Irgendetwas lag im Schatten

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Die Einsamkeit und Kälte des Hotelzimmers empfang ihn, als er zurückkehrte. Die Klimaanlage war viel zu niedrig eingestellt. Sofia war nicht hier, Tim hatte unten auf der Straße wie ein Irrer nach ihr gesucht, im gierigen Gewusel der hin- und her strömenden Menschen. Vergeblich. Auch am Empfang hatte sie keine Nachricht für ihn hinterlassen. Er ging schnell auf und ab, wie ein Tier im Käfig. Im Bad ließ er das Wasser ins Waschbecken laufen und benetzte sich Gesicht und Nacken. Dann hockte er sich an den Bettrand und starrte auf sein unscharfes Spiegelbild im Fenster. Unter ihm lag Vegas, es breitete sich aus, seine Lichter verklebten an den Rändern der Wüste, dahinter lauerte die Nacht. Er überlegte, was er tun konnte. Er versuchte sich zu erinnern, was Sofie genau angehabt hatte und wie er es auf Englisch beschreiben konnte, aber es fehlten ihm die Vokabeln. Hektisch wühlte er in ihren achtlos fallengelassenen Sachen. Sie hatte weder ein Handy noch Geld dabei. Wusste sie seine Nummer auswendig? Er hatte keine Ahnung.

Hilflosigkeit schlich sich in sein Herz. Sie verschluckte seine Kraft wie ein dicker Teppich. Er ließ sich rücklings aufs Bett fallen, die Tagesdecke war noch unberührt und fest in den Ecken verzurrt. Er fühlte die ruhige Kühle des glatten Stoffes, er strich mit seinen nassen Handinnenflächen darüber. Er starrte eine Weile an die Zimmerdecke. Dann schloss er die Augen. Er hatte Sofie noch nie einen Grund zur Eifersucht gegeben. Ja, er war anfangs etwas distanziert gewesen, ihre ersten Treffen hatten immer etwas Verschwiegenes, Verbotenes gehabt. Schließlich war sie seine Angestellte gewesen, eine Studentin zwar nur, aber er hatte solche Dinge stets streng auseinandergehalten. Niemand sollte etwas davon erfahren, das sei auch in ihrem Interesse, hatte Sofia immer betont. Das war ihm recht, er hasste die Blicke der Kollegen im Gang, das Getuschel in der Kaffeeküche, das falsche Lächeln an den Kantinentischen. Sein Vater hätte es niemals akzeptiert. Never fuck the company, hatte er zu ihm gesagt, ganz am Anfang — ein bescheuerter Spruch aus untergegangenen Herrentagen. Aber Tim hatte sich daran gehalten, vielleicht auch nur mangels Gelegenheit. Bis Sofia eines Morgens im Büro vor ihm stand und ihn anlächelte.

Es sei ihr sofort klar gewesen, dass sie miteinander schlafen würden, hatte sie frech behauptet, viel später war das, als sie nackt zwischen den zerwühlten Laken in einem billigen Hotel vor der Stadt lagen, wie namenlose Kinder. Es war falsch, aber sie hatten sich ihrem Schicksal gefügt, so kam es Tim damals vor. Die Entscheidung war gefallen, überall roch es nach ihrem Parfum, ein fremder Duft gemischt mit dem süßen Geruch von Schweiß und Sex und er war überrascht, aber glücklich gewesen, zum ersten Mal seit langer Zeit. Hatte er angenommen, dass sie sich genauso fühlte? Wahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher aber war, dass ihre Motive und Empfindungen für diese Affäre für ihn im Dunkeln bleiben würden, bleiben sollten, sie behielt sie für sich, sie bedeckte sie mit ihren zahllosen Küssen, ihren unberechenbaren Blicken und Zärtlichkeiten. Er hatte nicht darüber nachgedacht. Jetzt, hier alleine im viel zu kalten Hotelzimmer, tausende Meilen von zu Hause entfernt, analysierte er die Lage zu ersten Mal nicht nur aus seiner Warte. Er sah seine Fahrlässigkeiten. Er sah seine Fehler und versuchte sich in sie hineinzuversetzen. Er wollte ihre Sicht der Dinge einnehmen und sie verstehen. Ihre nervöse Unruhe, die ihm unerklärlichen Stimmungsschwankungen, ihren Zorn und jetzt diesen hysterischen Anfall, ihre plötzliche Flucht: das alles musste Gründe haben und Tim war sich sicher, dass er nicht alleine dafür verantwortlich sein konnte, dass sie jetzt ausgerastet war. Irgendetwas lag im Schatten. Wenn er wirklich wollte, dass aus ihrer Geschichte mehr als eine egoistische Flucht wurde, das erkannte er jetzt, dann musste er anfangen, Sofie nicht nur als seine angenehme Gefährtin zu sehen. Er würde sich ernsthaft auf sie einlassen und ihre Bedürfnisse und Geheimnisse kennenlernen und begreifen müssen, so schwierig und zeitaufwendig das auch werden würde. Er fragte sich, ob er dazu bereit, ja, ob er überhaupt dazu in der Lage war. Er fühlte sich müde. Ohne dass er es gewollt hatte, entfuhr ihm ein tiefer Seufzer. Er war es leid, davonzulaufen. Er hatte es satt, in Deckung zu bleiben. Er spürte sehr viel Liebe in sich und den Wunsch irgendwo anzukommen. So schlief er ein.

Als er wieder aufwachte, hörte er Geschrei auf dem Gang. Türen schlugen auf und zu, eine tiefe (wahrscheinlich schwarze Stimme) brüllte: “Fuck you, bitch!”. Ein anderer, leiser Mann versuchte zu beruhigen: “Let her go. Just let her go.” Noch einmal rannte jemand durch den Flur, Erschütterungen wie von einem Elefanten, dann Stille. Tims Herz tat weh, es klopfte schnell. Instinktiv griff er an seine Brust. Draußen, vor der großen Panoramascheibe dämmerte es bereits, all die Lichter, die eben noch so verlockend bunt und kräftig pulsiert hatten wurden grau, die Illusion der Nacht löste sich bereits auf, die große Zaubermaschine schickte sich an zu verstummen, auch sie musste ihre Kräfte sammeln, es fühlte sich an wie Betrug, aber Tim beruhigte es auch. Nein, Las Vegas war nicht die Hölle, vielleicht nicht einmal eine Vorstufe zur Unterwelt. Es war nichts weiter als ein riesengroßes, gut geöltes Unternehmen. Und mit Unternehmen kannte er sich aus. Sie waren getrieben von Interessen, von Zielen und Notwendigkeiten. Unternehmen hatten Struktur, sie waren beherrschbar. Aber die Hölle, das war das Chaos. Er kämmte sich die Haare mit allen zehn Fingern nach hinten und stand auf.