Nichts begann

Sein Zelt auf dem Campingplatz Les Pins stand auf einem harten und steinigen Lehmboden zwischen zwei frisch gestutzten Hecken. Mit ihrer exakten Form und ihrem außerirdischen Grün hätten sie auch auf jedem Friedhof eine gute Figur gemacht. Hier sollten sie ihn vor den neugierigen Blicken seiner sehr lebendigen Nachbarn schützen, die gerade mit dem Frühstück fertig waren und jetzt überlegten, ob sie erst zum Geschirrspülen und dann aufs Klo oder vorher zum Zähneputzen und gleich an den See gehen sollten. Er saß bei geschlossenen Türen und Fenstern hinter dem Steuer seines Autos und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die schnell kletternde Morgensonne schien direkt auf das Blech und er schwitzte, ohne es zu merken.

Er starrte auf das immer genau nach einer Minute verlöschende Display seines iPhones. Wenn der Bildschirm dunkel wurde, drückte er auf den Knopf, gab den Code ein und wischte die Icons zur Seite, um sich ein Bild von ihr anzusehen, auf dem sie ihm aus verschlafenen Augen zublinzelte und mit ihrem vollen Mund einen Kuss für ihn formte. Das Foto war nicht einmal ein halbes Jahr alt. Sie hatte es ihm aus Amerika quer über den Pazifik geschickt, nach einem schweren Streit, als es bei ihr früh am Morgen war und bei ihm schon wieder Nacht, wegen der Zeitverschiebung. Er starrte auf das Bild und rauchte und versuchte sich zu erinnern, während der Nikotinnebel um ihn herum immer dichter wurde. Er dachte, dass etwas zu Ende war und nichts begann.



White Power

Als ich mich auf den U-Bahnsitz fallen lasse, bin ich überhaupt nicht müde, nur betrunken. Ich falle genau zwischen sechs Migrantenbeine. Ist nicht noch wo anders was frei? Die Frage klingt etwas schüchtern, kurz darauf rutschen die Beine vom Polster, vielleicht weil ich diese abgefuckte Lederjacke aus London trage oder weil meine Haare so grau sind oder weil ich sie einfach ignoriere und stattdessen mein Handy raushole. Vielleicht ist das überhaupt die unique Geste des Jahrtausends, der Griff nach dem Handy und das Daraufschauen, das Ausblenden und Austippen und Auswischen. Eine nach Schönleinstrasse kommt eine Gruppe Elektrokids herein, junge Typen mit Skinnyjeans, Mullbinden und Locken, die Mädchen mit Lollis im Mund und schwarzen Stirnbändern im Haar. Klar, es ist Helloween. Klar, es ist drei Uhr früh. Klar, sie sind alle betrunken und wunderschön jung, auf eine hochmütige, nicht unangenehme Art. Das Gespräch der Migrantenboys stockt, eines der Elektromädchen macht sie nervös. So nervös, dass einer von ihnen, ein Kerl mit kunstvollem Maschinenschnitt und passend rotem Basecap zur roten Kappahose aufsteht und sie, quasi waagrecht in den Haltestangen hängend, sekundenlang vollabert. Beim Aussteigen setzt es plötzlich Tritte, einer der Elektrojungs bekommt den Frust ab, Tritte zurück, Tritte durch die sich schließenden Türen, Tritte gegen den Zug. Fick dich du Assi. Ein Türke spuckt zum Abschied durch das Kippfenster herein. Die Bahn fährt ab, das Abteil atmet durch. Die Kids sind aufgewühlt, die Jungs fallen aus ihren metrosexuellen Rollen, klopfen sich unbeholfen auf die Schultern. Einer, wahrscheinlich auf Speed, rollt die Augen und zittert und dreht wie verrückt ein Kaugummipapierchen zwischen den Fingern. Ein schöner Moment. Aber an der nächsten Station kommen fünf deutsche Prolls herein. Der Größte und Aggressivste von ihnen plumpst direkt neben mich, die Beine soweit auseinander als hätte er Bullenhoden zwischen den Schenkeln. Sofort hat er einen der Jungs im Visier. Nur Schwule unterwegs. Was schaust du so, du schwule Sau. Schau weiter so, dann trete ich dir die Zähne in den Hals. Schau auf den Boden, du Schwuchtel, so ists brav. Die Kids erstarren, jeder bleibt für sich. Die Prolls freuen sich. Lass mal Alter, der pisst sich doch schon ein. Bist du verrückt Alter, siehst du da oben: Kamera. Ein besoffener Ami stolpert vorbei, brabbelt irgendwas auf Englisch. White Power, rufen die Prolls. Ist egal wo du herkommst. White Power, Alter. White Power.

Kälter und ruhiger

Die schöne Wera, die auf alle so aufreizend und unangenehm wirkte, lächelte und schritt, scheinbar unberührt durch das , was man ihr gesagt hatte, zum Spiegel, vor dem sie stehenblieb, um ihre Schärpe und ihren Scheitel zu ordnen. Beim Anblick ihres schönen Gesichtes wurde sie noch kälter und ruhiger.

(Leo N. Tolstoj, Krieg und Frieden)