Das war der Plan

„Die Toten sind unendlich einsame Geschöpfe, es gibt keinen Zusammenhalt unter ihnen, sie werden alleine geboren, sterben und werden auch alleine wiedergeboren.“

 (Christian Kracht, Die Toten)

DER SOMMER WAR schon lange vorbei, auch der Herbst ging zu Ende und der Kontinent wartete auf den Winter. Es war der erste nach der großen Katastrophe und niemand wusste, was er bringen würde. Die Infizierten, die die Herrschaft in wenigen, hart umkämpften Monaten an sich gerissen hatten, waren ein junges, dumpfes und vollkommen unberechenbares Volk. So waren auch ihre Gedanken. Sie wussten noch nicht, wer sie waren oder was sie wollten. Wie Milliarden von Frischgeborenen taumelten sie durch die gut erhaltenen Kulissen einer untergehenden Menschheit, die sich, mitten in ihrer gefühlten Größe und scheinbaren Unantastbarkeit jäh und brutal zu Boden geworfen sah. Die wenigen, noch über den Erdball verteilten Gesunden, waren freilich zutiefst traumatisiert. Sie kämpften jeden Tag ums nackte Überleben. Sie hausten in Kellern, Bunkern und in hermetisch abgeschlossenen Wohn- und Militärkomplexen, oft weit von den einstigen Stadtzentren der Zivilisation entfernt. Dort wurde mit den wenigen, verbliebenen technologischen und medizinischen Mitteln geforscht, experimentiert und getestet. Doch mit jedem Tag, mit jeder Woche und jedem Monat wurde es unwahrscheinlicher, dass ein Gegenmittel oder sogar ein Impfstoff gegen die grausame „deutsche“ Seuche gefunden wurde. Man war sich nicht einmal über ihren Ursprung sicher. Und während den Isolierten langsam die Zeit davon lief, die Nahrungsmittel knapp wurden und die Luftfilter immer öfter versagten, ließen sie ihren Ängsten und Hoffnungen freien Lauf. Besonders ein Gerücht machte die Runde. Es sprang wie ein Lauffeuer über die brüchige Kommunikationswege hinweg. Es besagte, dass es auch dort draußen, an der freien, frischen Luft Überlebende gäbe. Sie seien, einer bösartigen, ja hämischen Laune der Natur geschuldet, immun gegen das Virus, das fast die ganze Menschheit in kürzester Zeit in brabbelnde, gierige und hässlich anzuschauende Karikaturen verwandelt hatte. Es gab von ihnen nur Augenzeugenberichte, verwackelte Handyaufnahmen und unscharf gekörnte, tonlose Drohnenfilme. Aber sofort stürzten sich die gesunden Menschen auf diese bittere Krumme, als wäre es das letzte Stück Nahrung in einer langsam aber sicher vereisenden Wüste aus Tod, Verzweiflung und Kummer.

Sollte es gelingen, so das Gerücht, einen dieser Mutanten, wie man sie abfällig und gleichzeitig ehrfurchtsvoll nannte, lebend zu finden, gefangen zu nehmen und zu untersuchen – dann könnte dies die Rettung für die restliche, langsam aber sicher aussterbende Menschheit sein. Besonders große Angst hatte man gleichzeitig vor der Ausbreitung und Vervielfältigung dieser neuen, unheimlichen Spezies, die der alten und früher vorherrschenden auf einmal überlegen – weil besser an die neuen Umweltbedingungen angepasst – war.

Und so kam es, dass ein radikal denkender Teil der Gesunden eine Zeit lang mit allen verbliebenen militärischen Mitteln versuchte, frei umherziehende Gruppen von Toten und vielleicht auch Lebenden zu finden und zu vernichten, während andere, eher wissenschaftlich und zivil forschende Geister schon früh damit begannen, Hinweise und Muster in den chaotischen Berichten und lückenhaften Dossiers der Militärs und Überlebenden zu entdecken, um dann gut ausgerüstete und sorgfältig geplante Expeditionen in die Außenwelt zu schicken. Ihr Ziel war es, Kontakt aufzunehmen und eine fruchtbare Kommunikation aufzubauen, um dann, irgendwann, unter gesicherten Laborbedingungen, an einem möglichen, realistischen Fortbestand der eigenen Art zu basteln. Da man sich jedoch damit zunehmend in Konkurrenz zur Zeit und den schonungslosen und großflächig angewandten „Säuberungen“ befand, sah man sich gezwungen, mit einer radikalen, aber immer noch weltweit schlagkräftigen Bewegung zusammen zu arbeiten, die sich selbst den ironisch anmutenden Namen „Genius“ gegeben hatte. Der Anführer von Genius saß, wie konnte es anders sein, in den USA, in einem geheimen Labor unter dem futuristisch angelegten, ehemaligen Firmensitz von Apple, einem großen runden Kreis, der einmal wie ein glitzerndes Raumschiff von Außerirdischen gewirkt hatte und jetzt, nach einer mächtigen Explosion im Westteil, wie ein abgefressener alter Donut  aussah.

Unter Genius Ägide koordinierte man – da es keine funktionierenden Satelliten mehr gab –  mit einem ausgeklügelten, analogen System aus Funkbrücken die Aktivitäten der verbündeten Außenposten. Besonders wichtig waren dabei die letzten verbliebenen Stellungen in der alten Welt, die man nur noch sporadisch und über eine Kette von im Atlantik dahin dümpelnden Atom-U-Booten erreichen konnte. Bei dieser Art von stiller Post zwischen Amerika, Asien und Europa kam naturgemäß immer wieder zu Falschmeldungen, Irritationen und Fehlinterpretationen des Gesagten. Aber noch hielt die Verbindung, vor allem auch nach Berlin, wo sich die letzten Reste der deutschen Eliten (und Teile des amerikanischen Regierungsapparates) tief in den alten Bunkersystemen der Nachkriegszeit verschanzt hatten.

Dieser Kontakt war für Genius extrem wichtig, denn auch wenn sich die Seuche blitzartig über den Globus ausgebreitet hatte, so war ihr Ursprung doch ein deutscher gewesen. Aus der Bavarian Desease war, flux über die zusammenbrechende Medien verbreitet, das German Virus geworden, im amerikanischen Volks- und Facebook-Mund bald nur noch Bad Kraut genannt. Und nur wer, genetisch gesehen, möglichst nah an den Ground Zero, also die Wurzel dieses bösartigen Gewächses herankam, hatte nach Ansicht der amerikanischen Forschercrew auch die Chance, das seltene, mutierte, aber offensichtlich doch irgendwie resistente Genmaterial zu finden, zu isolieren und erfolgreich zu vernichten.

Das war der Plan.