Vigilien

is there any any? nowhere known some?

TRONTHAIM: Sinfonie der Großstadt.

Link | 23. April 2011, 2 Uhr 41 | Kommentare (2)


Ich bin ein Freund der Elektrizität, begeistert von Großindustrie, Feuer in der Nacht, glühendem Stahl und der Eisenbahn. Solche Vorlieben sind unpopulär geworden in Zeiten, in denen ein nachhaltiges, sanftes, von allen gefährlichen Kräften gesäubertes Hightech-Öko-Arkadien von Geißenmelkern und Pelletheizern die gängige Technologietranszendenzphantasie geworden ist — selbstverständlich, während die in die Ferne gerückte Industrie mit unvermindertem, nein gesteigertem Ingrimm Energien umsetzt und Waren ausstößt, denn: Die da vom Geißenmelken träumen leben in Großstädten und posten indeß ihre Tumblr voll mit Bildern unserer unbestreitbaren Glorie. Die Kraftwerke vor den Toren der Städte stemmen sich treu ins Netz, und niemals flackern die Schirme, auch die schäbigste Forumsrechthaberei halten sie unverdrossen in der Wirklichkeit, Stunde um Stunde: Das Internet bleibt an, im gewaltigen Sog der Öfen poltert weiter die Kohle ins Feuer, Meiler und Windräder tun ihren Dienst.

Ich bin ein Freund der Elektrizität. Meine Augen und Hände leuchten in der Nacht. Ich spüre Strom, wie andere Wärme spüren.
Manchmal spreche ich mit Getränkeautomaten.

Über Kernenergie kann man immer noch streiten. Die Verhältnisse sind immer noch weitaus weniger offensichtlich, als sie in der gegenwärtigen Stimmungslage scheinen. Tschernobyl und, bislang viel weniger dramatisch, Fukushima, belegen nicht, was sie in der aktuellen Erregung zu belegen scheinen. Das berühmte Restrisiko ist eben genau das: Ein Risiko, abzuwägen gegen Jahrzehnte von Wohlstand. Der erste Reaktor in Fukushima wurde 1971 in Betrieb genommen, dem Jahr, in dem Texas Instruments den Mikroprozessor patentierte und mit dem Intel 4004 der erste auf einem einzigen Chip integrierte Computer erschien.

(Diese Betrachtung ist zynisch gegenüber den Einwohnern der Zwanzig-Kilometer-Zone, die ihre Heimat verloren haben, uns allen anderen gegenüber ist sie es nicht. Wir haben Glück. Wir haben Strom und Gärten, in denen ungefährliches Gemüse wächst.)

Kernkraft könnte ihr Risiko durchaus wert sein. Zwei wirklich schwere Unfälle in diesen vierzig Jahren, davon einer durch das viertschwerste je gemessene Erdbeben, selbst unvorstellbar viel verheerender als die Folgen der Kühlungsausfälle an den vier beschädigten Reaktoren.

Der andere Unfall aber war kein gewöhnlicher Unfall. Tschernobyl ist gleichberechtigt einer der großen Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts, kein einfacher Industrieunfall mit gravierenden Folgen und vielen Toten. Im Sarkophag ruht keine havarierte technische Anlage, dort lodert ein Tor zur Hölle, der glühende Schlund, in den wir tagelang starren konnten. Die bisweilen lächerliche Obsession der deutschen Medien mit der Kernschmelze in Fukushima zeigte sehr deutlich, um was es in der Wahrnehmung der Fukushima-Katastrophe eigentlich ging: Die Frage, ob sich dieses Tor zur Hölle noch einmal auftun würde. Dieses betonrülpsende, ahnungslos weinende, Schaufeln tragende russische Männer zu tausenden verschlingende, in blassen Farben auf zerfallendem Filmmaterial tobende, einen schwarzen Partikelsturm von unsichtbar reinem Bösen ausströmende LOCH. Der kulminierte, in ein rasendes Graphitfeuer zusammengezogene, nukleare Leichtsinn des kalten Krieges: Das offenliegende Herz des Schreckens und der Name der namenlosen Angst der 80er Jahre.

Wenn wir über Kernkraft diskutieren, müssen wir eins zuallererst zugeben: Wir befinden uns in der Domäne unserer Ängste, jenseits der Risiken und Vorteile abwägenden Rationalität (wir könnten beides nicht seriös beziffern). Das ist legitim und keine Diffamierung der Gegnerschaft. Im Gegenteil. Ich, ein Freund der Elektrizität, aber auch einer, der 1986 sieben Jahre alt und auf den Anblick der Hölle nicht vorbereitet war, würde sie lieber heute als morgen abschalten: Diese fabelhaften, verrückten Kraftwerke, die mit fast nichts und ein bisschen Wasser Waschmaschinen treiben und das Internet, unser Exo-Nervenkostüm aus Elektrizität. Ich würde diese Dinger abschalten aus vollkommen irrationalen Gründen: Ich habe eins besucht.

Ich war in Gundremmingen, vor vielen Jahren. Die Präsenz der Reaktoren ist atemberaubend. Jeder Zoll Beton vibriert, die Gebäude sind umgeben mit den Auren der unvorstellbaren Energien, die dort umgesetzt werden, mit der Bewegung, die herrschen muß, um die Kräfte unter Kontrolle zu halten, mit der Rückabhängigkeit also von der Zivilisation, die von dort mit Strom versorgt wird — dreissig Prozent des bayerischen Bedarfs, aus zwei Maschinenhallen. Die technische Intelligenz, die sich über Jahrzehnte spannende Anstrengung der Infrastruktur, wird an diesen Orten gegen Elektrizität getauscht, es herrscht ein spürbar fragiles Gleichgewicht von verhaltener Brutalität. Die Reaktoren in ihren Betongehäusen sind böse, launische Augen in luziferischem Licht. Ihre Präsenz ist greifbar. Man will weg, nur weg, und irgendetwas tun, damit es aufhört, einen Starfighter draufwerfen, es wenigstens hinter sich bringen.

In Gundremmingen gibt es ein Informationszentrum, das so ist wie die Webseite des Kraftwerks: Rechthaberisch, kraftmeierisch, auftrumpfend. Mit diesem seltsamen blassen SIEMENS-Grün, das bedeutet, daß hier deutsche Ingenieure ihr Bestes geben. (Herrsche, wer da wolle.) Als ich dort war, gab es das Wort Brückentechnologie noch nicht, aber ich bin sicher, daß es jetzt auch dort aufgenommen ist und aufs Frechste impliziert, daß es Nicht-Brücken-Technologien gäbe: Es ist also schon fast ausgestanden, das Pelletheizungsnirvana erwartet uns unmittelbar. In dieser sanften Zukunft, wenn die nachhaltigen Technologien, die keine Brücken mehr sind und für immer bleiben, überall eingesetzt sind, wird die große Stasis erreicht sein.

Es ist leider schon wieder nicht so einfach. Nicht einmal mit der Kernkraft: Unsere Bedürfnisse prallen auch hier aufeinander, unsere zwei Naturen, die Frieden wollen und Vernichtung, Ruhe von uns verlangen und die Entfaltung von Kraft, den Stahlklang der Eisenbahn und die geriffelten Spiegelbilder von Schwänen und Stratocumulus in Quecksilber.

Sicher ist nur eins: Es gibt kein Zurück. Das grünkonservative Ideengebilde einer nachhaltig beheizten dezentralen Ewigkeit ignoriert nicht nur die Tatsache des Kapitals, sie ignoriert auch die Beziehung zwischen Kapital und Geist (deren Manifestation das Internet ist und die niemand mehr missen will). Die Sehnsucht danach ist nicht falsch, das können Sehnsüchte nicht sein, aber das Als-ob, das diese Zukunft für möglich annimmt, ist dumm oder unredlich. Dieser Planet ist auf dem Weg in eine rasende, atemlose, bioelektrische Zukunft, ein Crescendo, hinter das man nicht schauen kann, ganz gleich, ob wir unseren Ängsten folgen und unsere Kernreaktoren abschalten oder nicht.

[Stilübungen]

Link | 23. April 2011, 2 Uhr 23 | Kommentare (8)


Augsburg. Auf der Fahrt „Strahlungen II“, bis Dezember 43: Das zerstörte Hannover; die Hotels Majestic und Raphael in Paris und das dortige Dotter-des-Leviathans-Milieu, der tiefe Eindruck von unvermeidlichem Verhängnis, den die auch unter Beschuss wie auf Schienen ziehenden Bombergeschwader hinterlassen; die rohen Träume eines Toten. Zwischen Nürnberg und Augsburg schleift der Zug die Sonne über die Wälder, so tief und orange, daß man bloßen Auges bequem hinsehen kann. Die übliche Kette: Feuerball und Fusion, rund wegen Gravitation, Fragment einer gewaltigen Explosion, und dahinter eben nur noch: Diese ergreifende Ratlosigkeit. Selbst mit dem anthropozentrischen Argument: es müsste halt alles nicht sein. Es ist so unelegant, zuzulassen, daß ein Dreiunddreissigjähriger, der zu wenig schläft, in einem weißlackierten Stahltrog, der von fernen Windrädern und Kernspaltung durch die Landschaft gedrückt wird, so in die Sonne starrt und sich wundert. Das könnte doch weggelassen werden ohne Verlust, wozu der Aufwand, wozu diese endlose Ziselierung der Existenz; Multiversen und anthropozentrisches Argument geschenkt: Eleganter wäre Schwarz und Stille, warum dieses wilde Geschenk? Augsburg.

Augsburg ist nicht zerstört. Ich nehme ein Taxi, weil ich im Haus Sankt Ulrich wohne und die Frau an der Rezeption extra auf mich warten muß. Ich bin die einzige Anreise heute, die Rezeption ist nur bis acht besetzt, eigentlich, der Zug kommt aber erst zehn nach acht in Augsburg an. Ich bin mir sicher, daß mir verziehen werden wird, wenn ich ankomme. Die Leute an solchen Orten lieben mich normalerweise.

Das Haus Sankt Ulrich ist das Tagungshotel der Diözese Augsburg. Es atmet diese deutsche Mischung aus kühler Moderne, ruhiger Religiosität, großer Gemeinschaft und reichlichem Essen, und, in der ästhetischen Distanz zu Rom, Reformiertheit. Weiße Wände, lange Gänge, viele Türen, kräftige abstrakte Malerei, metallene, handwerkliche Kreuze über den Betten. Ein nüchterner Kamin und Sessel. Herzliche Leute. Ein Mann verstaut noch einen HILTI-Koffer hinter dem Tresen. Die Frau, die extra ihren Feierabend für mich verschoben hat, freut sich. Sie freut sich, daß ich da bin, daß ich mich bedanke, daß ich an ihren Feierabend denke, daß ich das tagesfrische Laub der Kastanie im Hof erwähne, daß sie mir Augsburg erklären darf, daß mir das Haus empfohlen worden ist. Sie freut sich nicht aus Hotelfachschulgründen, sondern wegen mir.

Man vergisst immer, daß Städte wie Augsburg real sind. Sie werden nicht abgeschaltet, wenn niemand aus Berlin oder Taipeh zu Besuch ist. Die sind hier immer, jeden Sonntagabend: Diese Häuser. Die Frauen mit Schuhen und Mackern, aber auch die lässigen Frauen in breiten Jeans, die erst weggucken, wenn wir schon aneinander vorbei sind. Das Gruftipärchen mit der Bierdose, denen ich am liebsten versuchsweise No tears for the creatures of the night zurufen würde. Ich bin neidisch auf ihr intensives Aussenseitertum in einer kleinen Mittelstadt, ihre Nachmittage in Zimmern mit schrägen Decken und den Lakaien, ihre Abende am Wasser. Hinter ihnen das spektakuläre dunkle Tropenholz-und-Chrom-Apothekeninterieur, das hier eben nicht wegverbessert wurde. Die Steakhouses, die Straßenbahnen, die Bars, die Kirchen. Das Ligne Roset-Geschäft. Der Moritzpunkt, wo man auch in die Kirche eintreten kann. Ich habe Lust, in die Kirche einzutreten, bin aber nie ausgetreten (meine stille Rache an Leuten, die es wegen Geld tun). Vier BMW Z4 in verschiedenen Farben nebeneinander. Der Tesla Roadster vor der Eisdiele. Die Gymnasiasten in der Eisdiele. Die drei Zausel mit Gitarre vor dem Rathaus. Zwei Buchläden, und die Fürst Fugger Privatbank. All das ist echt, unglaublicherweise, eine lebende ökonomische Einheit, vielmehr: das ist eine lebende ökonomische Einheit, Berlin eben nicht. Vor den Türen der Basilika, die weit offen stehen und in den halbdunklen Sonntagabend hinausstrahlen: Eine große raunende Menschenmasse, die sich langsam zerstreut. Die Altstimme, sagt der Mann zu seiner Begleiterin, die ein Tuch um die Schultern trägt, auf dem Weg zum Auto, in einer Gasse, war etwas dünn, aber ja auch fast nicht eingesetzt. Sonst war es doch schön! Ich überhole, damit die beiden sich nicht beunruhigen müssen wegen der einsamen Schritte hinter ihnen, und schaue den Bewohnern der Gasse in die Fenster. Ein Frauenportrait, zwei Biedermeierschränke, farbige Tischtücher, Obst. Auf den Fenstersimsen Gegenstände aus Draht und Prismen und groben Stoffen. Tröste Dich Europa, Dein Name wird unsterblich sein.

Link | 17. April 2011, 22 Uhr 51 | Kommentare (3)


Der Mann stand hinter der Hecke und stocherte mit einem Spaten in einem kokelnden Haufen aus abgefallenem Laub und dürren Ästen. Unter dem durchsichtigen Himmel stieg eine dünne Rauchsäule auf. Die Gegend war verrottet, und das Gartentor hing in den Angeln, ohne daß eine Gartenanlage wenigstens in verwüsteten Überresten zu erkennen gewesen wäre. In der Ferne lief ein Hündchen kläffend um eine Rübenmiete, die sich gegen den Horizont abhob als ein riesiger, nach Jauche stinkender Wall. Vor der Hecke radelte eine Frau vorbei, die Speichen glitzerten im Kreis, und die Frau trug ihre Schuhe.

Undine Gruenter, Epiphanien, abgeblendet.

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Years later, when he pressed his supposed father for money to cover his gambling debts, he discovered to his delight that he had more exotic origins. His real father was George Bruce, a soldier who had sex with his mother, Mary Grace Horn, under a tamarind tree after a regimental ball.

John Aspinall, Gambler and Zoo owner, Dies at 74

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Nizokonai Song

Link | 12. April 2011, 21 Uhr 18


Das ist der eigentliche Maßstab unseres Wertes: das Wachstum der anderen durch unsere Liebeskraft. An ihm erfahren wir unsere Schwere und auch das fürchterliche »Gewogen, gewogen und zu leicht befunden«, das uns im Versagen deutlich wird.
Es gibt ein Sterben, das schlimmer ist als der Tod und das darin besteht, daß ein geliebter Mensch das Bild, mit dem wir in ihm lebten, in sich abtötet. Wir löschen in ihm aus. Das kann durch dunkle Strahlung kommen, die wir senden; die Blüten schließen sich leise vor uns zu.

(EJ, Paris, Februar 1943, Strahlungen II)

Link | 6. April 2011, 0 Uhr 01 | Kommentare (3)


Ein hellroter Schweinestall steht am Teich. Versammelt haben sich dort die Gänse, eine kleine Gruppe weißer, eleganter, porzellanglatt aussehender, durcheinanderlaufender Vogelkörper. Links stehen, zwischen zwei Eschen und einem im Efeu untergehenden Zaun, Klappstühle auf dem Hof. Durch eine Reihe geöffneter Fenster kann man vom Weg aus in die Gasträume sehen, einen langen, lichtdurchfluteten Raum, ordentliche Holzmöbel, rotweiße Tischdecken. An mehreren Tischen sitzen hübsche, vierzigjährige Mädchen, trinken Milchkaffee und unterhalten sich leise.

Link | 5. April 2011, 23 Uhr 59 | Kommentare (3)