Captain America

CaptainAmerica

Sie waren über den Strand gerannt, bis zum Meer. Sie hatten beide ihre Schuhe ausgezogen und Tim hatte seine Hose bis zu den Knien hochgekrempelt, damit er durchs eiskalte Salzwasser laufen konnte.

„Was schaust du so?“, hatte Sofie gelacht, atemlos.

„Weil du wieder so strahlst“, hatte Tim ihr geantwortet. „Weil du mit dem Mond um die Wette leuchtest.“

„Hallo Mond!“, hatte Sofie laut gerufen, so laut wie sie nur konnte. Und Tim hatte sie unkontrolliert an der schmalen Hüfte gepackt und in den Sand gezogen.

„Das ist das erste Mal in meinem Leben!“, hatte er geflüstert, hastig und aufgeregt.

„Was? Was ist das erste Mal?“

„Das hier. Das alles.“

Jetzt saßen sie in der Country-Kneipe gegenüber vom Strandparkplatz. Ihre Gesichter glühten in der rotgrünen Leuchtreklame, die über dem Fenster hing. Sie tranken kaltes, dünnes Bier und teilten sich einen riesigen Hamburger mit Pommes. Daneben, auf einem dritten Barhocker, standen ihre Schuhe einträchtig nebeneinander. Tim spürte die Sägespäne und Sandkörner an seinen nackten Füßen und rieb sie unter dem Tisch an ihren Unterschenkeln ab. Es störte Sofie nicht, ja: Sie schien es nicht einmal zu bemerken.

So viel Appetit und Lebenslust, dachte Tim fröhlich.

„Weißt du was? Du bist ansteckend.“, sagte er.

„Ansteckend?“, echote sie.

„Na, irgendwie ansteckend halt“, wiederholte er und schob ihr dabei einen in Ketchup getunkten Pommesschnitzel in den Mund.

Sie biss nicht gleich davon ab, sondern saugte kurz vorher daran, wie an einem Babyschnuller.

„Aha. Infiziert also, Herr Doktor Zucker“, sagte sie dann, kauend.

Sie weiß gar nicht, wie geil sie mich damit macht, dachte Tim, im gleichen Augenblick irritiert über seine eigene Derbheit. So war er eigentlich nicht, so wollte er nicht sein. Oder war das falsch? Was wusste er schon über sich selbst? Was war echt? Und was war Einbildung?  Gerade war es ihm doch, als beginne er neu, als könnte er sich noch einmal neu erfinden. Er musste, er wollte alles neu denken, so sollte es sein. Das war der Plan.

„Another one?“

Die Frage des Barkeepers, die mit einem bärtigen Nicken seinem fast geleerten Glas galt,  riss ihn aus den Gedanken.

„Yes!“, sagte er, laut und bestimmt.

„Und wer fährt uns zum Hotel?“, fragte Sofie.

„Captain America!“

„Haha.“

Und was tat Sofie?

6

Der San Diego Freeway brachte sie auf den Washington Boulevard, der auf den letzten 500 Metern bis zum Meer mit Palmen gesäumt war: hohe Bäume mit schlanken Stämmen, deren Wipfel sich stolz wiegend gegen den tiefblauen Himmel zeichneten. Die Luft roch salzig und frisch und an den Straßenrändern waren nur noch die Liquor Stores geöffnet. Niemand war um diese Zeit hier zu Fuß unterwegs. Aber als sie über eine kleine, in der Mitte abgeknickte Brücke kamen, änderte sich das. Hier, hinter dem kleinen Bootskanal, kurz vor dem Strand mit den typischen, niedrig gebauten Backstein- und Holzgebäuden knallte das Leben. Es war Samstagnacht, Sportwagen und Trucks drehten ihre Runden. Das elektrische Licht glitt über polierten Lack und die Insassen hörten laute Musik und riefen den aufgekratzten (stets in Gruppen auftretenden Mädchen) anzügliche Dinge zu. Vor den gefüllten und mit buntem Licht geschmückten Restaurants und Kneipen flanierten die Nachtschwärmer zu Fuß auf und ab. Sie aßen dabei mit den Fingern oder warteten auf Einlass vor irgendeinem angesagten Club. Dazwischen, lässig und gekonnt wie Rauchschwalben, schlängelten sich die Skater auf langen Boards vorbei. Sie trugen kurze Strandhosen, coole Frisuren und teure Caps, die Tim sich augenblicklich ebenfalls zulegen wollte. Am besten gleich zusammen mit einem tiefenentspannten Gesichtsausdruck und dem unvermeidlich strahlend weißen Surferlächeln, das einen immer daran erinnern sollte, was für ein kleines, bescheuertes und vergeudetes Leben man selber führte. Und ganz im Gegensatz dazu, am anderen Ende der Skala: die bärtigen, verlausten Penner, die ihr Hab und Gut in zugemüllten Einkaufswägen hin- und herschoben und ihm das Herz zusammenzogen. Wahllos und wie in Zeitlupe bettelten sie Passanten an und zeigten dabei ihre stumpigen, von Armut und Karies zerfressenen Mäuler. Und was tat Sofie? Sie staunte. Sie staunte einfach und schwieg.