Ganz anders

„Wie still, ruhig und feierlich ist es doch. Ganz anders als in dem Augenblick, als wir stürmten, schrien und kämpften; (…) Jetzt ziehen Wolken an diesem großen unendlichen Himmel hin. Warum habe ich denn früher diesen hohen Himmel nicht gesehen? Wie bin ich glücklich, dass ich mir seiner endlich bewußt geworden bin. Ja! Alles ist nichtig, alles Betrug außer diesem unendlichen Himmel. In ihm ist nichts als Stille und Ruhe. Ach, Gott sei Dank! …“

(Fürst Andrej, Austerlitz/Tolstoj, Krieg und Frieden)

Unser Privileg

Der Abend beginnt eigentlich Scheiße, weil ich meine zuvor sorgfältig gestopften Zigaretten vergessen habe. Ich bemerke das erst auf der Warschauer, zu Fuß Richtung Kreuzberg. Für einen Moment bin ich echt verärgert, aber dann denke ich, dass das schon alles so seine Ordnung hat, und dass man ja auch ohne Drogen Spaß haben kann.  Ich kaufe mir also einfach ein frisches Päckchen Spirits und treffe am Imbiss vor der Brücke M., der sich gerade einen Döner genehmigt. Während ich ihm beim Kauen zusehe und mir seine üblichen Geschichten anhöre, drücken uns zwei junge Dinger Flyer für eine neue Bar in der Knorrpromenade in die Hand. Während ich noch denke, dass ich in der Knorrpromenade nur einen Thaipuff kenne, sage ich es auch schon mit einem freundlichen Lächeln.  Das irritiert die Mädels aber nur kurz. Schau, sagt die Dunkelhaarige zur Blonden, jetzt wissen wir endlich, dass das tatsächlich ein Puff ist, das haben wir uns doch schon immer gefragt. Für diese Antwort nehme ich ihnen gleich zwei Flyer ab und dann laufen wir über die Brücken. Vorm Magnet ist noch nichts los und weil heute alles auf M. geht, holt er noch Geld am Automaten um die Ecke, während ich mit einem hübschen Mädel durch die Glasscheibe einer Pommesbude flirte,  was lustig ist, weil wir uns ja nicht hören können und ihr Typ neben ihr wütend seinen Burger in sich hineinstopft. Dann laufen wir zurück zum Magnet, aber der Türsteher lässt uns nicht rein. Ausverkauft, sagt er einfach, ohne eine Miene zu machen. Also rüber ins Mysklevska, zwei große Bier und zwei Wodka auf ex an der Bar, Berlin Style. Die Stimmung hier ist ausgezeichnet, immer mehr Leute pressen sich in die kleine Bar, laute Musik aus den 90ern, Kiez only Publikum, eine ewige Ü30 Party mit angenehm runtergerockten Leuten, die sich die prüfenden Blicke in den Spiegel schon vor langer Zeit abgewöhnt haben: The more you know. Nach der zweiten Runde Schnaps und Bier sind wir in einer euphorischen Stimmung, wir rauchen zusammen eine Packung Zigaretten weg und irgendwann beschließen wir, dass die Barkeeperin sehr cool und süß ist und wie die jüngere Schwester von S. aussieht. Das schreibe ich S. auch gleich per SMS, aber sie antwortet nicht, was daran liegt, dass sie vor Wochen ihre Handynummer geändert hat und sie mir aus unerfindlichen Gründen nicht schickt. Nach der dritten Runde und mehreren Toilettengängen fallen wir irgendwann aus der Tür in eine milde Nacht. Vor dem Magnet ist jetzt eine Touristenschlange und weil wir schon sehr angetrunken und sehr lustig sind und es ja auch so mild ist, setzen wir uns ins Taxi und fahren rüber zum Berghain, nur um an der langen Schlange vorbei direkt zum Türsteher zu gehen. Das heißt, wir kommen eigentlich gar nicht bis zum Türsteher,  sondern nur zum dritten oder vierten Vorsteher des Königs. Das Berghain ist ja so eine kafkaeske Angelegenheit. Der Klotz fragt uns ohne Umstände, welche Privilegien wir denn hätten. Keine, antworten wir wahrheitsgemäß, was er nun gar nicht versteht.  Was habt ihr denn für Privilegien fragt er wieder und wieder. M. wird nervös, also erkläre ich dem Vorsteher, dass er offensichtlich keine Ahnung von seinem Geschäft hat und die Absurdität seines Daseins nicht ansatzweise begreift und man daran erkennen könne, dass das Berghain sowas von over ist. Das macht ihn derart wild, dass er seine Heavy Metal Matte hin und herwirft und uns laute Flüche hinterher schleudert, während wir zurück zu den Taxis stapfen und dann auf einem wirklich genialen Schleichweg zum Rosis fahren. Absurder Weise ist da auch eine Schlange vorm Tor. Der arme M. ist entmutigt. Fast schon wieder nüchtern schlage ich schnell das Lovelite vor, das ist ja nur ein paar Meter entfernt. Hier gibt es zum Glück keinen Türsteher, was uns den mit Punks, Hausbesetzern und Autonomen prallgefüllten Laden sofort sehr sympathisch macht. Die Mädels sind rough und tragen Armeebaggys, schwarze Tops und kunstvoll geschnittene Dreadlocks, gerne mit aufwendigen Färbungen und Lippenpiercings. Die Typen sind direkt und unkompliziert und tragen Lederjacken oder Blues-Brothers Anzüge. Wir bestellen jeder einen halben Liter Wodka Red Bull ohne Red Bull und stellen uns auf die Tanzfläche, über die ein Antifa Kracher nach dem anderen fegt. Plötzlich fühlt sich alles so richtig an. Wir tanzen und singen und pogen und saufen bis in die Morgenstunden und kurz bevor wir gegen sechs nach Hause wollen, füllt uns noch eine hübsche Dreadlockgöre mit Tomatensaft ab, den sie in einer ein Liter Doppelkornflasche mit viel Salz und Pfeffer mit sich herumträgt.  Als ich in der grauen Dämmerung schließlich nach Hause wanke, zwitschern die Vögel und meine Zunge brennt. Ich bin glücklich, denke ich, auf einmal,  während um mich herum der Frühling erwacht.

Summer surprised us

„Dieser Sommer, dessen Haut nach Sonnenmilch roch und nach frisch gemähtem Gras, der kam durch den Strohhalm einer Sunkist Tüte. Er machte uns kalte Zungen, Katzenzungen. Und irgendwo, meist in der Ferne, verengten sich die – mit klebrigen Händen beschatteten  – Lider.“

(Eiseis)