Die Rache der Sonne

In der glitzernden Lobby des MGM war es noch zu früh. Musik dudelte leise ins Nirgendwo. Die Empfangstheken waren leer, ein Putzmann stand herum. Tim nickte ihm zu und ging mit geraden Schritten über den glatten, quadratisch ausgeschlagenen Steinfußboden, in dessen Zentrum ein alberner, vollkommen unecht wirkender Brunnen vor sich hin plätscherte. Die daran sternförmig angebrachten Wasserfontänen spritzten nicht dicker als billige Gartenschläuche, es roch nach Chlor und Bohnerwachs. Die Strecke bis zum Ausgang dauerte länger, als er gedacht hatte.

 The objects in the mirror seem…

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Vor den meterlangen, in goldenen Stahl gefassten Glastüren, lag die Einfahrt in einem unwirklich flatternden Lichtschatten. Er stammte von der Unterseite des großen Vordaches und seinen abertausenden, auch am Tage unablässig blinkenden LED Lämpchen. Tim sah darunter eine weiße, frisch gewaschene Stretchlimo mit schwarz getönten Scheiben. Über dem verchromten Griff der Fahrertür war, wie zum Schmuck, ein silberner Colt mit weißen Perlmuttgriffen angebracht, der das Glitzern wie Morsezeichen zurückwarf. Das war kitschig und gewalttätig zugleich, die pompöse Macht der Impotenz, es war wie eine entschärfte Handgranate mit rosa Tortenguss oder die stumpf geschliffene Samurai-Klinge in ihrer gebogenen, viel zu üppig verzierten Scheide.

Und dahinter, auf der verwaisten Hauptstraße von Las Vegas, brannte die Sonne bereits tonlos auf den Asphalt. Es war, als wolle sie sich an ihm für die künstlichen, für sie unerreichbar angebrachten Lichtquellen rächen. Der Teer war ausgeblichen und mit eingetrockneten Ölflecken übersät. Tim trat ins Licht und atmete die nachtkühle Wüstenluft ein, als wäre sie reiner Sauerstoff.

Er hasste die klimatisierten Räume, er hasste die luftdicht versiegelten Orte Amerikas, die gefilterten und parfümierten Biotope der zahnweiß gebleachten Plastikmänner und Plastikfrauen, die scheinbar nie den Impuls verspürten, ein Fenster aufzureißen. Jetzt, wo Sofie nicht bei ihm war, fühlte er auf einmal ganz unvermittelt eine tiefe Solidarität mit ihren fast schon pathologischen Abneigungen. Ja, er nahm in Gedanken ihre Positionen ein, er rollte sie wie Weintrauben im Mund hin und her. Er musste dieses Land nicht mehr verteidigen. Es hatte die Fahnen gestrichen, es streckte sich in seiner ganzen, improvisierten Großartigkeit wehrlos und jämmerlich vor ihm aus, wie eine armselige, vor dem Tageslicht flüchtende Nutte. Nur der Himmel über allem war wie immer wolkenlos, blau und ungerührt wie ein blankpoliertes Geschütz, das jederzeit losfeuern oder für Jahrhunderte schweigen konnte, ohne auch nur ein Gramm an Autorität zu verlieren.