ist doch schön hier

 

„Ist doch schön hier“, sagte Tomas und rieb sich die Hände, als müsse er sich wärmen. „Und jetzt gehen wir ein Bier holen. Nebenan ist ein Liquor Store, hab ich auf Google Maps gesehen.“

„Typisch“, sagte Sarah und schaute sich um. Die ganzen Koffer und Kisten machten den Raum noch etwas kleiner.

„Geht nur“, sagte Milla. „Sarah will sich sicher frisch machen und wir haben was zu besprechen.“

Tomas und ich verließen das Hotel. Wir liefen ein paar Meter die Hauptstraße runter. Der Himmel war blau, der Wind fegte Müll und Sand in die Ecken, die Luft roch salzig.

„Ich freu mich so auf Amerika“, sagte Tomas. „Und die Musik.“

„Liquor“, sagte ich, als wir zwischen den engen und  bis zur Decke gestapelten Gängen standen. „Ist ein lustiges Wort. Klingt wie Lecker, aber versaut.“

Tomas lachte.

„Liquor, Liquor. Lecker Bier und Schnaps saufen.“

Er streckte die Zunge in die Luft.

„Ich schmecke das Meer.“

Manchmal war alles was er tat irgendwie wollüstig. Keine Ahnung, ob er das wusste. Mit den braunen Papiertüten voll mit Dosensixpacks und zwei Flaschen Rotwein machten wir noch einen Abstecher zu einem kleinen Supermarkt auf der anderen Seite des Parkplatzes.

„Ich brauch was für den Kopf“, sagte Tomas. Er spitzte die Lippen und blies Luft aus.

Er fuhr sich mit der Hand über die stoppelkurzrasierte Glatze.

„Weißt du noch, letzten Sommer, beim Paddeln?“

„Ja, ich erinnere mich, das war übel.“

Ich weiß nicht warum, aber der Laden war irgendwie sehr schön. Es war eine Mischung aus Baumarkt und Lebensmittelgeschäft. Es gab jede Menge Zeug zu entdecken, die Regale quollen über von billigem Trash. An jeder Ecke stand etwas anderes, scheinbar ohne jede Ordnung und angeblich im Sonderangebot. Es waren nur wenige Kunden da und sie hatten genauso viel Zeit wie wir.

Ich blieb lange an einem Tisch mit Strandutensilien stehen. Ich wühlte darin herum und als ich wieder aufsah, war Tomas weitergegangen. Ich nahm einen Frisbee und eine Cap mit der Aufschrift Air-Force mit.

Als ich an der Kasse stand, wartete Tomas bereits vor der Tür. Er hatte sich eine Dose aufgemacht und trank aus der Tüte. Er sah gefährlich aus, etwas Animalisches umgab ihn.

„Magst du auch ein Bier?“

„Ja.“

„Warte.“

Ich riss das Preisschild von der Kappe und setzte sie auf.

„Steht dir“, sagte Tomas. „Die hätte ich auch gerne.“

„Okay.“

Ich ging zurück in den Laden und holte ihm genau die gleiche Mütze, nur eine Nummer größer.

„Schenk ich dir.“

Tomas setzte die Cap auch gleich auf, aber er ließ  bis zum Ende der Reise das Preisschild dran.

„Wie sehe ich aus?“, fragte er und schaute mich an, als wäre ich ein Spiegel.

„Brutal“, sagte ich.

*

weiter im Text

 

Wieder beim Dodge sah ich, dass der komische Wandervogel die Zeit ebenfalls gut genutzt hatte. Er war nur noch ein paar Dutzend Meter von mir entfernt und er hatte mich bereits entdeckt. Ich merkte das an der Art, wie er sich auf mich zu bewegte. Sofort hatte ich große Eile hier wegzukommen. Ich wollte auf keinen Fall mit ihm reden, ich wollte ihn auch nicht grüßen und am Ende etwa gezwungen sein, ihn aus Mitleid irgendwohin mitnehmen zu müssen, während er meinen Wagen mit üblen Gerüchen füllte. Ich sprang also auf den Sitz, ließ so schnell ich konnte den Motor an und wendete mit so viel Schwung, dass die Steine unter den Reifen schwirrten und die Hinterräder auf dem lockeren Untergrund durchdrehten. Ich freute mich über meine erfolgreiche Aktion, aber genau in dem Moment, in dem ich an ihm vorbeifuhr, hob er seine Hand zum Gruß. Er lächelte mich so freundlich und so offen an, dass ich mir total bescheuert vorkam.

Ich hatte ihn für irgendeinen verrückten, versoffenen und lausigen Penner gehalten, der vollkommen verdreckt und verwirrt über Land irrte. Aber in diesem Sekundenbruchteil in dem sich unsere Blicke, nur durch die verschmierte Scheibe getrennt, trafen, erkannte ich, dass er, im Gegensatz zu mir, vollkommen aufgeräumt und normal war. Einfach ein netter junger Bursche mit Hippibart und klugen braunen Augen, der keinen Bock auf den ganzen Durchschittsblödsinn hatte und sein Ding durchzog. Er war einfach los gelaufen, hatte alles hinter sich gelassen, vielleicht nur für eine Weile, vielleicht auch für immer, wer wusste das schon, es ging ihm gut dabei, während ich mich, so kam es mir jetzt vor, feige und verzweifelt an mein altes Leben klammerte, auf das ich, wenn ich ganz ehrlich war, überhaupt keinen Bock mehr hatte. Er hatte nichts und war frei und ich hatte eine Menge Mist.

Meine kleine blöde Flucht war bloß ein weiteres, lächerliches Symptom meines Dilemmas. Ich trat fest auf die Bremse. Das ABS griff und  Reifen quietschten, der Dodge ruckelte und zuckelte wie ein schwerer Elefant. Was zum Teufel, so schoss es mir durch den Kopf, wäre, wenn ich die dicke, spritfressende und Umwelt zerstörende Karre einfach hier und jetzt stehen lassen und mich dem jungen Kerl anschließen würde? Ein Rucksack, ein paar Klamotten, ein wenig Geld und die eigenen Füße, soweit sie tragen. Es könnte so einfach sein. Scheiß auf Milla, scheiß auf den Job, scheiß auf die Band. Ich schaute in den Außenspiegel und sah den armen Buben auf dem Parkplatz stehen. Er schien sichtlich erschrocken von meinem unerwarteten Manöver, er wusste wahrscheinlich nicht so recht, was als Nächstes passieren würde. Ich wusste es ja auch nicht und dachte, dass ich jetzt der Verrückte von uns beiden war und kurz davor, einem netten jungen Menschen das Leben zu versauen.

In diesem Moment klingelte zum Glück das iPhone. Conny war dran.

Und ich drückte das Gaspedal wieder durch und schleuderte mich und den Wagen in die Zukunft, die für uns beide vorbestimmt war.

pow. pow.

PowPow

„You must be famous, man.“

Ich hatte ihn kaum verstanden. Er hatte vielleicht noch drei Schneidezähne im Mund, um den ein struwweliger, blonder Bart wucherte. Auch seine Haare waren blond und lang, aber dünn gewachsen. Dort sah man bereits kahle Stellen, an denen die braune Haut durchkam. Überall hatte er von der Sonne weißgebrannte Flecken, im Gesicht, an den Armen. Es gab keinen Zweifel: Wenn dieser Mann keinen Hautkrebs bekam, dann konnte die Sonnenschutzmittelindustrie den Laden dicht machen. Aber wahrscheinlich lebte er gar nicht mehr lange genug dafür.

„No. I am not famous. I am a tourist.“

„Germany. And he is also from Germany?“

„No. From Ruanda.“

„Ruanda, Ruanda. Where is Ruanda?

„In Africa.“

„Africa? I’ve been there. Irak. You know Irak, Hussein. Powwpowow.“

„Irak is not really Africa, you know.“

„But I killed a lot of them.“

Er zielte mit dem Finger auf uns und krümmte ihn zwei Mal.

„Pow. Pow.“

Operation Zuckerzombie

[AUFNAHME]

„Memo an mich selbst: Ich weiß, ich trinke in letzter Zeit zu viel. Aber wenn ich erst einmal damit angefangen habe, ist es sehr schwer wieder aufzuhören. Dann ist mir alles andere egal. Vielleicht ist es aber auch anders. Vielleicht  mag ich mich eigentlich nur in betrunkenem  Zustand. Warum kann ich nicht immer so sein, wie ich mich fühle, wenn ich besoffen bin?“

(Marti)

Ah, Kia.

Die meisten der Drachenbootfahrer sind bereits über 50 und arbeiten bei Infinion, sagt Dieter. Dann zeigt er uns die Dellen in seinem brandneuen A6, an den er sich eben noch mit locker hochgekrempelten Hemdsärmeln und lang zusammengeschlagenen Beinen angelehnt hat. Wir gehorchen seiner Aufforderung, bitte genau hinzuschauen. Tatsächlich entdecken wir trotz schiefgelegter Köpfe gar nichts. Das liegt daran, sagt Dieter, dass der Wagen nicht gewaschen ist. Aber sie sind da, sagt er. Wir nicken beide und ich ziehe zusätzlich ein, wie ich finde, anteilnehmendes Gesicht. Da kommt der Pedro, sagt Dieter auch schon etwas fröhlicher. Wir schauen nach rechts und sehen einen silbernen SUV, der gerade auf den Firmenparkplatz neben der Donau biegt. Und während Pedro (dem wir gleich die Hand schütteln werden) seinen Wagen in unsere Richtung steuert, fügt Dieter unvermittelt an: Ah, Kia. Das klingt nachdenklich und ich verstehe nicht, warum.

*

Operation Zuckerzombie

„Früh am Morgen, die Sonne war noch nicht über die umwölkte Stadt geklettert, rollte ein Grummeln über die Hügel und gab den Männern der Feuerwehr neue Hoffnung. Die ganze Nacht hatten sie bis zur Erschöpfung gegen die Flammen angekämpft.  Aber weder ihr schweres Gerät, noch das immer wieder startende Löschflugzeug konnte verhindern, dass sich das Feuer immer weiter ausbreitete. Jetzt drehte der Wind. Das Grummeln schwoll an, wurde kräftiger. Und mit den ersten Donnerschlägen setzte der Regen ein, ein gewaltiger ununterbrochener Regen, der mit schweren, nasskalten Tropfen auf die rußverschmierten Gesichter und Helme trommelte.“

(Eiseis)

auf eine Schnecke und eine Zigarette

Von Zeit zu Zeit (es liegen oft Jahre dazwischen) besuche ich die letzte Ruhestätte meines alten Freundes Heiner Link. Er liegt jetzt seit ziemlich genau 11 Jahren  auf dem Pasinger Friedhof in München, in einem alten Familiengrab, das ich jedes Mal, wenn ich dort bin, nicht auf Anhieb finde. Das ist so ein Running Gag zwischen mir und Heiner. Ich verspreche ihm hoch und heilig, dass ich es beim nächsten Besuch gleich wiederfinden werde. Und wenn es dann wieder soweit ist, laufe ich garantiert daran vorbei oder in die falsche Richtung. Ich verirre mich dann irgendwo, zwischen den Steinen, die hier manchmal in Zweierreihen dicht hintereinander gestaffelt stehen. Ich glaube, er würde sich darüber amüsieren, vielleicht tut er es ja auch, ich weiß es nicht. Ich glaube, das liegt an meiner Erinnerung an seine Beerdigung, damals an jenem Tag im Juni 2002.  Die Sonne schien und es ging so ein zeitloser Wind und der Friedhof war voll von Menschen, von klugen Menschen, lieben Menschen und schönen Menschen, vor allem auch von schönen Frauen, was Heiner, der ein paar Tage zuvor in einem Rettungshubschrauber verblutet war, gut getan hätte. Denn sie waren ja alle hier, für ihn und es flossen viele Tränen. Auch meine. Die Tränen, so glaube ich, haben meine Erinnerung an die tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten verzerrt, zu einem traurig-schönen, bewegenden Film, der sich durch keinen meiner nachfolgenden Besuche auf Dauer überschreiben lässt. Dabei ist dieser Friedhof natürlich auch nur so ein Ort und ich bin an Gräberorten dann stets am Zweifeln. Ich zweifle, ob man hier mit den Toten sprechen kann. Trotzdem versuche ich es.

Keiner weiß mehr, so lautet der Titel eines Buches von Rolf Dieter Brinkmann,  einem von Heiners absoluten Lieblingsschriftstellern – und genau so ist es dann ja auch, da an seinem Grab. Ich weiß nicht, ob Heiner mir zuhört, ich weiß auch nicht, warum ich das alles tue. Für ihn, oder doch nur für mich. Oder für uns beide. Egal. Ich stehe jedenfalls allein vor dem Grab. Von all den klugen, den lieben und schönen Menschen fehlt jede Spur, höchstens eine freche Amsel hüpft herum. Ich rauche unsere obligatorische Zigarette und lege dem Heiner Link seine Kippe auf den kleinen Absatz zwischen Grabstein und Sockel. Dann erzähle ich ihm mit gedämpfter Stimme (was auch wieder einigermaßen blödsinnig ist, weil uns ja niemand beobachtet oder belauscht), was so alles in der Zwischenzeit passiert ist. Ich beginne dann immer mit den Frauengeschichten, weil ich denke, dass ihn das am meisten interessieren würde. Heiner hat nämlich stets behauptet, er sei der größte Romantiker von allen. Dann versuche ich zusammenzukratzen, was mit seiner alten Truppe so geht, mit Helmut, Girgl, Arno, Ingo und Co. Das wird von Besuch zu Besuch natürlich immer weniger, weil ich ja auch kaum noch Kontakt zu denen habe. Aber auch das ist egal, ich schweige dann einfach ein wenig länger oder ich pinkle an einen Grabstein in der Nähe, weil die Anfahrt immer so lang ist und es dort keine Friedhoftoilettenhäuschen gibt und dann lachen wir beide darüber, so wie früher, und ich sage zu ihm: Hey Heiner, jetzt reg dich doch nicht so auf, ich pisse doch NEBEN dein Grab, nicht darauf. Was alte Kumpels eben so reden. Nur, dass Heiner mich nicht mehr packt und drückt, so voll von Leben und Plänen wie er immer war.

Scheiße, mein Lieber. Das ist nicht fair. Es war mir eine Ehre. Und nicht nur mir. Und nächstes Mal finde ich dein blödes Grab sofort. Versprochen. Hoch und heilig versprochen.

der Korn im Grass

[RÜCKBLENDE]

Als ich das erste Mal vom Literarischen Colloquium in Berlin (LCB) hörte, war ich  betrunken. Ich stand am Wörthersee an der Bar des Restaurants Maria Loretto und wartete verzweifelt auf Clemens Meyer. Besser gesagt wartete ich auf mein Handy, das ich ihm, dem tätowierten Underdog-Autor aus dem Osten, in einem Anfall aus Mitleid und Wagemut geliehen hatte. Zuvor war er mir während der 30. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt noch positiv aufgefallen. Er hatte einen seiner typischen Meyer-Texte gelesen. Eine saubere Short Story a la Hemingway, einfach und roh gemacht, aber spannend erzählt. Ein Mann, eine Zelle, ein Knastmond. Das war so gar nicht wie die Welt des bei Autoren, Journalisten und Lektoren beliebten Seerestaurants, in dem ich ihn jetzt wieder traf. Meyer trat nicht wie gewohnt cool und großspurig auf, sondern kleinlaut und geknickt. Er klopfte an die Küchentür des Restaurants und ich hörte, wie er die Servicemannschaft um ein kostenloses Telefonat nach Hause bat. Er habe sein Handy verloren, kein Geld mehr in der Tasche und müsse unbedingt wissen, wie es seinem geliebten Hund gehe, von dem er sonst nie so lange getrennt sei. Sein Verlangen wurde von einem Kellner mit unbewegtem Gesicht abgeschmettert. Also lieh ich ihm meins, nicht ohne den Hinweis, er möge sich wegen der Kosten doch bitte kurz fassen. Meyer murmelte ein Dankeschön und verschwand in der Dunkelheit. Erst nach einer geschlagenen Dreiviertelstunde – in der ich vor mich hin trank und mich mehr als einmal verfluchte – kam er wieder zurück. Auf meine Frage, warum er denn so lange gebraucht habe, fixierte mich der ehemalige Boxer und bekennende Pferdewett-Liebhaber scharf durch die runden Gläser seiner Lennon-Brille: Ich sei ja auch schön blöd, einem Wildfremden einfach so mein Telefon zu leihen. Leicht hätte er für immer damit abhauen können. Und dann erklärte er mir mit lauter Stimme und weit ausholenden Armen,  dass ich das schon verstehen müsse. Er habe das nur wegen seinem Hund getan. Der arme Kerl fresse und saufe nämlich seit zwei Tagen nichts mehr und er hätte seiner Freundin detaillierte Anweisungen geben müssen. Seine Liebe zu diesem Tier sei so groß, dass er vor kurzem sogar ein Stipendium am berühmten LCB abgelehnt habe. Denn dort – und bei diesem Wort schnaufte er, als habe er mit der Vorhölle bürgerlicher Saturiertheit und Dekadenz verhandelt – sei man partout nicht bereit gewesen, sowohl ihn als auch seinen Vierbeiner zu beherbergen, obwohl der doch nun wirklich keiner Fliege etwas zu leide tun könne. Dann drückte er mir mein Handy in die Hand und murmelte etwas vom spießigen Betrieb und einem Bier, das ich beim nächsten Wiedersehen gut hätte. Zu Hause angekommen, flatterte eine Telefonrechnung ins Haus, nach deren Öffnen ich aber kein Bier, sondern einen Schnaps gebraucht hätte. Kein Zweifel: Ich hatte gerade eine harte Lektion aus der Leipziger Vorstadt erhalten.

[POST]

Im Jahr 2007 – Clemens Meyer war inzwischen zum etablierten enfant terrible des Literaturbetriebes aufgestiegen  – kam wieder Post. Dieses Mal aber nicht von T-Mobile, sondern vom LCB. Meine damalige Frau jubelte. Nun hatte sie jenen, bei aufstrebenden Autoren so begehrten Aufenthalt bekommen, den Meyer angeblich aus Liebe zum Hund abgelehnt hatte. Sofort fragte sie mich,  ob ich damit einverstanden sei. Drei Monate seien zwar eine lange Zeit, aber Berlin nicht weit weg und sie könne das Geld gut brauchen. Von der insgesamt eher restriktiven Ehepartner-Politik deutscher Literatur-Einrichtungen ziemlich genervt, polterte ich sofort los: Wenn Clemens dieses Stipendium wegen der drohenden Trennung von seinem Hund nicht angetreten habe, dann sei es ja wohl das Mindeste, dass sie das Stipendium ebenfalls ablehne, wenn ich nicht mitkommen dürfe. Schließlich sei ich als ihr Mann doch mehr wert als irgend so ein zahnloser Autorenköter.  Sie tat wie verlangt. Prompt wehte mich eine leichte Brise jener Offenheit und Lässigkeit des Hauses an, von der dessen geistiger Mentor, der Schriftsteller und Philologieprofessor Walter Höllerer bei den ersten Treffen der Gruppe 47 wohl geträumt hatte. Es sollte nicht die Letzte sein. Ohne Aufheben gestattete mir das nette LCB-Team, mich für einen kleinen Unkostenbeitrag in der mondänen Stadtvilla mit Blick auf den Wannsee einzuquartieren. Und als ich im Juli des darauffolgenden Jahres die knirschende Kiesauffahrt zum Sandwerder 5 hinauffuhr, den Wagen unter den alten Bäumen abstellte, den Motor ausmachte und durch den schattigen Garten hinauf zu dem in der Sonne strahlenden Prachtbau blickte und dahinter das Wasser des Wannsees blau schimmern sah, bekam ich eine erste Ahnung davon, was für ein wunderschöner Sommer uns erwartete. Er brachte mir viele neue Freunde, rauschende Partys und spannende Geschichten. An seinem Ende sollte ich nicht mehr nach Hause zurückkehren, sondern in Berlin bleiben.

[EINSPIELER]

Diese persönliche Geschichte passt zu einem Gebäude, das in seiner über 125jährigen Historie bereits viele Funktionen erfüllt und viele Biografien beeinflusst hat. Ursprünglich 1884 als protziges Domizil eines Berliner Bauunternehmers auf einem ehemaligen Grundstück des Prinzen Friedrich Karl von Preußen errichtet, vermietete dessen Enkel und Erbe, Hans Georg von Morgen, den  renaissanceartigen Bau auf der Haveldüne an den Bankier Dr. Ernst Goldschmidt, einen Vetter der Mutter Carl Zuckmayers. Von Morgen verkaufte an den jüdischen Prof. Rosin, der in den Dreißigern nach England emigrierte. 1938 bis 1953 trieb das Oberkommando der deutschen Kriegsmarine hier absurde Planungen für ein sogenanntes „Ein-Mann-Torpedo“ voran. Das gruselige Tarantino-Projekt scheiterte genauso wie der unselige Krieg und eine Zeit lang diente die Villa danach als mondänes Offiziers-Casino für alliierte Besatzer. Erst nach einem Rückerstattungsverfahren konnte Prof. Rosin 1953 seinen Besitz an Frau Wanda Höxter veräußern, die dort ein Hotel betrieb, das bald das Missfallen der reichen Nachbarn erregte. Da das Gebäude auch immer mehr verfiel, verkaufte die Wirtin das Grundstück 1960 an das Land Berlin. Der chronisch knappe Senat konnte für die vorgeschlagenen Einrichtungen aber keine Mittel aufbringen. So kam es 1962 zu dem Glücksfall, dass das LCB „gestiftet von der Henry Ford Foundation, getragen durch das Land Berlin“, das Haus beziehen und seiner heutigen Bestimmung zuführen konnte. Mit seiner anspruchsvollen Literaturarbeit half Höllerer damit der heimischen Autorenschaft, exemplarisch angeführt durch die berühmte Gruppe 47, Anschluss an die europäische Moderne zu finden. Mehr noch, er machte das LCB zu einem Markenzeichen für literarische Wertarbeit aus Deutschland. Schon bald nach der Gründung füllten sich die holzgetäfelten Säle, die großzügigen Zimmer und der Wintergarten mit Offenheit und Leben: Berühmte und unbekannte Schriftsteller und Filmemacher, Hörspielautoren und Medienwissenschaftler, Kritiker und Theaterleute kamen und kommen hier bis heute zusammen, um einander zuzuhören und zu arbeiten. Heute ist Berlins erstes und ältestes Literaturhaus mehr als bloß eine Institution. Es ist wie ein Schweizer Taschenmesser: ein modernes Multifunktions-Tool, das mit seinen Aufenthaltsstipendien für Autoren und Übersetzer, seinen Literaturwerkstätten, den Lesungen und Veranstaltungen eine stille, aber bedeutende Macht in der deutschen Literaturlandschaft bildet. Immer mit dem gelassenen Blick auf den zum Ufer hin abfallenden Park und den blauen Wannsee, auf dem Ausflugsdampfer, Ruderer und Segelboote scheinbar ewig kreuzen. Am Ende so manches rauschenden Sommerfestes geht die Sonne hier in einem glitzernden Schauspiel aus Licht und Schatten unter. Die Literatur aber bleibt.

[CUT]

An einem verregneten Samstag Ende Juli des Jahres 2011 treffe ich mich mit Torsten Dönges, dem Programmleiter und heimlichen Türsteher des LCBs, auf einen Kaffee. Mitten im pulsierenden Kreuzberg sitzt mir ein fröhlicher und eloquenter Mann gegenüber, der jünger aussieht als er ist. Seine Augen strahlen listig und er lacht und erzählt lustige Geschichten aus der Vergangenheit. Doch als ich nach seinen Auswahlkriterien für Texte und Autoren frage und mich nach den aktuellen Herausforderungen des Colloquiums erkundige, wird er ernst. Schnell wird klar: Hier ist jemand mit Leidenschaft am Werk, der den unorthodoxen Geist des Hauses auch noch ein halbes Jahrhundert nach der Gründung beschwören und mit seiner täglichen Arbeit lebendig halten möchte. Dönges, der seit über 10 Jahren am LCB angestellt ist, will ganz in Höllerers Sinne vor allem ‚Literatur als Kunst‘ fördern. Professionelle Entscheidungen trifft er mit Bauch und Verstand. Wer eines der begehrten Aufenthaltsstipendien oder einen Platz in der renommierten einmal jährlich stattfindenden Autorenwerkstatt ergattert, hängt vor allem davon ab, ob Dönges in den eingereichten Texten den absoluten Willen zur Kunst und das technische Potential für überraschende Erzähl-Blickwinkel und -perspektiven entdeckt. Diese Strategie scheint aufzugehen. Denn so wurde neben vielen anderen auch das „Fräuleinwunder“ Judith Hermann ausgebrütet. Freilich: nicht jeder, der für ein paar Tage, Wochen oder Monate am LCB lebt und arbeitet, wird berühmt. Aber auffällig viele, so Dönges, finden später einen Verlag oder tun den nächsten Schritt in ihrer Karriere. Fast alle bleiben dem Haus ein Leben lang mit großer Sympathie verbunden. Möglich machen das der gute Ruf und die ausgezeichneten Kontakte der erfahrenen Mitarbeiter. Erfolge, die neben der familiären Atmosphäre ein wichtiger Antrieb für seine Arbeit seien. Neben dem viel Lesen und organisatorischen Aufgaben besteht für Dönges die größte und nicht endende Herausforderung darin, das LCB trotz seiner Stadtrandlage und seinem großbürgerlichen Traditions-Image als lebendigen Ort für moderne Literatur auch für ein jüngeres Publikum attraktiv zu halten. Zu den etablierten Event-Konzepten in Zusammenarbeit mit jungen Verlagen, werde man deswegen in Zukunft auch verstärkt auf Satelliten-Veranstaltungen im Stadtzentrum von Berlin setzen.

[AND GO]

Am Ende unseres Gesprächs frage ich ihn dann doch noch nach Clemens Meyer. Ob die Geschichte mit dem Hund denn wirklich stimme? Ja, antwortet Dönges und lächelt verschmitzt. Auch ein „ganz lieber Kampfhund“ sei nun mal eine potentielle Gefahr für Besucher und Personal. Zur Versöhnung habe man Clemens bereits mehrmals zu Lesungen eingeladen, was dieser auch immer sehr gerne angenommen habe. Doch so ganz hätte er die Ablehnung von damals wohl doch nie verwunden. Denn bei einer seiner letzten Auftritte habe er schon bei der Anfahrt telefonisch nach einem Grappa verlangt. Da dieser in der hübschen aber  bescheiden ausgestatteten Bar des Hauses aber nicht vorrätig gewesen sei, habe man ihm als Alternative einen deutschen Schnaps angeboten. Dabei handelte es sich um eine besonders prominente Flasche Doppel-Korn, die der dem Hause besonders eng verbundenen Günther Grass stehen gelassen hatte. Meyer trank die Flasche aus, gab dann aber später in einem Interview auf die Frage, wie er es den mit dem Betrieb halte, zur Antwort, dass es eine echte Frechheit sei, dass man als junger Autor am LCB nur die Reste von Grass zu trinken bekäme. Den Stars serviere man nur das Beste vom Besten. Als einfacher Schriftsteller müsse man sehen, wo man bleibt.

So oder so, denke ich, während ich durch den warmen Sommerregen nach Hause laufe: auch diese Saat geht auf, irgendwann. Und auf das Bier, lieber Clemens, warte ich immer noch. Bis heute.

in einem Kater Holzig Sarg

Absurderweise bin ich der Meinung, dass mein Berliner Nachtleben an einem Sonntagmorgen im August beerdigt wurde. In meiner Erinnerung stehe ich im Innenhof des Kater Holzig, auf dem kleinen Steg mit dem Rücken zur Spree. Amüsiert und melacholisch zugleich sehe ich meine drei Begleiter wie auf Fäden gezogen und voneinander getrennt durch die aus Latten zusammen gezimmerte Kulisse irren. Ich spüre, wie die aufgehende Sonne meine linke Gesichtshälfte wärmt und atme den Geruch verbrennender Holzscheite. Irgendwas hält mich davon ab, meine letzte Zigarette anzuzünden.  Ich entdecke eine kleine, mir unbekannte Trauergesellschaft, die sich um ein Lagerfeuer am Wasser  geschart hat. Einer der Männer dort sagt zu einem anderen: Ich geh jetzt nach Hause und schlafe ein wenig. Eine Frau antwortet, ohne den glänzenden Blick aus den Flammen zu nehmen: Du kommst also wieder. Sie schweigen und das Knacken der Scheite und die Musik aus den Baracken scheint auf einmal von ganz weit her zu kommen. Ja, sagt der erste Mann: Der Stempel gilt nur drei Tage.

*

Khyber Pass

H. und ich laufen zum dritten Mal in dieser Woche durch den IKEA Lichtenberg. Das Verrückte dabei ist:  mit H. würde man auch drei Mal die Woche über den Khyber Pass laufen. Ausgebildeter Einzelkämpfer, Scharfschütze, Fallschirmjäger. Wäre jetzt Krieg, man würde immer dicht hinter ihm bleiben, denn er hat diese Aura des Unbesiegbaren. Er ist kräftig und kompakt, alles an ihm strahlt Ausdauer und Durchsetzungswillen aus. Irgendwie weiß man: Der kommt hier raus, der wird sich nichts einfangen, egal wie hoch die Scheiße kocht. Es ist aber kein Krieg. Es ist Samstagvormittag,  IKEA Familientag. Und H. hat keine Kinder und keine Matratze und keine Bettwäsche. Die Hälfte seiner Möbel wurde ihm geklaut, das Geld ist ihm schon vor Wochen ausgegangen. Für Drogen, für Partys und Frauen. Vor allem aber für Drogen. Aber er lacht bloß, pariert lässig ein paar meiner Witzchen und zeigt auf eine kleine Blonde mit großen Brüsten. Was glaubst du, sagt er laut, wie geil die schaut, wenn du die von hinten nimmst. Und dabei lächelt er charmant, verdammt charmant sogar. Und wäre jetzt ein Krieg, dann wüsste man: Der kommt hier raus, ohne einen Kratzer. Es ist aber kein Krieg. Es ist ein Samstagnachmittag im IKEA Lichtenberg.