berufsleben (Handelsmarine) und findet doch keinen Einlass, weil ihm das Blutgeld ausgeht. Am Ende war nur noch eine Colaflasche übrig. Und ich habe mich nicht gelangweilt. Denn nur Realität langweilt. Aber so richtig. Katzen hingegen… aber das wisst ihr ja alles selbst und vielleicht noch viel besser. Aber lustig? Lustig ist dieser Film nun wirklich nicht, liebe allesimmerwiedernachplappernden Filmjournalisten. Außer bitterböse ist lustig, so wie Zartbitter Schokolade das Gegenteil von… Aber lassen wir das. Geht einfach rein, schadet nicht. Miau.

und gestern ritten die blogs darüber

Spät nachts, irgendwann im Jahre 2000irgendwas, hocke ich nach einer Lesung mit meinem ganz persönlichen Popliteraturgott auf dem schmutzigen Toilettenboden einer Hamburger Spelunke namens: Das Dorf. Draußen lärmen besoffene Spiegelredakteure, allerlei (Möchtegern-) Literaten und andere Groupies. Gott weiß, wer ich bin, denke ich, oder besser: was ich einmal sein wollte. Und: Etwas ist zu Ende und nichts fängt an. Einmal Internetliteraturgeschichte geschrieben und zurück.

Der Anfang ist lange her, im Sekundentakt des Netzes für immer verflogen. Nicht einmal die Webseite gab noch einen Hinweis darauf: Auf www.ampool.de bekam man zeitweise alles und nichts. So genannte „Netz-Nutz-Links“ führten zu Italien-Urlauben, Billig-CDs und Goldzähnen, zu Wellness-Wochenenden, Zooläden und Luxushotels. Kaum zu glauben, dass diese Adresse einmal die glamouröse Homebase der deutschen Popliteratur war. Heute ist sie wieder zu kaufen. Eine Internetplattform, gegründet 1999 von Sven Lager und Elke Naters, betrieben von einer elitären Gruppe von Popschreibern, die den herrschenden Schöngeistern des Literaturbetriebs einen wilden Traum entgegensetzten: Schreiben ohne Filter, Veröffentlichen in Echtzeit. Ohne Umwege und Lektoren – Literatur als Event, Literatur als Experiment. Mit dabei namhafte Autoren wie Helmut Krausser, Rainald Goetz, Tom Kummer, Stefan Beuse, Andreas Neumeister, Christian Kracht, Moritz von Uslar, Michael Lentz, Eckhart Nickel und Georg M. Oswald, um nur einige zu nennen.

„Na und?“, möchte man an dieser Stelle einwerfen. Ein Blog wie jeder andere, eine Meinungsbörse, wie es sie inzwischen zu Tausenden gibt: für Italien-Urlauber, Billig-CD-Käufer und Goldzahninteressenten, für Wellness-Junkies, Zoolädenbesitzer und Luxushotelgäste. Und eben auch für Autoren und solche, die es gerne wären. Der Zauber ist weg, die Luft ist raus, was damals aufregend war, macht seit gestern meine Oma.

Richtig. Trotzdem übersieht man dabei zwei entscheidende Dinge. Erstens, wie blutjung das deutsche Netz damals war und wie viele Wünsche und Ideen es aufzunehmen vermochte. Ein neues Medium, dem man nicht nur zutraute, die Kommunikation unter den Autoren zu revolutionieren, sondern von dem man auch dachte, es würde die literarischen Inhalte verändern. Zweitens, dass es bis heute keinen vergleichbaren Versuch in Deutschland gibt und gab, die Gunst der Pionierstunde zu nutzen und die Grenzen zwischen Schriftsteller und Publikum so dünn und durchlässig wie nie zuvor zu machen. Denn von Beginn an war das Projekt zweigeteilt: In einem Gästebuch namens www.imloop.de konnte jeder, egal ob Autor, Journalist, Kritiker, Leser oder Möchtegernliterat entweder offen, oder – was die Regel war – hinter Pseudonym versteckt, schimpfen, loben, dichten oder kommentieren. Mehr als einen „internetfähigen“ Computer, den bloßen Willen und eine Enter-Taste brauchte es dazu nicht. Die sonderbare Intimität, die sich zwischen den etablierten Autoren und den schreibenden Kunstfiguren entwickelte, das eigenartige Gefühl, einer virtuellen Gruppe am Puls der Zeit anzugehören, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Genauso wie die Tatsache, dass man auf diese Weise die wichtigsten Vertreter der deutschen Gegenwartsliteratur innerhalb kürzester Zeit persönlich kennen lernen konnte. Noch heute werde ich manchmal von Freunden und Bekannten mit meinem Pseudonym angesprochen. Ähnlich geht es Menschen, die in ihrem literarischen Second Life „Deadly Medicine“, „TomTom“, „zak“, „Faustus“, „LOTOS“, „Monik“, „HalfManHalfBiscuit“ und „The Crab“ heißen: ein schräger, manchmal amüsanter, manchmal auch beängstigender Effekt, wie ihn zum Beispiel auch Computerspieler auf einer LAN-Party erfahren. Aber der Literaturbetrieb ist nicht die Gamerszene, und ich bin sicher, wer heute versuchen sollte, über einen Blog an echte Schriftsteller heranzukommen oder sich einen Namen bei ihnen zu machen, muss scheitern.

Natürlich gibt es auch heute noch Foren, in denen Netzliteratur, Rezensionen und Notate gepostet werden. Zum Beispiel das gute alte www.forum-der13.de oder die spätestens seit Kathrin Passigs Sieg beim Klagenfurter Literaturwettbewerb respektierten und wohl auch bisweilen gefürchteten Webseiten www.hoeflichepaparazzi.de und www.riesenmaschine.de. Ich wage jedoch zu behaupten, dass sie zum Phänomen Internetliteratur nichts wirklich Neues beigetragen haben. Das liegt nicht etwa an ihren minder prominenten oder begabten Teilnehmern, sondern vielmehr an dem Umstand, den der Schriftsteller Rainald Goetz in seinem Internettagebuch von 1997 so treffend programmatisch mit dem Andy Warhol Zitat „Abfall für Alle“ betitelt hat und dem er im „Vanity Fair“-Blog dann ironischerweise selbst zum Opfer fiel. Dem Umstand nämlich, dass ein Literatur-Blog niemals seine endgültige und tödliche Form findet und damit auch keine nachhaltigen Inhalte erschafft. Wie im Meer schwimmen nicht etwa die schönsten und besten Beiträge ganz oben, sondern nur die aktuellsten. Der Resttext sinkt ab, wird zugedeckt und erstickt von unablässig nachfallenden Buchstabensedimenten, die paradoxerweise jederzeit, ganz oder in Teilen wieder nach oben gespült werden. Freilich nur, um aufs Neue in den ewigen, die Autoren und Leser gleichermaßen süchtig machenden, auf Dauer jedoch unbefriedigenden Kreislauf einzutreten. Wenn man so will, hat das Internet einen Anfang, aber kein Ende. Logischerweise wurden die Macher von www.ampool.de die Geister, die sie riefen, nur dadurch los, dass sie den Blog töteten, wie man Vampire killt. Sie trieben dem Projekt, mit dem sie einmal angetreten waren, den Betrieb mit seinen klassischen Regeln und Formen zu unterwandern oder zumindest zu umgehen, einen gedruckten Holzpfahl ins digitale Herz: „The Buch“. Denn nur das Druckwerk vermochte die virtuellen Ozeane für immer und ewig zwischen den Deckeln zum Stillstand und damit zur endgültigen Literaturwerdung zu zwingen.

Später beging ich einen weiteren Mord – als Herausgeber von „im LOOP“. Denn als das Popliteraturforum starb, vergaß man, das Gästebuch zu schließen. Glücklicherweise, denn aus ihm gingen in den folgenden Jahren mit Saša Stanišic (Luchterhand), René Hamann (Tisch 7) und Thomas Melle (Suhrkamp) mindestens drei sehr begabte und interessante Talente hervor. Aus hoffnungsvollen Kunstfiguren wurden echte Schriftsteller aus Fleisch und Blut. „im LOOP“ ist jedoch keine Verbeugung des neuen vor dem alten Medium. Denn diese kleine Sammlung von Texten aus dem deutschen Netz ist ganz bewusst mit dem „Books On Demand“ (BoD) realisiert worden. Jenem Verlag also, der erst durch Internet und Digitalisierung entstanden ist. Nur so konnten die Texte ihre ursprüngliche, provisorische, zum Teil auch bewusst oder unbewusst fehlerhafte und unmittelbare Form behalten, die eben genau das ausmacht, was Netzliteratur im besten Sinne sein kann.

Mein persönlicher Popliteraturgott stolpert frühmorgens aus einer Bar. Er wankt gefährlich, und einen Augenblick lang fürchte ich, er könnte vor ein Auto laufen oder stürzen und sich verletzen. Doch als ich – selbst unsicher auf den Beinen – den Kopf in die kalte Hamburger Nacht strecke und ihm nachsehe, ist er schon ein ganzes Stück weiter, schwankend, mit einer Hand in sein Mobiltelefon tippend. Ein Gesamtkunstwerk, ein feiner Mensch, denke ich. Und: Etwas ist zu Ende und nichts fängt an. Ein gutes Gefühl.

Ja genau.
Das ist das Schreiben ins Verschwinden.
Sozusagen schon die Zeile im Grab der Zeit.
Nur noch zu lesen, wenn schnell in die noch offene Erde
geschaut wird.

Das ist nie und nimmer ein Buch.
Das ist wie ein flüchtiger Tanz zwar zum Bild werden kann,
aber ein Bild niemals zum flüchtenden Tanz.

Was geschieht dann im Intermedium?
Danach grabe ich, verzweifelt mit aufgerissenen Fingerkuppen
dahingaloppierenden Cookies, ohne Unterlass.
Herzblut. Das Blut der Madonna.
Heiligenblut.
Plötzlich rinnt es über meine Lippen.

Morgen reiten die Clubs darüber.

(Alinia, imloop)

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