Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Der Südbahnhof, den ich mir nach Warnungen vor seiner undurchschaubaren Chinesischkeit als düstere koloniale Höhle voller Opiumdämpfe vorgestellt hatte, mit Hühnern und Garküchen und verwirrenden Ritualen, ist in Wirklichkeit ein im Jahr 1970 entworfener Raumhafen — und ein weiterer Beweis, daß es nur eine einzige Moderne gibt. Er spricht mit derselben Frauenstimme Englisch mit Robo-Akzent, die man von deutschen Bahnhöfen kennt. Die einzige unvertraute Praxis ist die Kontrolle der Fahrkarten in der Wartehalle, an einer Art Schleusen zu den Bahnsteigen. Ich beobachte einen Schichtwechsel: Sechs Zugbegleiterinnen in schwarzen Stiefeln und eng taillierten purpurfarbenen Mänteln nähern sich von draußen, im Glas, in drei lockeren Zweierreihen den Schleusentoren. Eine Hand gibt einen Code ein, fünf Sekunden Reglosigkeit, dann öffnen sich die Türen, und die Formation durchquert, im Gleichschritt, aber gelöster Stimmung, die Halle.

Gleich, weiß ich, wird das Eherne Gesetz dieses Bild balancieren, und tatsächlich: Als ich mich umdrehe, bekommt eine Polizistin in einem Bugs-Bunny-Kostüm unter großem Hallo eine rote Schärpe umgehängt.

Link | 26. Januar 2011, 1 Uhr 30


China ist das Land der Dynamik, Chinas Gemüt ist gesund. China ist der antimelancholische Ort, nur Europa schwelgt in Wehmut über seiner Geschichte.

Und dann landet man aus Versehen im Olympiapark in Peking. Über den leeren, von stilisierten Fackel-Laternen gesäumten Boulevard hallt die Lautsprecherstimme, die erst auf Mandarin, dann auf Englisch erklärt, daß das hier der Olypiapark sei, daß es auch ein Schwimmbad gäbe, und daß das National Convention Centre und das Intercontinental ebenfalls zum Park gehörten. Das Band wiederholt sich alle paar Minuten, dazwischen plingen ein paar sanfte Töne über die Flächen, auf denen fahl und flach eine Gerd-Ruge-Januarsonne steht, und davor das Stadion, in Bleibändern. Sonst ist es still und bitter kalt. Der „Versunkene Garten“, der die Eingänge zur U-Bahn, zu einem Einkaufszentrum, diverse Läden und die ein oder andere architektonische Extravaganza beherbergt, ist teilweise abgesperrt. Das Sicherheitsglas der Einfassung ist scheibenweise craqueliert, auf der Absperrung vor dem Geländer steht „Do not rely on safety“. Die Läden haben keine Fußböden und dreckige Scheiben.

Und dann: Das Xin’ao Shopping Centre. Der spukhafteste Ort seit sehr langer Zeit. Das unterirdische Einkaufszentrum ist riesig, vier Türen führen aus dem versunkenen Garten hinein. An einer davon knien zwei Männer und tauschen am Fußboden ein Schloß, eine zweite steht offen, die Flügel der dritten sind mit einem großen lila Fahrradschloß zusammengebunden. Drin eine Sicherheitsbeamtin, zwei Frauen mit breiten Mops, die den Fußboden rund um die Uhr so spiegelblank polieren, daß ich versucht bin, seine Rutschigkeit zu testen. Dann kommt ein meterlanger Rezeptions- und Infotresen, besetzt. Mehr Sicherheitspersonal. Irgend etwas stimmt hier nicht. Ein zweites Stockwerk, ein großes Atrium. Wieder Sicherheitspersonal, wieder Frauen mit Mops. Kein einziger der Läden ist vermietet. Jede einzelne der Glasfronten ist mit Folie abgeklebt, schön gestaltet. Auf den Folien sind Kinder und Blumen. Auf den Folien steht „Gifts“, „Fashion“, „Children“, „Playground“, „Dinning“ und „Coffee“. Im Wechsel. Schlucht um Schlucht: Diese Folien, Sicherheitspersonal, Frauen mit Mops. Dann zwei Menschen in Tierkostümen aus zerdrücktem Plüsch: ein Pandabär, ein Löwe. Ein junger Chinese drückt den Löwen. Eine junge, sehr schöne Chinesin lässt sich von ihrem Begleiter vor einer „Fashion“-Folie fotographieren. Zwei nicht abgeklebte Räume finde ich: Ein Multiplexkino, in dem drei Filme laufen, einer davon mit Pandabären. Sieben leere blaue Bildschirme, ein Pandabärenfilmbildschirm, eine Komödie, und ein Film, in dem Mongolen verhauen werden. McDonalds, schräg gegenüber, ist offen und gut besucht. Sonst nichts als Folien, Sicherheitsleute, Frauen mit Mops, Folien. Das Xin’ao Shopping Centre.

Zurück in der Kälte fallen mir die fingerbreiten Risse im Beton auf. Ich trete beim Spazierengehen Kunststoffbretter aus dem Bodenbelag, ihre langen Enden springen mir entgegen. Kein Zweifel: Ich befinde mich in einer zwei Jahre alten, spiegelblank gemopten, chinesischen Ruine.

Link | 24. Januar 2011, 10 Uhr 45 | Kommentare (2)


Wer, vielleicht qua Neigung und Lektüre, in seiner Jugend in eine Opposition zu den Verhältnissen gebracht ist und sich also als ein Fremder empfindet unter zum Beispiel den Karrieristen, die sich, gleich wie postmateriell sie sich selbst wähnen, für Autos, Kühlschränke, Fernseher und Titel doch wohl hinreichend interessieren müssen, um sie zu erjagen, wird mit der unvermeidlichen Pflicht, sich selbst zu versorgen, vor eine paradoxe Wahl gestellt: Zu seiner Selbsterhaltung kann er die Selbstvernichtung durch ökonomische Abstinenz wählen oder die Selbstvernichtung durch ökonomisches Handeln. Wählt er die ökonomische Abstinenz und versorgt sich nicht selbst, wird er arm sein, bitter, neiderfüllt, mit dem Luxus so unvertraut wie mit den herrschenden Praktiken der Welt, und weder teilhaben noch empfinden können: Nicht einmal ein Eremit wird er sein (es gibt keine Eremitagen, die er sich leisten könnte), sondern einfach nur eine traurige Gestalt, die mit den Jahren weniger und weniger begreift: Selbstvernichtung durch ökonomische Abstinenz. Handelt er dagegen ökonomisch und versorgt sich selbst, wird er von der Logik der Macht ergriffen, von der Rhetorik der Effizient, am Ende ist er vorgesetzt, was doch kein anständiger Mann erträgt, besitzt eine Salzmühle von großer Perfektion, und kommt nicht mehr zum Lesen: Er wird einer von ihnen sein, ohne als einer von ihnen genießen zu können.

Die paradoxe Wahl nicht treffen zu müssen ist der Sehnsuchtspunkt der Fremden in den Verhältnissen: Vertraut mit der Welt wollen wir sein, um sie zu spüren ohne Ablehnung, die uns vernichten würde, aber fremd in ihr: Unsere Fähigkeit, sie anders zu lesen, als sie selbst sich liest, vollständig intakt. Der Welt der paradoxen Wahl halten wir kalte Haltung entgegen: Wir gehen durch die ökonomische Abstinenz (falls wir sie wählten) oder durch das ökonomische Handeln (falls wir es wählten) kalt hindurch als gepanzerte Subjekte mit geschlossenen Visieren. Wir schauen durch Linsen, wir entscheiden, wann der Verschluß klickt oder offen bleibt, wir sind Sensoren, um nur auf keinen Fall Zahnräder zu sein. Unser Verhältnis zur Maschine ist alles in allem problematisch. Zu unseren Werten gehören Genauigkeit, Bewusstheit und Luzidität. Wir mögen Autoren der neuen Sachlichkeit. Musil, Jünger, Benjamin, manchmal Brecht oder (verspätet!) Arno Schmidt. Wir haben einen Narren am Bauhaus gefressen, seine Knochen liegen bleich vor den Türen. Wir haben Geschmack, der uns bewahrt vor den Irrtümern, der Partei „Die Linke“ oder den deutschen Fahrzeugmarken zum Beispiel. Die Obszönität der Bitterkeit stößt uns ebenso ab wie die Obszönität des Erfolgs, wir sind, mit einem Wort, vornehm, vornehmer als wir es uns leisten können. (Und wir verteidigen mit allen Mitteln in einer erbarmungslos lustigen Umwelt unsere Fähigkeit, nicht ironisch zu sein.)

Ich gehe durch den Tunnel zwischen den Bahnsteigen der U6 und U2 am U-Bahnhof Stadtmitte. Menschen, Menschen, Schritte, Harmonika. Die Hälfte der Decke entblößt rotlackierte H-Träger mit Nieten, schau hier, Geschichte, die andere ist mit gebürstetem Edelstahl, Lieblingsmaterial der Modernitätsspießer, belegt. Ich bin nicht sicher, ob es noch etwas wahrzunehmen gibt, in dieser Stadt. Ich erreiche den Punkt, auf den die Linien des Tunnels zwischen den beiden Bahnhöfen Stadtmitte zulaufen. Ich bin nicht sicher, wovon das die Mitte ist. Ich bin nicht sicher, wo die Mitte von irgend etwas ist. Ich bin nicht sicher, ob ich statt dieser Stadt die Stadt Shanghai beobachten müsste, eine kommende, noch gar nicht recht existente Stadt, oder New York, eine Stadt, die sich gerade an die Anwesenheit von Geschichte gewöhnt, oder Dubai, oder, nun, man muß sich dran gewöhnen: Shenzhen — oder spielen die Türme gar keine Rolle? Ich mißtraue den großen Narrativen von Veränderung, der China-Erzählung, der Netzerzählung, der ökologischen Erzählung, ich frage mich: Solange niemand sich einen Menschen ausdenken kann, der diese Welten bewohnen soll, einen überzeugenden Typus, der eine Kontur hätte, muß mich das alles kümmern? Sicher ist, Berlin beginnt mich zu langweilen, das Gentrifizierungegeschwätz ist nicht zu ertragen, dieser Megadiskurs zum Thema Holzspielzeug und Pastinaken, contra oder contra, und wer darf dagegen sein?

Wir vermeiden die paradoxe Wahl als Figuren, Projektionen souveräner Individuen, aufmerksam, mit weit geöffneten Augenschleusen, durch die der kalte Strom der Dinge die stahlglatten Pfeiler unseres Bewusstseins umspült. Wir mißtrauen den Wertsystemen der Wärme, dem Hippietum und der Welt des Mittelstands der Mittelstädte.

Aber: Ein Raum, dunkles Parkett, Teppich, ein Spiegel. Gesprungener, stellenweise fehlender Putz. Bücher, draußen der Baum und drei nasse Katzen. Die andere Welt, der Teil unter dem Bruchstrich. Dämmernder Ort der Nichtteilnahme, Syberbergs Bayern —

Erhebet ein Zwist sich,
So stürzen die Gäste,
Geschmäht und geschändet
In nächtliche Tiefen,
Und harren vergebens,
Im Finstern gebunden,
Gerechten Gerichtes.

— die andere Welt, der Dimension der paradoxen Wahl entrückt, in der der Tod denkbar ist (Ruhe soll sein dann, und was soll dann mich schrecken?), wo ein Hahn silberhelles Wasser auf ein Blech tropft, weg flattern die Tropfen im Wind, oder —

Listen. It is night in the chill, squat chapel, hymning in bonnet and brooch and bombazine black, butterfly choker and bootlace bow, coughing like nannygoats, suckling mintoes, fortywinking hallelujah; …

— die andere Welt, in der wir stundenlang hier verharren, wartend auf die schweren Güterzüge, deren Donnern für Sekunden jede Gegenwart verschlingt, bevor das Rauschen der Auen wiederaufsteht hinter uns, und der Fluß vorn sich seines Geräuschs erinnert.

Einsturzgefahr:
Das Schloß Charlottenhof
— Siam —
ist einsturzgefährdet.
Ein Hinweisschild weist darauf hin
Hier sollten Sie nicht sein
Und wenn Sie doch hier sind
rechnen Sie
mit dem Einsturz.

Link | 16. Januar 2011, 23 Uhr 28 | Kommentare (10)


Nachts, wenn ich durch die Wohnung gehe und das Licht lösche, bleibe ich vor den Büchern stehen und lausche ihrem Schweigen. Sie erinnern sich.
Ich öffne Facebook, ein bleiches hundertstimmiges Gelächter: ha ha ha.

and you know that most of the people laughing on that box
died long ago
now think when you see your next sitcom
and you hear those merry peals of laughter
echoing out of the graveyard

Link | 11. Januar 2011, 0 Uhr 28 | Kommentare (3)


Die Spürbarkeit von Bestimmung an Flußufern, der Sinn für Richtung, die beruhigend grausame Anwesenheit des Schicksals.

Link | 9. Januar 2011, 22 Uhr 30 | Kommentare (1)


Drei versprach interessant zu werden: Sophie Rois, Grund genug, sich jeden Film anzusehen, und Sebastian Schipper, der ja ein Kluger und Guter und Behutsamer ist, wenn er selbst schreibt: fabelhaft & Vorfreude. Allerdings führte der Tykwer Regie, und da stellte sich jetzt also die Frage, ob er die beiden wohl klein kriegen würde.

Erfreulicherweise ist es, glaube ich, höchstens unentschieden ausgegangen. Also erstens kriegt niemand Sophie Rois klein. Die kann ja den größten Blödsinn spielen und man wird immer noch gescheiter davon. Zweitens ist Pollesch in diesem Film, und alles mit Pollesch kriegt hundert Punkte. Drittens ein bisschen Sasha Waltz — ganz genau, so läuft der Hase. Man kann über den Tykwer viel sagen, aber daß er nicht weiß, wer hier die coolen Säue am Theater sind, das kann man ihm nicht unterstellen. Meistens sind es Leute, mit denen Sophie Rois gerüchteweise recht gut auskommt. Also: Behold! Schipper und Rois kriegen in Drei mit allerhand Verstärkung fast den Tykwer in‘ Griff.

Der Film ist das, was ich seit zehn Jahren Verlobefilm nenne: Ein Verlogener Berlin-Film. So ein Film, der in Berlin, manchmal Köln oder Hamburg spielt, meistens mit der Liebe zu tun hat, und in dem intelligente Menschen mit unwahrscheinlichen, aber sehr interessanten Berufen, in denen sie niemals richtig zu arbeiten scheinen, in riesigen und sagenhaft ausgestatteten Wohnungen fantastisch anzuschauende Leben haben, in denen dann so Probleme auftauchen, die aber nie richtig ernst sind, es ist alles eine Leichtigkeit vom Fluff. Am Schluß kriegen sie sich, aber Schnulzen sind diese Filme nicht. Verlobefilme. Kein Werturteil, gibts in hochsympathisch und als schlimmen Schrott. Erzeugen aber diesen urbanen Schlaf, in dem die Prenzlauerberger und Schanzenviertler wandeln: So wären sie wirklich, wenn sie nur nicht dauernd arbeiten müssten, niemals auf IKEA hereinfielen und Chemotherapien außer modischen Glatzen keine Auswirkungen hätten.

Drei ist etwas wie ein jäher Ausbruch der Verlobefilmhaftigkeit nach jahrelangem Stau, eine Potenzierung des Prinzips. Der ultimative Verlobefilm. Er spielt in Berlin. Tykwer macht ihn. Sophie Rois spielt mit. Sebastian Schipper spielt mit. Sie macht eine Fernsehsendung, in der der Pollesch auftritt. Er hat eine Firma, die für Künstler Kunst baut. Der Dritte „hat“ eine Biotech-Firma beträchtlicher Größe und Bedeutung. Die Wohnungen sind enorm und, sogar wenn sie karg sein sollen, schön. Die Menschen spielen Fußball miteinander und halten, natürlich, zu Union. Niemand arbeitet und langweilt sich. Niemand hat hässliche Gefühle. Kein einziges. Die allgemeine Liberalität strahlt wie tausend Sonnen. Gunther von Hagens macht interessante Ausstellungen, die ein bisschen grotesk sind, aber hey. Man fährt S-Bahn und ICE, man geht ins BE und in den Gropiusbau und in den Mauerpark und ins Badeschiff, die Stadt ist abgebildet, in dreissig Jahren werden wir sagen können: So sah das wirklich aus, dies Berlin, in das alle wollten.

Und dann kommst du aus dem Kino und im neuen Investorenscheiß am Hackeschen Markt hat grade ein Kamps eröffnet. Danke Berlin.

Aber es spielt keine Rolle. Wer hier mault, beschwert sich auch über die tollen Kleider in der Welt von In the Mood for Love. Also Klappe, prima Film. Man kriegt dasselbe Zeug in so viel schäbiger von Schweiger serviert (weil man sich die ganze Zeit sein Ding ansehen muß dabei) und sehr viel beckmesserischer von Dresen (bei dem sinds Warzen, wegen Kleine Leute). Dann doch lieber Tykwer.

Drei: Guckt mal, wie toll wir sind in diesem Berlin!
Ja, gern!

Link | 2. Januar 2011, 2 Uhr 57


Projekt für 2012: Verstummen / das Mitquatschen mit der Welt einstellen, die Konversationslecks stopfen, das maßlos vor-sich-hin-sülzende Verströmen von Konzentration endlich eindämmen: Die Frage nicht mehr vermeiden und das Warten lernen.

Link | 1. Januar 2011, 15 Uhr 02 | Kommentare (3)