Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Meine liebste, weil genaueste Kritik dieses Jahr kam von Karla, die, in einem kleinen Seitenhieb, sinngemäß sagte: Angesichts der Untätigkeit des Protagonisten eines von mir kritisierten Textes müsse ich mir klar machen, daß in einem Szenario der Bedrücktheit, wie Hartz IV eines sei, feinsinnige Beobachtung als Methode der Textproduktion einfach ausscheide — dies feinsinnig vorgebracht mit leichtem Spott, vielleicht einem freundlichen Hauch Verachtung.

In derselben Diskussion kamen weitere Beiträge, die mich viel lehrten über die Rezeption meines Tuns hier: Den (von mir vollkommen unterschätzten) konservativ-eskapistischen Ruch, das Balkonzimmer, die gute alte Zeit, optisch, stilistisch, orthographisch, inhaltlich, eine allzuleicht erreichbare Seligkeit für Schöngeister im Geiste und eine Beödung der aggressiveren Leser, insgesamt fast eine Altherrenangelegenheit — das wäre schade (kein Komma) sehr schade, das soll doch ganz anders funktionieren, verdammt!

Ich bezweifle nach wie vor, daß Karlas eigentliche Kritik-Kritik valide ist, weil ich sie für eine Form der proletarischen Kritik halte, die behauptet, daß die Güte eines Textes mit seiner sprachlichen oder inhaltlichen Übereinstimmung mit der Lebenswelt einer (und sogar einer bestimmten) Klasse oder Gruppe zusammenhänge. Der Feinsinn allerdings ist ein Treffer, insofern er eine einigermaßen selbstgenügsame Masche durchschaut und präzise benennt.

Ich habe nachgedacht und zwei mögliche Lösungen für mein Problem gefunden. Erstens, ich poste eine Weile lang ausschließlich YouTube-Videos und wehre mich dergestalt gegen den altherrenhaften Feinsinn, verstecke aber in der Auswahl der Videos Botschaften (um Spaß an der Sache zu haben.) Zweitens, ich greife den Stier bei den Hörnern und poste eine Weile lang ausschließlich pornographische Texte — um eine Art Exzess von Altherrenhaftigkeit und Feinsinn herbeizuführen und die beiden so zu transzendieren.

Abstimmung!

Link | 29. Dezember 2007, 17 Uhr 03 | Kommentare (12)


Pastoral Dreams ~ Instead of tossing & turning through the night, rest your head upon this blend of relaxing herbs. [Herb Pillows]

Link | 28. Dezember 2007, 18 Uhr 35


Verschränkte Wolken eiskalten Nebels wandern durch die Straßen meines nachthellen Heimatdorfs; die verschwommene Kontur des Vollmondes in scharfem Kontrast zur Präzision der Kälte, die die Nebel auf alle Oberflächen bannt und Nacht für Nacht die Kristalle verkompliziert auf Zweigen und Zäunen. //

Link | 23. Dezember 2007, 23 Uhr 53


… stieg er in die Berliner Straßenbahn. Er fuhr zum Unterricht, war spät dran wie gewöhnlich, und wie gewöhnlich erwachte in ihm ein unbestimmter, bösartiger, bedrückender Haß auf die schwerfällige Trägheit dieses unbegabtesten aller Verkehrsmittel, auf die hoffnungslos vertrauten, hoffnungslos häßlichen Straßen, die am nassen Fenster vorüberzogen, vor allem aber auf die Füße, die Seiten und die Nacken der einheimischen Fahrgäste. Sein Verstand wußte, daß unter ihnen auch wahre, vollkommen menschliche Individuen vorkommen konnten, mit selbstlosen Leidenschaften, echtem Kummer, ja selbst mit Erinnerungen, die ihr Leben durchglänzten, aber aus irgendeinem Grund gewann er den Eindruck, daß diese kalten, flinken Augen, die ihn anschauten als trüge er einen unrechtmäßigen Schatz bei sich, einzig hämischen Klatschbasen und unehrlichen Krämerseelen zugehörten….

// (Geräusch einer jäh sich entspannenden Feder) //

… die, splitternackt mit Korsettabdrücken auf dem Bauch, ihr zu einem Drittel seiner Lebensgröße verkleinertes Selbst in den Händen hielt…

(Nabokov, Die Gabe, erstes Viertel)

Link | 23. Dezember 2007, 23 Uhr 30


Die Erzeugung von Erinnerungen ist ein delikates Geschäft.

[Nichts verjährt, nichts verändert sich.]

Link | 22. Dezember 2007, 12 Uhr 43 | Kommentare (1)


Keinohrhasen. Was für ein hochinteressanter und verwirrender Film. Schlimmer Til-Schweiger-Dreck mit Pro7-würdigem Spießerphantasma-Plot. Ein zynischer Boulevard-Journalist, der dann Kindergärtner wird, Slapstick der Sorte „Torten und Bretter“, jede Menge sinnloses Facedropping, die naheliegendste Liebesgeschichte bruchlos durcherzählt, ein schamlos verlogener Berlin-Heile-Welt-Kinderhort, die üblichen verlogenen riesengroßen Altbauwohnungen, dazu allerlei Peinlichkeiten und Anzüglichkeiten, bisweilen von sehr beachtlicher Stumpfheit (sogenannte frische Dialoge), zum Ausgleich eine Menge süßer Kinder, die süße Kinderdinge tun. Der Film ist rappelvoll mit allem, was irgendjemand gut finden könnte. Schweiger hat für jeden was reingetan. Für mich war auch was drin: Nora Tschirner.

Nora Tschirner kann zwar sagenhaft gut gucken, aber keine deutschen Drehbuchtexte so sprechen, daß man sie ihr glaubt — das liegt sicher zur Hälfte an ihr und noch sicherer zur anderen Hälfte daran, daß niemand das könnte. Obwohl man an ihrer Schauspielerei, insofern sie mit Sprechen zu tun hat, nach wie vor zweifeln darf, rettet sie diesen Film. Und zwar so ganz und gar, daß ich nicht sagen kann, ich hätte mich nicht wohlgefühlt. Ich saß in einem Film, an dem alles falsch war, und es war gut, weil es gute Leute darin gab. (Das muß dieser Kapitalismus sein, von dem immer alle reden.) Nora Tschirner ist der Kohlefilter für die trübe Brühe des X-und-Schweigerfilm-Wesens. Sie richtet das, qua Anwesenheit. Mit schierer Norahaftigkeit und Tschirnerigkeit, mit dem Spiritus Norae.

Der Name des Films ist schon ein Tschirnerismus. Darum geht man also ins Kino und kauft ein Billet und sieht sich das Elend an, enttäuscht und ungeduldig: Gähnende Eitelkeit, eine kalkulierende Herzlosigkeit in der Auswahl von Bildern und Ideen — alles nur Klischeetrigger –, die Ideologie des angeblich unterdrückten Entertainment („ich hab immer diese Arthaus-Scheiße gemacht“), also Klamauk, die bizarre und vulgäre Ideenwelt der Medienszene und ihrer komplexbeladenen Selbstbebilderung: Bloß kein Geist, bloß keine Ästhetik, das könnte nach Kunst aussehen und das wäre bekanntlich so schrecklich deutsch. Frau Tschirner ist ab und zu im Bild und sagt Sätze in Drehbuchjargon auf, und man denkt: verdammt, jetzt haben sie sie gekriegt. Es ist sehr schmerzhaft.

Dann kommt die Szene auf der Brücke — und dann geht es. Da ist ein Punkt zu machen. Die Schicht aus Aufsage-Gel zwischen Sprache und Sprechen ist weg. Nora ereifert sich aus ihrer unterkomplexen Rolle heraus. Nora sagt uns, wie’s ist. Sie hat zweifellos Recht, und ihre Empörung ist heilig. Von diesem Punkt an wird alles gut. Wir sind in guten Händen. Nora passt auf, die ist vernünftig. Sie hat das hier heimlich im Griff, die ist auf einer Mission, die spielt nur zum Schein mit. Der Gewalt ihrer Nettigkeit ist kein noch so fieser Irrtum der deutschen Komödie gewachsen. Mensch, ist die nett und unbescheuert. Ihre Unbescheuertheit überstrahlt glatt die totale, kaum noch fassbare Bescheuertheit des Films drumherum.

Wie eine zarte Bleistiftskizze in einem armdick verquollenen, monströsen goldenen Rahmen.

Hingehen, auch anschauen, mitlachen, Kinokassen vollmachen. Primat der Freude, Ihr wisst schon. Erfolgskomödie.

Link | 22. Dezember 2007, 2 Uhr 49 | Kommentare (1)


In die S-Bahn nach Grünau nahm ich Die Flucht ohne Ende von Joseph Roth mit, einen dünnen weißen dtv-Band von 1978, den ich im Spätsommer in Wien gekauft hatte. Am Alexanderplatz begann ich, nach zehn Jahren zum ersten mal, Joseph Roth zu lesen:

Der Oberleutnant der österreichischen Armee Franz Tunda geriet im August des Jahres 1916 in russische Kriegsgefangenschaft. Er kam in ein Lager, einige Werst nordöstlich von Irkutsk. Es gelang ihm, mithilfe eines sibirischen Polen zu fliehen. Auf dem entfernten, einsamen und traurigen Gehöft des Polen, am Rande der Taiga, blieb der Offizier bis zum Frühling 1919. (α)

Heilige! — Diese unfassbare Großzügigkeit. Und dann: die Hellsicht.

Es war um diese Stunde, da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt. (ω)

Hellsicht, was die Mechanismen des Charakters angeht. Sie werden mir verzeihen, daß ich diesen Tunda sehr mag: Seine endlose Flucht und unbezwingbare Fremdheit, die Klugheit, die einen Mann gleichgültig macht, seine Illusionslosigkeit, die in zynische Rücksichtslosigkeit zu kanalisieren er zu anständig und die durch anheimelnde Ideologie zu ersetzen er zu ehrlich ist — eine hochmütige und gefährliche (heute würde man urteilen: leicht autoaggressive) Haltung, die er tatsächlich teuer bezahlt. Diese Leute gibt es, ich habe das Glück, ein paar zu kennen, die so zu leben versuchen.

Er ging durch hässliche alte Gassen mit aufgerissenem Pflaster und billigen Läden. Aber wenn er den Blick erhob, über die Ladenschilder, waren es Paläste, die mit unberührter Gleichgültigkeit Händler zu ihren Füßen duldeten. Es waren immer die gleichen, alten Fensterscheiben, in acht Parallelogramme aufgeteilt, mit den gleichen, grauen, dünn gerillten, bis zur Hälfte herabgelassenen Jalousien. Nur selten war ein Fenster offen, und selten an einem offenen Fenster ein unbekleideter Mensch.

Paris, ein paar ziellose Tage in Paris –

Link | 18. Dezember 2007, 14 Uhr 20 | Kommentare (1)


cat Im in ur stereo likin ur lophee electrotrashz && wir nennen ihn ja „Bürste“ hier, und wir mögen Bürste eigentlich sehr gern > /dev/null

[Endlich wieder ein Weblog, bei dem ich jeden Eintrag kommentieren will, mich aber nicht traue]

Link | 17. Dezember 2007, 0 Uhr 49 | Kommentare (2)


Rehtöterverweis: The Mercy of Admiral Shlork

(runners-up: #, # (wahr!), #, #, #, und natürlich das Einhorn.)

Link | 15. Dezember 2007, 18 Uhr 38 | Kommentare (1)


Und ich kann nicht aufhören, an die Stille zu denken in Ahnungen von Glück; und nur die Stille vergibt. Brücken im Regen, eine schwarzweiße Laterne und eine Kreuzung, der Geschmack von Schokolade am Sonntagnachmittag; die weiten Elbauen mit ihren reglosen Baumlinien und einer schwachen Halo von Dezembersonne. Musik ist Umgang mit Stille, und zwar so reflektierter, strukturbewusster, machtsensitiver, zärtlicher und brutaler, also kluger und behutsamer Umgang mit Stille, wie er uns als Umgang miteinander nicht gelingen will: Das ist die zivilisatorische Vorahnungsfunktion der Musik und ihr Versprechen.

Jenseits der Identitätsfunktion, jenseits der Verlängerung der gefühlten Fähigkeit zum Gefühl in das Erwachsenenleben hinein, also der Lebendigkeitsfunktion: die Ahnungsfunktion, die uns so dahinrafft.

[Eschatologie]

Link | 15. Dezember 2007, 15 Uhr 22


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