Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Ich kann mir leicht eine Welt denken, die aufgeladen ist mit Bedeutung, in der der Weg an einem Gebirgsbach entlang, auf eine Sägmühle zu, gegangen werden muß in einem Nebel, der aus der Schwärze der Tannen fließt, und der den Tag unbequem und kalt macht und die Phantasie beschäftigt mit der Flammenwärme des Lichts in der Mühle oder später woanders. Diese spezielle bedeutsame Welt besteht aus zwei Gefällen: Dem tröstlichen Zuhausesein, das einer unwirtlichen, aber schönen Situation folgt, und der Entfernung dieser einsamen Situation von der ganz und gar aus sozialen Beziehungen bestehenden tatsächlichen Gegenwartssituation: In der Stadt, in einem postindustriellen Arbeitsleben.

Betreten kann ich diese bedeutsame Welt, obwohl sie leicht denkbar ist, nicht. Sie ist bedeutsam, weil sie einsam ist: Ihre Bedeutung entsteht beim Verstreichen innerer Zeit vor diesem Bild, in der Freiheit der Aufmerksamkeit, in der nicht gestörten, nicht überlagerten, zu nichts aufgeforderten stillen Zwiesprache mit den schwarzen Tannen (der nächtlichen Steilküste, dem stumpfen Turm im Morgengrauen, undsoweiter). Diese grundsätzliche Einsamkeit des Wahrnehmens ist nicht zu hintergehen, vor allem aber ist sie nicht teilbar: Im Berufsleben eine lächerliche Schwäche, privat ein Affront.

Es ist ja nicht wahr, daß die Menschen verlernt hätten in der Entwicklung des Kapitalismus, miteinander umzugehen: Das Gegenteil ist der Fall. Das Arbeitsleben besteht aus nichts als menschlichen Beziehungen. Die Stunden im Büro verbringen wir damit, Ziele zu erreichen durch Menschen hindurch. Sind wir dabei erfolgreich, liegt es daran, daß unsere Affekte sich mit unseren Zielen verbünden konnten, denn in dieser Konstellation steht uns das ganze Arsenal des Menschlichen zur Verfügung. (Ich spiele nicht, daß ich wütend bin, wenn etwas nicht klappt, ich bin wirklich wütend auf den Kollegen, den ich auch wirklich mag.) Das Erstaunlichste an diesen echten Beziehungen des Arbeitslebens aber ist, daß sie, mit einem wissenden freundlichen Lächeln, jederzeit suspendiert werden können: Man kann den einen „sozial kompetenten“ Menschen durch einen anderen ersetzen, „rausrotieren“, wie wir sagen. Das ist Teil unserer Professionalität und geht, weil die Beziehung durch und durch menschlich und echt, aber funktional gefasst und präzise benennbar ist.

Diese Benennbarkeit der Rollen zueinander ist auch im Privaten üblich geworden. Freunde erfüllen Freundesfunktionen, wir kennen den Unterschied zwischen Affairen, Liebesbeziehungen und Ehen. Man einigt sich, man verhält sich entsprechend. Eine Beziehung, die so und so heißt und in der dies und das nicht passiert, wird „dysfunktional“ genannt von professionellen Technologen der Zwischenmenschlichkeit.

Beiden Sphären gemeinsam ist die Tendenz zur Totalität. Das Kapital will natürlicherweise immer mehr von mir. Es stellt mir täglich die Frage: Kannst du noch ein Interface mehr bedienen, eine weitere funktional-soziale Beziehung unterhalten, mehr kommunizieren, kann mehr von Deiner Person eingebracht werden ins Ganze und benutzt werden von den anderen?

Und per hergebrachter Vereinbarung füllt das Private den verbleibenden Raum vollständig: So war das, im Bürgertum. Es gibt kein Drittes, es gibt das Öffentliche und das Private. Man kommt von der Arbeit in die Familie, den Schutzraum für all die Regungen, die in der Öffentlichkeit Schaden nähmen oder nicht duldbar wären.
Nur ist es ein Schutzraum aus Papier geworden ohne die alten Verbindlichkeiten. Private Beziehungen sind so erwartungsbesetzt und funktional wie die Beziehungen draußen, die Forderung nach Vollständigkeit aber ist geblieben (gib mir alles, was das Kapital übrig lässt von Dir).

Wir stehen alle unter diesem Streß: Es müssen eine Menge Beziehungen gemanaged werden, und sie wollen total sein, es muß herausgeholt werden aus den Anderen, was sie zu bieten haben, es hat, gefälligst, zu knallen! Wir müssen dann eben die richtigen Prioritäten setzen. Nur kommen wir nicht dazu, das alles zu verstehen und auszufühlen.

Die bedeutsame Welt, die ich mir ausdenken kann, ist einsam und langsam: Sie ist bedeutsam, weil ich in ihr zum Nachdenken komme und das Versinken in ihr erlaubt ist. (Die Tannen denken nicht: Er betrachtet einen Stein; kann ich mir leisten, auf einen zu hören, der einen Stein betrachtet? Die Tannen fragen nicht: Du bist so schweigsam, sind wir Dir nicht amüsant genug?)

Was nicht bewusst gemacht wird, kehrt als Schicksal wieder — es wird eine Menge Schicksal geben, wenn das so weitergeht mit dem Leben in den Städten.

[wenn Du sagst daß Du so viel kommunizierst]

Link | 30. Oktober 2011, 15 Uhr 58 | Kommentare (5)


Auf der anderen Seite ein Tag, in den man bis um elf hineinschläft, um dann eine halbe Tafel Milka im Bett zu frühstücken. Die Dusche, die in der Küche eingebaut ist, ein elektrisch surrendes lauwarmes Rinnen. Auswärts essen: Gulasch oder Schweineschnitzel. Kartoffeln. Grafiken von Moholy-Nagy. rororos mit Eselsohren. Frösteln auf ochsenblutroten Brettern, das Knistern eines Elektroofens. Eine aus zerschnittenen Weinkorken gebastelte Pinnwand. Flaschen. Reclamhefte. Eine graue Kunstoffbox mit Dias. Draußen ist das Kino und die Milch. Ein Tag in der Bibliothek vielleicht. Ein windiger Tag, ein Herbsttag, kühl, aber noch hell.

Link | 20. Oktober 2011, 9 Uhr 15


Also nehmen wir für einen Moment an, es sei etwas dran an Sebalds Wort von der im Gleichmaß mit der Proliferation des Informationswesens fortschreitenden Auflösung unserer Erinnerungsfähigkeit, nehmen wir weiter an, Dietmar Dath habe, wie es vorkommt, Gründe, wenn er hinsichtlich des Zustands der historisch ja unbestreitbaren Beziehung zwischen Dichtung und bürgerlicher Weltgestaltung die Frage stellt, ob ein Bürgertum soweit herunterkommen kann, daß es nicht einmal mehr imstande ist, damit noch etwas für sich zu reissen — weil es diese Dichter nicht mehr versteht! die für es gearbeitet haben. Nehmen wir an, das ja in diesem Zusammenhang nicht nur von offenbar Peter Hacks, sondern prominent auch von Umberto Eco antizipierte Neue Mittelalter sei eine strukturelle Möglichkeit, die in der Gegenwart angelegt wäre, und stellen wir fest, daß all dies vor zehn, zwanzig oder mehr Jahren schon gedacht wurde immer unter diesen sozusagen umgekehrten Vorzeichen, die sich im Augenblick ja ausprägen: Wie sähe denn ein Kloster in diesem neuen Mittelalter aus?
Es müsste ja, so scheint es, nicht die Schrift bewahren, die sich diesmal selbst bewahrt und überall hin kopiert in ihrer digitalen Ubiquität, es müsste die Leser bewahren, ihre Lesefähigkeit hinter Mauern verstecken und ihre Empfindlichkeit schützen vor den barbarisch draußen wütenden Mechanismen der Gewalt.

[nb: Für die genannten Sozialisten, die das Mittelalter durch die Brille der Aufklärung lesen, erscheint es bekanntlich dunkler als es gewesen sein muß — aber was hell war an ihm, soviel kann man vielleicht sagen, war selten draußen.]

[Auch: Wie alt die im Publikum dieses Vortrags alle sind.]

Link | 17. Oktober 2011, 0 Uhr 39


… And so I long for snow to
sweep across the low heights of London
from the lonely railyards and trackhuts
– London a lichen mapped on mild clays
and its rough circle without purpose –
because I remember the gap for clarity
that comes before snow in the north and
I remember the lucid air’s changing sky
and I remember the grey-black wall with
every colour imminent in a coming white
the moon rising only to be displaced and
the measured volatile calmness of after
and I remember the blue snow hummocks
the mountains of miles off in snow-light
frozen lakes – a frozen moss to stand on
where once a swarmed drifting stopped.
And I think – we need such a change,
my city and I, that may be conjured in
us that dream birth of compassion with
reason & energy merged in slow dance.

(Fragment, Stephen Watts)

Die ersten Tropfen fielen auf der Auffahrt zu einer mächtigen elevated road irgendwo im Süden der Stadt, die meinen fusselbärtigen Fahrer mit den gepflegten, zentimeterlangen Nägeln und mich zurück in die Innenstadt bringen würde. Beim Erreichen der Hochstraße schon hatte sich der Regen so weit gesteigert, daß die Fahrbahn kaum noch zu sehen war und das Wasser links und rechts in glatten, flächigen Stürzen von der Straße auf die Balkone und Höfe der Stadt hinabzufließen schien. Für die ganze Dauer der Fahrt ließ das Gewitter nicht nach, und die von mir und den Bewohnern seit Tagen durch- und durchgeatmete Feuchtigkeit fiel in einem unübersichtlichen Platschen auf die Stadt zurück. Ich gab meinen Plan für einen Spaziergang auf, ließ mich ins Hotel bringen und installierte mich, zufrieden vor diesem erstaunlichen Regen geflohen, in der Bar 333, wo ich die nächsten Stunden mit Austerlitz und demnächst einem Sandwich zuzubringen vorhabe.

Link | 13. Oktober 2011, 9 Uhr 20


Um ein Uhr morgens wurde ich durch jähes Anschalten des Kabinenlichts geweckt und mit einem Nudelgericht in heißer Aluminiumschale behelligt. Es roch nach in der Mikrowelle erwärmtem Ei. Da die von ihrem eigenen Management offenbar nie benutzte Airline China Airlines es außerdem für angezeigt hält, ihren nervösen Fluggästen in den Nachtstunden unbegrenzt Salznüsse in dicken knatternden Metalltüten zur Verfügung zu stellen, Wasser aber nur auf Nachfrage auszuschenken, war an Schlaf nach erfolgter Pastabehelligung erst Recht nicht mehr zu denken. Ich begnügte mich statt dessen damit, die Tütenknack-, Schmatz- und Trappelgeräusche mit der Dungeon/Bunker/Beton & Dröhnmusik der präzise benannten Gruppe Menace Ruine zu übertönen. Der genau achsensymmetrische, mit wenigen dürren Lichtern durchsetzte, abgedunkelte Flugzeugkanal ruckelte sich schläfrig und dröhnend vor mir gen Asien.

In den frühen Morgenstunden in einem Starbucks im graufeuchten Taipeh las ich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, und mit besonderer Aufmerksamkeit das wunderbare Sonderfeuilleton zur Beziehung von Geld und Schriftstellerei. Auffällig darin war die Disziplinierung der deutschen Schriftsteller, eine Art schriftstellerisches Reinheitsgebot, das ihnen nur zwei Modi der Textproduktion zu erlauben scheint: Aus Zwang oder aus einem Kult der Literatur heraus. Ich muß schreiben, sagen sie, oder: Die Literatur ist das Größte, das wollte ich unbedingt machen, an das Größte heran!

Eine Gekränktheit, ein Zweifel am eigenen Wert, scheint also doch ein Kennzeichen des Autorseins zu sein, was auch, zum Beispiel von Dietmar Dath, direkt angesprochen wird: Selbstverständlich wirkt sich das auf die Literatur aus, wenn ein Autor sein Schreiben zu rechtfertigen hat oder sich zumindest dafür rechtfertigen muß, daß er sich nicht rechtfertigt — und rechtfertigen soll sich nun einmal, der nicht Anerkennung erfährt im primären Mittel der Anerkennung in dieser Gesellschaft, Geld.

Auffällig war ebenfalls der Text von Rafael Horzon, der wieder einmal nur sagt, wie sehr er uns verachtet, weil wir nicht merken, wie dreist er uns Klischees serviert. Brav bemerken wir es nicht, halten’s für Ironie und so erntet Horzon die Verachtung, von der er, spärlich spärlich, sorgsam haushaltend, sich nährt. Horzon, das Gesamtkunstwerk, Mr. Brainwash von der Torstraße.

Jedenfalls wollte mir die scheinbare Alternative Schreiben oder Geld Verdienen, weil mit Schreiben kein Geld zu verdienen ist, nicht in den Kopf: Schließlich ist das Geldverdienen doch eine durchaus mögliche Nebenfolge des für die Literatur ohnehin wünschenswerten In-der-Welt-Seins. Selbstverständlich verträgt sich die Romanproduktion nicht besonders gut mit dem In-der-Welt-Sein — man muß es, wenn es denn ein Roman werden soll, für eine Weile aussetzen, und das mag zwar strapaziös sein, aber daß Mühelosigkeit irgendjemandes Recht sei, dem sich ein fremdes Bewusstsein lesend anvertrauen soll, ist nun wirklich schwer zu verteidigen.

Bei meiner Reise im abgedunkelten, von düsteren Schwaden bedrohlicher Dröhnmusik ganz ausgefüllten Flugzeugrumpf kehrten im Halbschlaf meine Träume von abstürzenden Düsenjagdflugzeugen wieder: Die eleganten, tief anfliegenden Flugzeuge, deren Bahn zunehmend gefährlich wirkt, dann die schnell aufeinander folgenden Momente, in denen das Gehirn das Geschehen begreift: Jetzt ist ein Unfall unvermeidlich. Jetzt, unglaublicherweise, vollzieht er sich, in phantastischer Gewalt. Jetzt bemerke ich das Ausmaß des Geschehens, und daß es meine ästhetisierende Beobachterposition infrage stellt und mich zum unmittelbar Bedrohten macht: Scheiße! Renn! Im Hotel angekommen, forschte ich möglichen Ursachen dieser seit Jahren wiederkehrenden, in ihrer Klarheit und Schärfe unübertroffenen Traumsequenzen nach, und neben der Katastrophe von Rammstein ist auch der Absturz eines französischen Mirage-Kampfjets in meiner Heimatstadt Biberach im Sommer 1983, als ich vier Jahre alt war, ein Kandidat: Ob ich, so dachte ich, vielleicht auf dem Rücksitz eines Fahrzeuges saß, das sich auf der Landstraße nach Biberach auf der Höhe von Birkendorf befand, als die Mirage mit einem kleinen Privatflugzeug kollidierte? Ob ich verdrängt haben könnte, daß ich, was doch immerhin absolut im Bereich des Möglichen wäre, Zeuge des Unfalls war?

In einem Wochenspiegel, der über den Absturz berichtet, versucht ein Polizist, konfrontiert mit einem explodierten französischen Kampfflugzeug und einem Reporter namens „Krieg“, verzweifelt, auf keinen Fall „Hitler Hitler Hitler“ in die Kamera zu schreien.

Der Pilot der kleinen Cessna-Maschine, die damals von der Mirage buchstäblich aus dem Himmel gefetzt wurde, so lese ich heute, war der Geschäftsführer des in Biberach wohlbekannten Unternehmens Baby-Walz, dessen Gründer Alfons Walz nach dem Tod seines Managers das Interesse an Babywaren gänzlich verlor und in Bolivien und anderen Sehnsuchtsorten des Abenteurertums sein beträchtliches Vermögen und seinen Jaguar E Type mit Goldschürfunternehmungen und Immobilien in kürzester Zeit verlor. Das Geld, so wollte mir scheinen, benahm sich nicht nur gegenüber Schriftstellern undankbar.

Link | 10. Oktober 2011, 17 Uhr 30 | Kommentare (3)


Wenn genug Unsinn geredet wird, rede ich manchmal mit. Diesmal hier.

Link | 7. Oktober 2011, 18 Uhr 18