Vigilien

is there any any? nowhere known some?

diese Regentage Anfang Juni
ein Aufstöhnen unter der ersten Berührung des Sommers
zärtliche Begehren der Barockschlösser
die sich in ihre Parks hineinwerfen wollen

Zeiten unbeschränkter Großzügigkeit
in denen jeder geliebt werden könnte
für nichts weiter als seine Anwesenheit
in diesem offenen Strom aus Lust und Marmor

in dem unruhige Rinnsale über den Stein tasten
und sprühende Böen ins Laub der Pappeln schlagen
gekieste Wege knirschen und nicht hinausführen
aus dem Garten, nur immer zurück.

Link | 31. Mai 2009, 9 Uhr 33 | Kommentare (4)


Die Ironie der Singularität: Unser Wunsch, die moralische Verantwortung für die Technologie, die uns seit ihrer Entfesselung quält, abzugeben, wird nie erfüllt werden: Auch wenn die Systeme die Fackel endgültig übernehmen, entschulden sie uns nicht. Sie interessieren sich nicht für Schuld, sie haben keinen Begriff davon. Schon jetzt lassen sie uns ratlos zurück, während sie über den Planeten toben: Sind wir an alldem noch schuld, oder, schwieriger, ist jemand an alldem noch schuld?

Link | 24. Mai 2009, 10 Uhr 57 | Kommentare (1)


Sehr gerne bringe ich ja Menschen in der S-Bahn dazu, sich zu küssen. Die Übung geht so: Sie liest ihm, der eine Hand auf ihrer Schulter hat, etwas vor, offenbar liegt ihr daran. Sie unterbricht sich, sieht auf, schaut ihn an, echauffiert sich, bemerkt meinen Blick, geht zurück zum Text, liest weiter, sieht wieder auf, er nimmt seine Hand von ihrer Schulter und macht eine väterliche Geste, tätschelt beruhigend und wohlwollend ihren Kopf. Das ist der Moment: Die Miene, die es jetzt aufzusetzen gilt, muß wissend-amüsiert-missbilligend sein. Auszudrücken ist: Schon klar, der nimmt dich nicht ernst. Daraufhin passieren zwei Dinge: Ein extrem kurzer dankbarer Blick, der sofort zurückgenommen wird, und dann küsst sie ihn. Jedesmal, in allen vergleichbaren Situationen, in denen ich das ausprobiert habe, küsst sie ihn sofort.

Link | 23. Mai 2009, 16 Uhr 54


Die Pappeln, die Fabrik, die durcheinanderstiebenden Pappelschneefusseln und die gerade noch erkennbare Parallelbewegung in der Atmosphäre, ein Bild von fast unerträglicher Leuchtkraft.

Link | 23. Mai 2009, 10 Uhr 51


Wenn ich zugeben dürfte, daß ich das selbst gerade gesehen habe, würde ich Sie jetzt auf etwas sehr Schönes hinweisen.

Link | 22. Mai 2009, 22 Uhr 26


Die braun/orange 2/3-Welt ist eben viel angenehmer als die blau/weiße 2/5-Welt, in der alles so scharfkantig und hellerleuchtet und grade ist.

Link | 21. Mai 2009, 16 Uhr 19


Liebe Grüne Partei,

eigentlich bin ich Euer Mann. Ich komme aus Biberach, und als Gymnasiast habe ich ein paar politische Aschermittwoche miterlebt. Es bestanden damals keine Zweifel, daß Ihr die Guten wärt.

Ich war sogar für die 5 Mark pro Liter, eigentlich bin ich es immer noch, obwohl ich nie besonders grün war. Ihr wart die Guten, nicht wegen einer moralischen Überlegenheit in der ökologischen Frage, sondern wegen einer moralischen Überlegenheit im politischen Betrieb. Man nahm Euch ab, daß bei Euch weniger gelogen wurde als anderswo und daß das Bemühen echt war.

Ich hatte Euch viel zu verzeihen, nachdem ich Euch mit meiner jungen Stimme gewählt hatte. Ich habe Euch sogar den Kosovokrieg verziehen, in den Ihr unerfahren hineingeraten seid und über den Ihr nicht ehrlich gesprochen habt — ich habe damals gegenüber Leuten, die mutig genug für eine Totalverweigerung waren, diesen Krieg verteidigt, mit Argumenten, die sich hinterher als Propagandalügen entpuppt haben. Macht Euch das klar: Ich habe Euch vertraut und mich und meine Rede in großes Unrecht gesetzt, weil Ihr so besoffen wart vom Weltgeschehen, in dem ihr plötzlich stecktet. Ich habe Euch das verziehen. Ich habe Joschka Fischer verziehen, daß er sich benutzen ließ, einmal mehr habe ich ihm das verziehen, weil er wenigstens klug war. Ich habe Euch jeden Kompromiss verziehen, weil ich weiß, daß das Wünschenswerte und das Mögliche viel weiter auseinander sind, als in der Öffentlichkeit zu besprechen ist. Ich habe Euch sogar das Dosenpfand verziehen, aber es fiel mir schwer — nicht, weil es unbequem ist, das wäre mir gleich, sondern weil Ihr naiven Trottel es fertig gebracht habt, daß sich das Durchwühlen von Mülltonnen in Deutschland lohnt. Die Würde des Menschen, liebe Grüne, ist nichts, was jeder selber schützt und im Zweifel das Verfassungsgericht, zu schützen ist sie nur über die ökonomischen Bedingungen, unter denen sie sich zu behaupten hat. Ihr verdammten Trottel. Aber ich habe es Euch verziehen. Ihr wart halbwegs aufrecht trotz allem, und Ihr war bessere Sozialisten und bessere Demokraten als die Sozialdemokraten und Ihr wart viel bessere Liberale als die Liberalen: Das genügte mir. Ob ihr bessere Christen als die Christdemokraten wart, weiß ich nicht.

Aber jedesmal, jedesmal wenn ich Euch seither wählen wollte, habt Ihr irgend etwas kolossal blödes gemacht kurz vorher, und ich musste mich wieder enthalten.

Diesmal also „Wums!“ Liebe Grüne Partei, das ist infantil, und das wisst Ihr. Ihr denkt vielleicht, das sei so lustig und spontan wie mit Turnschuhen in den Bundestag zu gehen, aber erinnert Ihr Euch, wer das gemacht hat? Habt Ihr nicht dreissig Jahre gebraucht, um zu lernen, daß Joschka Fischer alles mögliche war, aber nicht lustig und spontan? Liebe Grüne Partei, hör auf mich anzugucken wie ein getupftes Rehkitz mit Schluckauf.

Ich habe Euch Oswald Metzger verziehen, und Ihr kommt mir mit Wums? Fahrt zur Hölle! Wieder kriegt Ihr meine Stimme nicht.

Link | 17. Mai 2009, 14 Uhr 49 | Kommentare (6)


Oh wunderbare Welt hinter dem Ereignishorizont der Biederkeit: da stellt sich jemand auf die Bühne und referiert Schablonen des Andersseins — einen Rat zur gelegentlichen Atempause, zur Nichtbeteiligung am Lifestyle- und Erfolgskampf, zum nachsichtigen Urteil über die Mitmenschen, eine Immunität gegen Marketingversprechen, ein Plädoyer für die einfachen Dinge, kurz, die ganze erzreaktionäre Claudiarothblümchenscheiße — und erntet frenetischen Applaus für einen nachdenklichen Text. Ebenfalls eine Errungenschaft, dieses packaging des Systemzweifels, das Mit-Ausliefern einer Sprache des Ennui, abrufbar für den kurzen Grusel vor der eigenen von Vorabendfernsehen und Neon geformten Gedankenwelt; dieser monströse larmoyante Dissenskonsens.

Link | 16. Mai 2009, 15 Uhr 13 | Kommentare (3)


Das laubenhaft In-sich-Ruhende der Badezimmerpflanze; wie ich mir denke: Jemand könnte gedankenverloren durch diese Farnblätter gefahren sein beim Blick in den Spiegel, weil so etwas beim Nachdenken hilft. Aber die reglose Pflanze verrät nichts davon, und so muß ich mich verlassen auf mein Wissen, daß in meinem Badezimmer ganz allgemein selten nachgedacht wird.

Das Erwachsenenleben ist ein Prozess zur Vermehrung unverbindlicher Höflichkeit: Wenn alle so leben, daß die verbliebene Art, sich zu begegnen, die periodische Sitzparty und das Mittagessen unter arbeitenden Menschen ist, ist es einfach grob, sich auch dem noch zu entziehen, zumal man sich ja wirklich mag — die Zahl der Menschen, zu denen man diese Art Kontakt pflegt, steigt; gleichzeitig fallen die Mitstreiter um Intensität aus: Weil sie erfolgreich sind und in intensiven, d.h. immer auch exklusiven, Kontexten ankommen; oder weil sie aufgeben und einfach arbeiten und sagen, das sei genug.

Das ist das vielleicht Bemerkenswerteste am Gegenwartskapitalismus: Daß er eben diejenigen von uns zu seiner Avantgarde macht, die Erfahrungen mit Intensität gemacht haben — längst umgekehrt sind die Verhältnisse des bürgerlichen Kapitalismus, in dem eine gesetzte Schicht von Zeitungslesern die Geschicke bestimmte und die Intensitätssuchenden zusammengekauert an Bahnhöfen saßen oder bestenfalls in der Kunst festgesetzt und eingehegt wurden.
Eine zusammengewürfelte Truppe aus Sublimierern, Punks, SciFi-Spinnern, aus der Akademie gedrängten Intellektuellen und manisch depressiven Narren treibt da den Kapitalismus voran und lässt sich augenrollend managen von einer Restexekutive der Beharrungskräfte des ehedem bürgerlichen Kapitals — während, als wechselseitig bedingte Entwicklung, Kunst und Politik intensitätsfreie Felder geworden sind, in denen Karrieren gemacht werden.

[audio:slow.mp3]
Link | 16. Mai 2009, 13 Uhr 07 | Kommentare (1)


Das ist wirklich so, Sie können alle Drangsale und Anfechtungen nehmen, Armut und Selbstzweifel und hässliche Unterwäsche — das spielt alles keine Rolle, Ihr Unglück bauen Sie am Ende aus Gewohnheiten. Auch wenn Sie reich sind und sich wohlfühlen: Sie haben es tausendmal falsch gemacht, einmal mehr ist verzeihlich; und so leben Sie dann.

Link | 16. Mai 2009, 2 Uhr 00


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