Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Eine Ausfallstraßenlandschaft: Gehsteig mit dünnen Linien von Gras zwischen den Steinen, fleckige Laternen. Fest, auf der anderen Seite der vierspurigen Straße, das Hochhaus aus Fenstern, weil es aus einer Zeit stammt, in der man sich über Fassaden nicht viele Gedanken gemacht hat. Dopplereffekte schnell vorbeiziehender Fahrzeuge, Plastikfolie in den Sträuchern. Die Stadtgrenze ist nah, die letzten Gebäude sind jung, funktional, nicht hässlich und etwas verloren. Danach flaches, weites Land, lange niedergeregnete Gräser liegen grau in der Kälte, einzelne Halme lassen zottlige Köpfe hängen. Eine diesige Sonne über dem Hochhaus; das Gefühl von Unausgeschlafenheit in den Augenwinkeln, ein Frühstücksei schmeckt leise und dumpf durch die Zahnpasta.

[Was ich hätte bemerken müssen]

Link | 16. März 2007, 14 Uhr 13 | Kommentare (3)


Überhaupt, das ist es wohl: Nie will ich auf der Seite der Macht stehen. Als ich einmal in Versuchung war und sie nahe spürte, überfiel mich kalte Angst. Eine reine, eine glasklare Empfindung.
(Es kann keiner sagen, er spüre die Macht nicht. Wer sich mit ihr einlässt, handelt opportun, oder ist Sadist, oder glaubt wirklich daran, das Richtige zu tun im Sinne der Ordnung) —

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Wie Odysseus, der Listenreiche.

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Es ist nicht: Gut gegen Böse (nie), es ist: Der Mensch gegen die Macht; jeder Einzelne für sich, nach innen und außen, und wir alle im Zusammenleben: Der Mensch gegen die Macht.

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Deeskalation, sagten sie damals, Strategien der Deeskalation seien zu erarbeiten, Kunde sei die Berliner Polizei. Ich hatte keinen Grund, ihnen nicht zu glauben.

Eine kalte fremde Hand unter der Bettdecke.

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Ich schätze Ruhe, sehr.

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Und schließlich: Die substanzielle, erbarmungslose, lückenlose Hässlichkeit und Schäbigkeit von allem, was mit Indymedia zu tun hat.

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Die M10 fuhr nicht weiter, wegen einer Demonstration am Bahnhof Eberswalder Straße, so ging ich zu Fuß durch die Menge. Man schaute sich um, etwas ratlos, ob es vielleicht dänisch würde irgendwo.
Ich sah zehn Polizisten aus einem Bus steigen, dann wurden dünne gelbe Trikots verteilt. Mit schon aus dem Sportunterricht vertrauten Bewegungen widmete sich die Truppe zum ANTI KONFLIKT TEAM um.

Link | 16. März 2007, 2 Uhr 51


Wie immer; die Talentierten kämpfen um Abstand, schwer genug wollen sie es sich machen, sie verbringen mehr Zeit mit dem Abstand als mit ihren Talenten; Fluch der Hellsicht.

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Ich glaube nicht, daß wir unseren Vorfahren noch ähnlich sind. Ich spüre kaum Verbundenheit mehr mit den politischen Geistern, mit ihrem Kampf um die Möglichkeit zu leben; vielleicht ist es schon der Sieg der Technologie, die uns nährt.

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Kunst. Die Länder am Ufer des Stroms; Ebenen und Wälder. Schwarze Hügel, karg und fremd wie verlassene Kohlelandschaften bisweilen. Breit ist der Strom geworden.

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Abstand 2007: Die bullshit-Kommunikation noch zu übertreffen, an Hanebüchenheit und Aufgeblasenheit noch zu übertreffen. Das ist folgerichtig und alternativlos, aber es ist auch traurig, das darf man nicht übersehen.

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Das Genre der ulkenden Autorenselbstbeschreibung. Unsere Nervosität, wenn auch nur der Hauch einer Gefahr besteht, geradestehen zu sollen für das, was wir sind und tun.

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Die provinzielle Ironie zählt überhaupt zu den Symptomen des 19. Jahrhunderts; es gibt Autoren, die eine chronische Krätze zu plagen scheint. (Jünger)

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Das Genre der Lebt-und-arbeitet-in-Autorenbeschreibung; das schweißige Kunstwollen.

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Materialismus: Nicht die Haltung ist produktiv, nicht das Talent; die ökonomische [abgebrochen]

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Wir reden zu wenig miteinander. Und wir nehmen das schmerzhafte Geschwätz zu ernst, das doch gar nicht ernst genommen werden will, das sich nur erhalten will durch Selbstfortschwätzung; das ist doch nur verständlich.

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Das ungebundene wir.

[Versuch, zuzuschauen]

Link | 15. März 2007, 3 Uhr 37


Verfluchtes, trübes Gedächtnis, das die fraktale Unendlichkeit des Abends vor mir verbirgt und mir nur die eine oder andere strahlende Einzelheit zeigt, die ich lange umkreise in der Hoffnung, eine weitere Erinnerung an ihr zu finden (und sei es eine falsche).

Link | 13. März 2007, 14 Uhr 34


Aus lange vergangener Erfahrung weiß ich: Es beantwortet viele, auch letzte, Fragen, an einem schläfrigen Sonntagnachmittag durch einen märznassen Park zu gehen, mit gelblich vollgesogenem Gras, Provinz-Bronze in braun und einem stehengebliebenen Riesenschach. Das Absurde haust in solchen Nachmittagen, aber es ist der Freund derer, die sich früh mit ihm anfreunden, ohne viel Aufhebens zu machen, indem sie, beispielsweise, an einem schläfrigen kalten Märznachmittag ein Riesenschach zu Ende spielen; und zwischen den Zinnen der Türme schwappt Regenwasser heraus, wenn sie losbrausen.

[take a breath, hard and clear yeah / like a hammer on a churchbell]

Link | 10. März 2007, 22 Uhr 17 | Kommentare (2)


Erlauben Sie mir, hierzu einen Vorschlag zu machen: Weblogs sterben bekanntlich nicht. Man kann sie nicht schließen. Selbst wenn sie gerade schweigen, leben sie weiter als verlassener Text, als tote URLs, nicht gelöschte Links, als sitzende Enten oder Gerüchte. Man kann auch kein neues Weblog machen, man dekoriert höchstens um.

Es handelt sich bei Weblogs nicht um Webseiten und nicht um Medien, sondern um Spuren (ecce homo). Sie werden nur vager, wenn nicht gepostet wird, aber auf was sie verweisen bleibt, auch in Abwesenheit.

Deswegen interessieren uns Dienste als Dienste, Weblogs aber darüber hinaus. Das bedeutet nicht, daß es keine Mischformen geben könnte, im Gegenteil. Wir werden uns nur eher die Namen der Menschen merken als die der Dienste, und es wird das Raunen häufiger geben, das durchs Netz geht, wenn jemand wiederkommt (Rainald Goetz!).

[Schönheit der Selbstorganisation]

Link | 6. März 2007, 22 Uhr 38 | Kommentare (6)


Einigermaßen betrunken entschwob ich am Alexanderplatz der U2, um noch einen Burger zu ergattern. Bei McDonalds rekalibrierten sie, wie das Display unmißverständlich mitteilte, bereits aufwändig die Squishee-Maschine, aber ich ward vom 16jährigen Nachtbediener trotzdem froh hereingebeten. Eine unsichtbare Burgerbräterin brut mir zwei frische Cheeseburger exquisiter Qualität, der Käse Scheiblettenkäse frisch wie aus der Packung und, ich schwöre, sogar die Gurken schmocken, es war gar nicht zu glauben.

[Nachts werden die Verben stärker und die Burger besser, wohlan]

[Nachts werden die Verben, so fällt mir grade auf, sogar unangenehm stark, ich korrigiere deshalb: Die Gurken schmeckten, falls Sie bei „schmocken“ Assoziationen haben sollten, lesen Sie bitte schmeckten, zum Teufel, jetzt halt ich’s Maul…]

Link | 5. März 2007, 1 Uhr 29 | Kommentare (2)


Versehrte, Versehrte überall.

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Mein Hang zum Brutalismus. Das wäre eine ehrliche Konsequenz, das wäre eine Grundlage. Nicht so biedermeierlich tun.
Früh frustrierter Hunger: Bei immobilienscout keine Checkbox „Sichtbeton“ anwählen zu können.

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Nie im Fernsehen: Menschen, die täglich einen Friedhof aufsuchen, ohne traurig zu sein; lächelnd vielleicht, vielleicht mit zwei, drei stillen, leichten Blumen.

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Andere Möglichkeiten, ein Mensch zu sein: Jetzt wird es darum gehen, ein Kästchen zu besorgen, etwa taschenbuchgroß, aus dünnem Holz und möglichst hübsch. Es wird wichtig sein, es selbst aufzustöbern, es darf kein Geschenk sein. Es wird in meinen Besitz übergehen für immer, nur Feuer und Tod werden uns noch trennen können, das Kästchen und mich.

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In meinem Feedreader habe ich ein englischsprachiges Weblog, ich weiß auch nicht mehr, wie es dorthin kam, dessen aufdringliche Vorliebe für eine spezielle Sorte heller und seelenloser Niedlichkeit eine morbide Faszination auf mich ausübt. Als schaute ich possierlichen Ratten beim fleißigen Übertragen der Pest zu.

Link | 4. März 2007, 17 Uhr 28


Fehlt Ihnen eigentlich die Politik?

Link | 3. März 2007, 19 Uhr 09


A., mit Ende zwanzig noch immer ein rastloser Geist ohne Interesse am eigenen Glück — es gab zu viele Dinge, die ihm gewohnheitsmäßig so viel interessanter schienen — begegnete seinem Schicksal auf der Treppe eines altmodischen Kinos am Stadtrand, wo er, um einen fahlen Donnerstagnachmittag zu vertreiben, der schlecht besuchten Aufführung eines jungen französischen Filmes beigewohnt hatte.

Wie man sich ein Jahrhundert früher jäh in eine unerreichbare Opernsängerin hätte verlieben können, verliebte er sich auf jener Kinotreppe in eine tatsächlich gar nicht so unerreichbare Frau. Nur unter der Bedingung der Unmöglichkeit schien ihm diese Liebe, die ihn so plötzlich überfiel, möglich und schön.

Just als er sich (eine tragische Gestalt) aus ihrem Blick lösen und abwenden wollte, sprach sie ihn allerdings an.

Aus einem Grund, den er nie ermitteln konnte, begleitete seinen rasenden Wunsch, mit ihr zusammenzusein, fortan stets die Idee der Unmöglichkeit. Der sinnlose Gedanke verfolgte und berauschte ihn, selbst als die beiden, einige Wochen später, gemeinsam durch die frischen Parks einer kleinen osteuropäischen Hauptstadt spazierten und ihr Glück nur bedroht schien durch angeleinte Hunde, radfahrende Kinder und gußeiserne Laternen, von denen sie mitunter zu schrecklich trennenden Ausweichmanövern gezwungen wurden.

Während der ungefähr sechs Monate, die ihre Geschichte, jedenfalls technisch betrachtet, dauerte, wurden die beiden sich bis zuletzt täglich teurer. Ihre wechselseitige Verehrung und die Gewissheit, unwahrscheinlich ähnlich wahrzunehmen, nahmen ihnen die Last der Rechtfertigung ihrer Existenz vollständig ab. Von jeder Unsicherheit befreit und nicht übel stolz auf ihre Gier nacheinander schritten sie einige Wochen lang durch die Tage mit dem überlegenen Lächeln der Unbedrohbaren.

Mit jeder Eigenschaft und Neigung, die ihm am ihr unverzichtbar wurde und mit deren Erkenntnis er seine Liebe stärkte, nährte A. allerdings auch den böswilligen Parasiten. Der vollkommen abstrakte Gedanke, daß es nicht ginge, daß es sich nur so groß anfühle, weil es nicht möglich sei, wuchs heran und beschäftigte A. zunehmend. Daß die Tatsachen ihn restlos widerlegten, war ihm dabei bewusst, und in jenen Zuständen der Hellsichtigkeit, die sich nach dem zweiten Glas Wein einstellen, pflegte er seinen Freunden die Frage zu stellen, warum er wohl von allen fixen Ideen, die Menschen nun einmal verfolgen, ausgerechnet auf diese eine habe verfallen müssen. — Ein Glas später allerdings begann er sich dann grüblerisch zu fragen, was es wohl sein könne, das ihn störe an ihr; oder ob es an ihm läge: Ob er ihr schade vielleicht, auf eine Weise, die ihm entging und die sie ihm aus Liebe oder Verblendung verschwieg. Jedenfalls, er begab sich auf eine verhängnisvolle Suche nach innerer Konsistenz.

In den Wochen vor ihrer Trennung befand er sich in einem berserkerhaften Modus der Rationalisierung. Wenn diese Liebe zum Untergang verdammt war, so folgerte er, läge das möglicherweise daran, daß er seine Geliebte gar nicht schön fände. Jeder Blick, den er ihr zuwarf, widerlegte diesen Gedanken, aber die eigenen Blicke sieht man nicht, und so beschloß er fast trotzig, Fehler zu finden an ihr und sich darauf hinzuweisen, wie intolerabel sie seien. Er zwang sich, auf der Straße anderen Frauen hinterherzusehen, wie andere sich zwingen, es nicht zu tun, und er zwang sich, sie morgens kalt zu verabschieden, wie andere sich zwingen, den kurzen, wichtigen Moment der Aufmerksamkeit aufzubringen auch wenn sie gerade in Gedanken sind oder zufällig schwermütig.

Seine eigene Kälte wurde schließlich sein bestes Argument. Wenn er sie so schlecht behandelte, wie er es tat, dann musste es stimmen: Es ging nicht. Sie, die ihn mit einer Zärtlichkeit liebte, die er, dessen war er sich ob seiner Zweifel sicher, nicht verdiente, wurde nur immer trauriger, zeigte es nicht und kümmerte sich mit verdoppeltem Eifer um ihn, den sie nicht verstand und der nicht sagte, was geschah. Er fand sie verzweifelt.

Die Trennung war unvermeidlich. Sie liebten sich und sahen sich nicht in die Augen: Es ging eben nicht. Er schloß sich ein, hörte auf, Frauen auf der Straße nachzusehen und beantwortete jeden ihrer Versuche, vernünftig zu sein, mit einer Gemeinheit, um es ihr, so dachte er, einfacher zu machen. Sie, verletzlich, verletzt, traurig und stolz, schloß sich ein, dachte nach und begann nach einigen Monaten wieder, altmodische Kinos am Stadtrand zu besuchen.

Der unglückliche A. brauchte zwar Zeit, bis er verzweifelt sein konnte über ihren alten Briefen, blieb aber selbstverständlich alleine. Zwei Jahre nach ihrer Trennung brach er die Zelte in der ihm unerträglich werdenden Stadt ab, in der er ihr, die er sich glücklich dachte, jederzeit begegnen könnte, und zog nacheinander in immer kleiner werdende Städte der Provinz, wo er seinen Zerfall, der in unseren so lebensfähigen Zeiten kaum durchführbar ist, leicht ironisch pflegte: Als kultivierter, älter werdender Herr, der gerne ein Schach gegen die Lokalgrößen verlor und den man in den wenigen annehmbaren Cafés der Kleinstädte immergleiche Bücher lesen sah.

Link | 3. März 2007, 17 Uhr 49


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