Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Da unterhalten sich die beiden also, verdammte Rheinländer, jedenfalls kann man es nicht überhören, es ist vielleicht doch bald Zeit für ein Auto, und sie beklagen sich über ihren Busfahrer, der sie nach Berlin gefahren hat, was er lieber hätte lassen sollen, finde ich, und dieser Busfahrer telefoniert beim Fahren und blättert in Prospekten auf dem Lenkrad und meine Knöchel an der gelben Stange sind knochig weiß und wollen knirschen auf Knochen, aber man lebt ja in zivilisierten Umständen, woran man angesichts solcher Kaliber, lilagefärbter rheinischer Frühpensionierter Schatullen, gelegentlich zweifeln kann, und dann sagt die Rheinländerfrau zu ihrem aufgeschwemmten Wohlstandswauwau von bätschkäppigem Ehemann ohne ein Zwinkern „Das ist doch garantiert verboten und so gefährlich! Ich bin ja für Leben ohne Risiko, aber: Das gibt’s nicht mehr.“ und da erkenne ich, daß früher, in der Bonner Republik, wirklich alles besser war, falle aus der Straßenbahn und hole endlich tief Luft.

Link | 29. August 2004, 16 Uhr 39


Mein absurdes Leben, mein absurdes kleines Leben, das mit perversem Sinn für Humor (eine Wendung, die bei Gelegenheit näher analysiert werden muß, ist doch Humor vermutlich ein Sinn für die Perversität des Lebens und alles ist also ganz verdreht in unseren Köpfen, sieh mal an) immer trotzdem noch Sachen erfindet, um mich grade fernzuhalten von den Realitätserzeugern und sich einen Wolf kichert dabei. Will sagen: Oh, tschort (Neues altes Lieblingswort). Lahmer Angeberschrott folgt. (Selbstbezichtigungen, die kaufen Sie bei uns immer mit, die tun wir hier rein, die hängen bei uns überall dran wie die Blattläuse, dies lausige Laublausgesocks). Da, sehen Sie mal selbst:

Spielzeug gekauft. Damit in Bibliotheken herumgehangen. Festgestellt, daß mein Latein zu miserabel ist und es schon von Vorteil wäre, wenigstens ein bisschen Griechisch zu können. Die Arroganz besessen, einen Job bei einem Quasi-Staatsunternehmen mit Arbeitsplatz bei DaimlerChrysler aufzugeben aus keinem anderen Grund als verletztem Handwerkerstolz und der Tatsache, daß ich ein empfindlicher kleiner Bastard bin. Beim neuen Laden angefangen, was immer schwer ist, inhaltlich, und dann der ganze Teamkram, wenn noch alle Angst voreinander haben. Hosen gekauft. Gelesen. Zeit totgeschlagen, am Schopfe gepackt und niedergezerrt, mit dem Hammer draufgeschlagen; eiserne Disziplin geübt, um nicht in schwachsinnig-schwach-schwächliche Sentimentalitäten zu fallen. (Zeitweilig gescheitert, gottlob ohne Zugriff auf elektronische Kommunikation.)

( Ada, our ardors and arbors – aber der Rest ist völliger Nebel, versuch, dir den Rest auszudenken.)

((Klammern versauen den Stil, das tun Sie, mehr davon, gebt mir mehr davon!))

Link | 27. August 2004, 21 Uhr 01 | Kommentare (2)


Meine Fresse, sagte ich ergriffen zu den Wolken, denn da war es wieder. Den ganzen Tag lang schon hatte ich ein Gefühl hilfloser Freude gehabt und jetzt, als Schlieren in gelb und rot und gold über das Dach des Amtsgerichts zogen und eine ferne Harmonika eine mir unbekannte, stark synkopierte Melodie spielte – südamerikanisch? – war es wieder da; eine kühle Brise griff in mein Haar, fast fühlte ich ihre Finger, und der Moment verschmolz mit den anderen Momenten dieser Art, mit einem Abend am Fenster in einer engen südfranzösischen Gasse, mit einem Abend auf der Terrasse direkt hinterm Deich auf Fehmarn, mit einem Sonntagmittag auf einer Anhöhe im Schwäbischen und den anderen Momenten: Da war es wieder.

Wenn mich einer fragte: Was für einer bist du? Und ich müsste so eine Fänger-im-Roggen-Antwort geben, dann würde ich sagen: Ich bin der, der am offenen Fenster sitzt, liest und wartet auf das Geräusch des Schlüssels in der Tür; und während er sitzt und liest und wartet, lauscht er den Rufen und dem Lachen der Kartenspieler, irgendwo draußen in der Gasse, unsichtbar und fremd.
Oder ich würde sagen: Ich bin der, der im Park den Mädchen nachsieht, wie sie davongehen in ein Leben, in dem er nicht vorkommen wird, mit sanften Bewegungen ihrer weichen, verrückten Wirklichkeit, wie sie fröhlich und in Anmut an ihm vorbeigehen; ich bin auch der, der es versteht, ihre Grausamkeit zu nicht zu bemerken.

Wenn ich Sie jetzt nicht glauben gemacht habe, ein guter (oder bis zur Dummheit sentimentaler) Mensch zu sein, haben Sie kein Herz, lieber Leser (oder eine Abneigung gegen Kitsch).

Link | 17. August 2004, 21 Uhr 02 | Kommentare (5)


… und von Kindheit an hat man mich gelehrt, daß man niemals und aus keinem Grund die Freude anderer, einen Ball, eine Feier, ein gemeinsames Essen stören darf.

(a.s.o.) Noch so eine abhandengekommene Regel, die eine Selbstverständlichkeit sein könnte, wenn wir nicht heute dauernd unsre Egos in die Muckibuden trügen und glaubten, von anderen immerzu verlangen zu müssen. (Um nicht zu kurz zu kommen oder, noch schlimmer, nicht an Wert zu verlieren.)

Überhaupt herrscht ja derzeit eine Anerkennungshurerei; die ist doch eigentlich erstaunlich angesichts der so offenkundigen Tatsache, daß, wenn es um Menschen geht, nur in Geschenkökonomien Werte geschaffen werden.

Link | 17. August 2004, 19 Uhr 01


Autechre: Nine, auf Amber.

Die Menschen kamen von den Türen, schrien und gestikulierten, und durch die weit offenen Türen sah man Kinder, die sich in ihrem Bett aufrichteten oder dalagen und das Gesicht der Tür zuwandten, sah man schrecklich abgemagerte und abgezehrte Frauen, sah man noch lüstern ineinander verschlungene Paare, und alle folgten mit aufgerissenen Augen dem lärmenden Leichenzug, der durch die Gasse zog.

Curzio Malaparte: Die Haut.

Und die bange Frage dieser Tage, ein Lieblingsmem in der jüngeren Blogwelt offenbar, schon zum dritten Mal in wenigen Tagen stolpere ich jetzt darüber: Wo muß man sich eigentlich überall rasieren? ( Hier zum Beispiel). Oh! Wunder! Es ist noch etwas unbetratscht und nichtgenormt.

Haut den Leuten den Foucault um die Ohren, links und rechts, daß es klatscht, wenn er schon zu sonst nichts taugt.

Link | 17. August 2004, 17 Uhr 07


Beinah verpasst: yugop.com V4. Yugo Nakamura ist seit Anfang August wieder da und macht beunruhigend coole Sachen. Wer’s noch nicht kennt: Unbedingt auch ins Archiv schauen. So gut könnte das Web aussehen, wenn wir Luschen es drauf hätten.

Link | 16. August 2004, 23 Uhr 50


Gutes neues Wort gelernt: „Die muflerie der Männer der dritten Republik“. Der Satz sollte heute heißen: „Die muflerie der Männer der dritten Generation jeder Republik“.

Link | 16. August 2004, 19 Uhr 25


Schwerdenkeranfall. Hang zum Verbreiten von Weisheit. Aktuelle Forderung an die ganze unflätige Menschheit: Ernsthaft leben und drüber lachen. Versucht es, Schweinebande!

Link | 16. August 2004, 18 Uhr 13 | Kommentare (3)


Ziellos und erstaunt wanke ich in diesem Zimmer herum, fasse Gegenstände an und wundere mich, wie vertraut sie sind, wo ich mich so fremd fühlte. Was ist das für ein Taumel, was für eine Dummheit, was für ein Starren in die Wolken? Die Stadt liegt verlassen, alle sind vor die Tore in die Sonne gezogen, und ich verstehe nicht, daß ich alleine bin und nicht: Warum. Warum der Taumel? Taumelt der Wolf, der in der Höhle wohnt, wenn man ihn alleine zurücklässt in seinem Loch? Und wenn ich taumle, bin ich noch der Höhlenwolf? Wenn ich nicht mehr der Höhlenwolf bin, wozu wurde ich da gekrempelt, was bin ich denn dann jetzt für einer, und wie gefährlich ist das denn (und für welchen von uns beiden?)?

Arbeiten. Ich werde arbeiten. Und lesen. Die Fäden zusammenhalten. Den Sommer ignorieren, der Trägheit erzeugen und gesunde Manie ersticken will. Finsteres Zeug hören und arbeiten und lesen. Das ist der Plan. Rund um die Uhr, soviel eben geht. Arbeiten und lesen. The Faint und Camera hören und dann, bei gesteigerter Manie, wieder Welle:Erdball. Erstmal Malaparte lesen, dann, bei gesteigerter Manie, wieder ab in die Staatsbibliothek, herausfinden, was genau es mit der smaragdenen Tafel auf sich hat. Oder mal die Kopien mit dem seltsamen Kanon des unheimlichen Polen ausgraben und nachrecherchieren. Aus dem Weg, Sonne. Abstieg in die Geschichte des zweiten Europa, eine Höhle für den zurückverwandelten Wolf.

Link | 15. August 2004, 18 Uhr 49 | Kommentare (4)


Anna: Ich war sehr verliebt in dieses Mädchen. Vermutlich war sie in der Parallelklasse, aber ich weiß nicht mehr so genau. Jedenfalls kannte ich kaum mehr als ihren Namen und den Anblick ihrer Kleider (sie trug Kleider!) auf dem Schulhof. In „Bimbo“, dem kleinen Tierfreund, gab es ein Gedicht, das kann ich heute noch fast auswendig, es hieß „Pausenliebe“ und ging, ich hab’s, großer, großer Google, in Gänze wiedergefunden, so:

Frank liebt Anne.

In der Pause,
Als er Anne sieht,
Weiß er nicht, wie ihm geschieht:
Plötzlich im Vorübergehn
Läßt er sich ein Lächeln stehn.

Anne streicht ihr Haar zurück,
Schenkt ihm einen Augenblick.
Später an der Haltestelle
Stuppst ihn Anne blitzesschnelle
Heimlich im Vorübergehn
Grade so – wie aus Versehn.

„Aua!“ – denkt sich Frank im Bus
„Autsch! Das war ja fast ein Kuss!“
Und er freut sich, kaum zu Hause,
Auf die nächste große Pause.

So war das in meinen Tagträumen. In Wirklichkeit kannte Anna mich nicht und alles, was ich tun konnte, war immer nur zu hinzulächeln. Und dann, eines Tages, am letzten Tag vor den Ferien, war die letzte Stunde frei und der Bus noch nicht da, unversehens waren wir fast allein und dann setzte ich mich neben Anna auf die Mauer und redete einfach mal mit ihr. Als Kind hatte ich die Sicherheit eines Casanova beim Erobern von Mädchenherzen, glauben Sie mir das ruhig, lieber Leser, aber Ende der dritten Klasse fing ich schon an, ein wenig befangen zu sein, weil mich die Schönheit von Mädchen wie Anna einfach umhaute (um einmal einen Ausdruck des Fängers im Roggen zu benutzen). Am letzten Tag vor den Ferien ging es aber doch. Ich hab das verwackelte Bild wie Super 8 im Kopf: Am Ende liefen wir um die Wette, über die Wiese bis nach hinten zum „Panzer“, einem Reifenhaufen, der von den blöden Jungs täglich umkämpft wurde und mir natürlich komplett egal war. Anna lief mindestens ebenso schnell wie ich, was ich ihr nicht übel nahm, das mit der Überlegenheit haben ordentliche Männer in der dritten Klasse schon durch. Sie strahlte, als ich ihr den knappen Sieg respektvoll zugestand, mehr konnte ich nicht für sie tun, Drittklässler der ich war. Ich war sehr glücklich. Dann kam der Bus und die großen, einsamen Ferien begannen. Anna hatte mich vergessen, als die vierte Klasse begann, oder vielmehr: Sie hatte uns vergessen, wir sagten uns zwar fortan Hallo auf dem Gang, aber gestrahlt hat sie nie wieder, es war, als wäre der schöne zarte Moment von sechs bösen Ferienwochen einfach gefressen worden. Das ist mir nochmal passiert mit einem anderen Mädchen, drei oder vier Jahre später, und seither ist die Sache etwas traumatisch. Ich traue den Ferien irrationalerweise nicht mehr recht, ich fühle mich bedroht von ihnen, immer kommen sie dazwischen mit ihrer eifersüchtigen Einsamkeit.

Link | 15. August 2004, 1 Uhr 22 | Kommentare (2)


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