Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Liste: Ungeordnet Frühstücken. Schweigend spazierengehen mit den Händen in den Hosentaschen. Suppengemüse schneiden. Eine Zeitung aufteilen. Durch den Regen gehen, durch den Park gehen. In die helle leere Wohnung zurückschauen. Anhalten und gucken. Photos durchsehen. In zwei Zimmern an zwei Fenstern denselben Himmel bemerken und ihn dann, auf dem Flur, nicht erwähnen. Die Heizung anschalten und warten, bis es warm wird. Auf den Zug warten. Zu faul sein, um die Heizung anzuschalten. In einem staubigen Hotel über einer Bar übernachten.

Link | 30. November 2008, 1 Uhr 19


Novemberkind ist ein sagenhaft schlechter Film. Es liegt nicht an Anna Maria Mühe — die ist wunderbar. Es liegt nicht an Mecklenburg oder dem Bodensee, die sind genauso wunderbar. Es liegt sicher nicht an der Musik oder den Bildern — das alles ist schön und eigentlich wie gemacht für gerade mich.

Es ist, schon wieder, das Buch, und es ist die Regie. Das wäre, mal wieder, belanglos, wenn es nicht ärgerlich wäre: Dort ist Wille zur Kunst, und drumherum ist die Seelenreife von Sechzehnjährigen.

Ein Novemberkind… eine junge Frau ohne Eltern. Warum ist sie ohne Eltern? Sie musste zurückgelassen werden bei einer Flucht aus der DDR. Warum musste sie zurückgelassen werden? Weil ihre Mutter einen russischen Deserteur versteckte. Warum hat sie ihn versteckt? Weil sie ihn liebte! Warum aber hat sie schon ein Kind? Weil sie einen anderen liebte! Und warum hat sie ihre Tochter nicht nachgeholt? Weil der andere ein Schwein war! Und weil ihre Großeltern verlogen waren und sich geschämt haben, diese DDR-Schranzen! Und wie kommt es raus? Ein… Professor für kreatives Schreiben! Und warum interessiert den das? Weil er einen Roman schreiben will, geplagt von seinem Stoff, wie wir!

Ich sehe sie vor mir, wie sie Zettel anordnen an den Wänden, ganz wie ihre Professorenfigur, mit großen Worten darauf, „Lüge“ „Kunst“ „Schuld“, die sie umsortieren und anstarren, wie sie ein Glas abstellen in Denkerpose und Wollpulli, wie sie einen der Zettel von der Wand nehmen, ein Wort durchstreichen und „Geld! der WESTEN!“ drunterschreiben. Ich kann sie sehen, wie sie sich gegenseitig ihr Künstlersein vorspielen, wie sie ihren Accessoire-Beruf herumzeigen.

Es ist so ein gottserbärmlich eitler Streberfilm.

Er verweigert seinen Figuren, seinen Bildern und seiner Musik jede Aufmerksamkeit. Die sind nur da, damit einer einen Film machen kann. Dabei: In jedem der Bilder aus Mecklenburg, wenn nur die Kamera mal stillhalten könnte, wäre mehr Substanz als diese ganze Wagenladung von Plotbaukasten-Industrieabfällen hergibt.

Der Lacher des Jahres aber, und zak kann bezeugen, wie ich gelacht habe, war die Frage der Verlegerfigur an den Autorpappmann:

Hast du den Stoff schon jemand anderem angeboten?

Stoff, nebenbei, ist das, was die Leere füllt.
Zum Beispiel die Leere, wenn man partout ein Buch machen will, oder einen Film.

Link | 25. November 2008, 22 Uhr 17 | Kommentare (3)


Ein kaum hörbares Grollen, ein leichtes Beben im Untergrund, Haarrisse in den Gehsteigplatten, und überall Licht, dann wird es wieder ruhig.

Link | 22. November 2008, 16 Uhr 18


Gerda was now fast asleep. Stretched out upon her back, she lay as motionless as the shadows about her, one arm curved beneath the fair head and the other flung upon a bed of moss. Wolf sat with his arms hugging his knees, and his back against a sycamore trunk.
The weather had been good for the wheat that summer, and not too scorching to the grass; so that what he looked at now, as he let his eyes wander over that great level of expanse towards Glastonbury, was a vast chessboard of small green fields, surrounded by pollarded elms of a yet darker colour, and interspersed by squares of yellow stubble.
(Powys)

Link | 22. November 2008, 15 Uhr 06


Und erste Andeutungen von Schnee zwischen den Blättern.

(Der wolkenverhangene Himmel ist nicht zuständig für unsere Launen: Im Fenster neben einem den Raum füllenden grünen Apfel wirkt er fröhlich, frisch und einladend, wie ein Regentag in einer fremden Stadt.)

Link | 22. November 2008, 11 Uhr 49


Die meisten Dinge jedoch geschehen nicht, sie spielen keine Rolle und sind nur Textur im großen Buch. Einige Dinge geschehen: Unter den Bedingungen der Bedingungslosigkeit.

Link | 22. November 2008, 11 Uhr 14


Ich bin ein Narr: Ich vergesse nicht.

Link | 22. November 2008, 10 Uhr 56


Auf der Brücke traf ich sie wieder, die wilde, große Einsamkeit: Ein vertrauter Wind griff meinen Schal und machte mit ihm, was er auch mit dem Rauch aus dem Schornstein des fernen Heizkraftwerks machte: Zog ihn zurück über die Gleise, und auseinander, und flach über die Stadt.

Ich strahlte, strahlte die Leute mit Rollkoffern und britischem Englisch und Wiener Deutsch an, die mir entgegenkamen; da war ich wieder, unerkannt, unter Fremden, auf der Brücke, ich konnte umkehren oder weitergehen, nach Kreuzberg und was danach kommt — jedenfalls Menschen in Türmen, Menschen in Türmen unter den Rauchfahnen der Heizkraftwerke und dem steingrauen Himmel Osteuropas.

Zwei Schritte zur Seite und hinaus aus der unverbrüchlichen Betriebsamkeit der Brücke standen kalte Fahrzeuge zwischen der Fassade des letzten Wohnblocks und der Mauer zu den Gleisen hin. Hier sollte ich nicht sein, hier hatte ich nichts zu suchen, hier gab es nichts zu tun und nichts zu nützen, hier wohnte man in billigen Neubauwohnungen oder war woanders. Ich war da, weil ich zu Fuß ging, an der Bahn entlang immer ungefähr auf das riesige Hellweg-Schild über den Ruinen zu.

Das irrationale Element, das mich hergebracht hatte, auf die Brache zwischen Reste von Eisenbahn-Betriebsgebäuden und Parkplätze und zerschlagene Gehsteigplatten, war eine minimale ästhetische Regung: Es genügt, zur Miete zu wohnen und die Fenstergriffe, die der Vermieter eingebaut hat, für scheußlich zu halten. Entweder man besitzt seine Immobilie und wählt die Fensterbeschläge beim Kauf der Fenster selbst, oder man mietet und nimmt hin. Wer mietet und trotzdem Fenstergriffe kaufen will, verlässt das Reich des rationalen Konsums und endet so folgerichtig wie freiwillig in den toten Zonen.

Verfall ist nur ein leichtes Nachlassen unserer Aufmerksamkeit, kleine Freiheiten der Welt, wenn wir nicht hinsehen, oder für einen Moment die Hysterie nicht aufrecht erhalten können.

Ein Außenposten der anderen Seite, wo wieder Stadt ist: Eine Aldi-Blase, begrenzt durch die großzügige Willkür der Parkplatzeinfriedung. Dahinter: Schutt und eine Ruine, stählerne Treppen und Scherben.

Die Rückseite des stillgelegten Heizwerks, die Feuerwache im Halbdunkel, Laub auf den Gehsteigen, Zufahrten und Rampen, längst durchlässige Absperrungen mit rotweißen Bändern in Fetzen, Bäume ohne Zukunft und Fahrzeuge mit Werbung, die Auskunft über die Leben ihrer Besitzer geben. Ein Essen-Auf-Rädern-Auto stand dort, das mir einige Tage zuvor viel weiter im Norden aufgefallen war. Dann das groteske Portal des Verlagshauses des Neuen Deutschland. Wind, steinerne Wolken, Halbdunkel, leere Stadt voller Menschen.

Schließlich der charakteristisch jähe Übergang zwischen Zone und junk space — eine „Möbel-Oase“, ein Baumarkt. Dazwischen, eingefasst von drei fensterlosen Hallenwänden, im Licht mehrerer Halogenstrahler: Ein Beach-Volleyball-Feld mit blutenden Farben, die schwarzen Feldbegrenzungsstreifen flatterten im Wind, wo sie nicht im Sand festlagen.

Bei Hellweg: Weihnachten. Blaue LED-Sterne über dem Eingang, leuchtende Weihnachtsmänner in den Fenstern. Überraschend die Wärme im Innern, das Licht, eine freundliche alte Berlinerin am Informationsstand, ein junges Paar mit Spanplatten und Farbe. Schöne Fenstergriffe gab es selbstverständlich nicht. Ich schlenderte durch die Gartenabteilung: Palmen, Übertöpfe in allen Farben, kleine Igel aus Ton und Zimmerbrunnen mit LED-Beleuchtung. Leise summten die überlasteten Generatoren für das Baumarkt-Illusionsfeld.

Erst der Ostbahnhof war wieder stabile Realität, ein flackernder Vorraum, einige Stufen, die niemand so geplant hätte, und ich war zurück in der Stadt. Dem Hellweg räume ich an diesem Standort keine langfristigen Chancen ein. Zu nahe am Abgrund.

Link | 15. November 2008, 21 Uhr 09 | Kommentare (2)


Am Horizont Höhenzüge des Harzes

Link | 15. November 2008, 18 Uhr 04 | Kommentare (2)


Ein Schrei, der am Frankfurter Tor, genauer: an der Fahrradampel auf der südlichen Seite der Kreuzung Warschauer Straße/Frankfurter Alle zu hören war, markierte den Beginn seiner Existenz: Es schrie bestialisch, einen langgezogenen, hellen, wütenden Schrei, vielarmig reckte es sich und kämpfte sich in die Materie hinein, stieß und schlug um sich, drängte sich zwischen die Benzingerüche, schüttelte Luft und die Schläfrigkeit des Nichtseins wie Spinnweben und Schleim ab und landete schließlich einen dröhnenden versehentlichen Schlag gegen den Ampelmast — was ein erneutes, wütendes Geheul zur Folge hatte. Kaum entstanden, wischte es zwischen den Türmen des Frankfurter Tors hin und her, mehrfach, in großer Geschwindigkeit und in hohem Maße aggressiv. Eine der Scheiben am südlichen Turm verließ, in einer erschrockenen Seitwärtsbewegung, ihren Platz und löste sich im Fallen langsam in Scherben auf; derweil saß das Ding auf dem nördlichen Turm, reglos, bis auf ein falkenhaftes Rucken mit dem Kopf. Schließlich ließ es sich hintüber fallen und verschwand im Nordkiez.
Ich rief den Schriftsteller und Religionswissenschaftler Anselm Neft an, der mir die Nummer eines Potsdamer Dämonologen gab, dessen Namen ich nicht nennen soll. Der Mann sprach (so hoffe ich) durch einen Scrambler, und was er mir erzählte, klang nicht eben so, als sei Gentrifizierung in der nächsten Zeit das dringendste Problem der Gegend.

Link | 8. November 2008, 21 Uhr 14 | Kommentare (8)


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