Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Buchau dagegen, die kleine Stadt am Federsee, an dessen lange verlandetem Nordende mein Heimatdorf liegt, macht weiter alles richtig. Als ich erfuhr, daß der Federseesteg neu gebaut werden würde, befürchtete ich schon das Schlimmste, nichts davon ist eingetreten: Der neue Steg ist wie der alte, etwas länger auf der Buchauer Seite, sonst sogar zurückhaltender. Man kann nirgendwo Eis, Porzellanenten, Krüge oder „I heart irgendwelchen Scheißdreck“-Teddybären kaufen. Das Museum sitzt immer noch still und schwarz im Moor, davor machen die Enten Krach.

Der Steg führt hinaus auf diese Fläche, den reglosen Rest des Sees, umgeben von Ried, Moor und den Hügeln, die ihn früher begrenzt haben und auf denen im Sommer das Korn einen heißen Wind kämmt. Tiefster Punkt. Windstille. Trockenes Schilf. Dunkelheit, Federhimmel. Ein sehr, sehr teilnahmsloser Schwan. Paddel, gleit, paddel. Paddel.

Link | 27. Dezember 2011, 17 Uhr 38


Diesmal, in der unsentimentalen Düsterstimmung, die mich beim Anblick des winterlichen Biberach jedes Jahr unfehlbar befällt, fiel mir die Besonderheit der Biberacher Architektur besonders auf. Warum, weiß ich nicht, vielleicht, weil die Neuerungen eine kritische Masse erreicht haben seit dem Ende meiner Schulzeit, oder weil das Jahr der großen Schnellreiserei, das hinter mir liegt, mich mit einer zweifelhaften Gewohnheit des eiligen Aburteilens vorgefundener Architektur- und Stadtstrukturen ausgestattet hat. Jedenfalls bemerkte ich die Stahlbleche und Stahlstangen, die aus den Fachwerkhäusern wie den Neubauten unterschiedslos in alle Richtungen hinausragen, über die gepflasterten Biberacher Plätze hinaus, die in der Sonne glänzenden Glasflächen, Stangengestelle, Vordächer, Blechgaupen und Edelstahlkonstruktionen, die überall vor- und zwischengehängt werden in dieser Stadt. Mit diesem Edelstahlbarock einher geht eine typographische Vorliebe der von den Biberachern unentwegt neu beauftragten Biberacher Werbeagenturen für Groteskschriften und geometrische Logos; überall sind an die Wände Kreise (Optiker), Ecken (Hörakustiker) und Us (Cafes) mit Laserpinseln angebracht, bisschen groteske Auszeichnungsschrift links, bisschen rechts. Nur der Optiker Rach rückt nicht ab von seinem schmiedeeisernen Brillengestell, und die Schwäbische Zeitung hat nach etwas mehr als einem Jahrzehnt in einer scheußlichen Verdana-Livree immerhin zu Papierschriften zurückgefunden.

Dieser barocke Kult eines sogenannten „Modernen“, das in Biberach immer noch in der Zukunft vermutet wird und nicht 80 Jahre zurück in der Geschichte, ist wohl direktes Produkt eines Provinzkomplexes — eben nicht „Laptop und Lederhosen“ wie auf der anderen Seite der A7, sondern die ganze Zeit nur Laptopgeschwenk zum Beweis der Anschlußfähigkeit an den Rest der Welt: Die tatsächlich wichtig ist für das lokale Erfolgsmodell, bei dem es sich ja um den deutschen „producer’s goods“-Maschinenbau handelt, von dem in der Wirtschaftspresse immer zu lesen ist.

Leider ist die daraus entstehende Architektur so dämlich, daß man den Wunsch kaum unterdrücken kann, mit einer hübschen liebherrgelben Planierraupe den ganzen Blechtand mitsamt dem Fachwerk, an den er angehängt ist, gemütlich plattzufahren, daß es allenthalben scheppert, und die Stadt, wenn sie schon dem Fachwerk, auf das sie heimlich stolz ist, nach vorne nicht traut, in ungeflickt — und dann wirklich neu — noch einmal aufzubauen. Geld wäre da.

Besonders schlimm hat es das Wieland-Gymnasium erwischt, einst von einem richtigen Architekten im Zeitgeschmack der 60er erbaut: In den großzügigen, herrlich dunklen und kühlen Nordhof zwischen Aula und Haupttrakt, in dem zwischen zwei Eiben eine raue Granitvariante des Rodinschen Denkers saß, hat die Biberacher Verbesserungswut zwei Hubschrauberladungen Blech, Edelstahlstangen und Glasscheiben geschüttet, direkt auf den offenen Wandelgang zur Aula, die man jetzt in quasi dauerhaft erstarrtem Entsetzen beim Versuch beobachten kann, sich vor dem indiskreten massigen Blechhaufen zum Stadtbach hin wegzulehnen oder gleich davonzulaufen und sich einer Schule anzuschließen, die nicht von einem Rudel Barockmodernisten mit Hubschraubern und Blechflatrate verbessert worden ist.

Link | 27. Dezember 2011, 16 Uhr 45


Vorgestern das Römisch-Provinzielle des frühen Dezembermittags: Schwarze, kalte, nasse Erde, von Maulwürfen in Flecken aufgegraben, Weinberge, kahle Büsche in Krautgrau, Spiegel & Stein. Die nördlichste Provinz Roms, die Grenze der Zivilisation.

Link | 23. Dezember 2011, 16 Uhr 45


Ich habe immer noch nicht genau heraus, was ich da gesehen habe. Da hülfe nur die ganz große Theoriesäge, aber man will sich ja nicht jedesmal an schwerem Gerät verheben. Es ist wohl ungefähr so gewesen: Es war ein Film mit einem Gestiefelten Kater, der in einer Art Mexiko, das Spanien hieß, mit einem Latino-Akzent und Humpty Dumpty auszog, um aus dem Haus des Riesen vermittelst der Zauberbohnen eine Goldene Gans zu stehlen, die sich aber als Küken entpuppte, das goldene Eier legte, und von einer ungeheuren Godzilla-Gänsemutter bewacht wurde. In 3D. Die Protagonisten tanzten meist, wenn sie nicht irgendwo herunterrutschten.

Nun ist das durchaus das, was Dreamworks tut, schließlich sind das Renderfilme. Die Technik heißt Korpuswriting und ist bei computergenerierten Filmen nicht unüblich: Ein Straytracer wählt aus einer Korpusbibliothek von Figuren und Filmen Plotelemente und Charaktere aus, verknüpft in einem Prozess namens Meshing die Scharnierstücke der Plots und substituiert die Figuren. Der fertig belichtete Film wird superhochfrequent mit von Forencrawlern gesammelten kulturellen Referenzen beschossen, bis der vom Studio gewünschte Sättigungsgrad erreicht ist. Im letzten Schritt ziehen Arbeiter in chinesischen Postprocessing-Sweatshops manuell die linken Augenbrauen aller vorkommenden Tiere hoch. Nicht nur für diese nie in den Credits genannten Menschen, die das Rückgrat der Industrie bilden, ist so ein Film hart, auch für die Schauspieler ist der Prozess ruinös — die haben Knebelverträge mit den Studios und dürfen kein Drehbuch ablehnen.

Die große Millionen-Dollar-Eklektoreferenzverdübelmaschine Dreamworks hat sich im „Gestiefelten Kater“ aber selbst übertroffen und dreht so dermaßen frei, daß das Ergebnis nichts weniger als erstaunlich und hochgradig gegenwärtig ist, ein einziges Monument für die goldenen Tage des Handels mit Kulturderivaten, hochkomplexen Produkten, in denen Fragmente aller Güteklassen neu gebundelt, mit einem 3D-Tag versehen und an ahnungslose Europäer zurückverkauft werden: Das geht nur genau jetzt, das ergibt nur mit den Regeln, wie sie genau jetzt gelten, irgendwelchen Sinn. Wenn die Musik aufhört zu spielen, sollte besser keiner mehr mit einem Märchenbuch erwischt werden. Was für ein Wahnsinn, daß man so einen Film parsen kann, doppelt und polarisiert projiziert, vollständig aus Filmgeschichte und Slapstick zusammengewürfelt. Wahnsinn.

Link | 20. Dezember 2011, 23 Uhr 16


Das ist jetzt die Zeit, in der wir alle hineingeschluckt sind in die große Maschine, darum ist es so still, darum hört man unsere Stimmen nicht oder nurmehr verzerrt durch die Machtgefüge, mit denen wir jetzt in Berührung sind, die wir aber noch nicht kontrollieren. Das ist jetzt ein bisschen einsam und hart. Das dauert jetzt noch ein paar Jahre. Dann kommen wir heraus auf der anderen Seite der Maschine, als Abfall oder Produkt. Dabeibleiben, Leute. Nicht aufhören, Musik zu hören.

* * *

Der Reisegraph der letzten Jahre: Schwach leuchtende Knoten. Helsinki. Was habe ich allein in diesem halbdunklen Helsinki getrieben, zweimal? Ich blieb an sieben Meter hohen Schneehaufen stehen, gewiß, ich ging eine Straße hinunter zwischen nicht sehr hohen Häusern, hinauf und hinunter, bis es nicht mehr weiterging (so hatte ich mir das vorgenommen), gewiß. Ich suchte ein Klo in einem Supermarkt, eher einer Art rosa Discount-Riesendrogerie, und fand eins in einer notdürftig auf Starbucksheimeligkeit tapezierten Kaffee-Ecke, gewiß. Ich sah drei schwach leuchtende Glühbirnen in einer Installation hinter einer Schaufensterscheibe am Hafen, gewiß. Was habe ich in Helsinki gemacht?

* * *

Überlagerung der Geste jugendlicher Nichtarriviertheit mit formalen Organisationsmustern: Die Struktur Büro am Rosenthaler Platz, die den Lebensentwurf Funktionär und Rockstar ermöglichen soll.

Link | 4. Dezember 2011, 20 Uhr 50


Legt mich auf die Seite und zieht mir das Kleid aus — wimmerte Marietta.
Als Frau Cimarelli ihr das Kleid herunterzog, strömte das Blut aus vierzehn Wunden, und Mutter Assunta sah gleich, daß die Eingeweide herausquollen. Da fiel sie in Ohnmacht.

Der Arzt! Der Arzt! — Die Polizei! Die Polizei! … Rufe gaben diese Rufe weiter. Vom Schloß des Grafen aus wurde die Polizei in Nettuno und eine nähere Polizeistelle erreicht. Über die sonst so still dahinziehende Straße jagten jetzt Räder und Wagen. Und die sonst so verschlafene Moorlandschaft sah die Nachbarn und die Nachbarn der Nachbarn und die Siedler von den weiteren Orten über sie hinwegstürmen.
Mutter Assunta erwachte aus ihrer Ohnmacht, weil sie leise ihren Namen hörte. Marietta rief nach ihr. Mutter Assunta erhob sich und beugte sich über ihr verblutendes Kind.
Aus dem wachsbleichen Gesicht sahen die flehenden dunklen Augen sie an:
Mamma!
Wer hat dir das angetan, Herzenskind?
Alessandro wollte… wollte mich zur Sünde verführen… ich habe nicht gewollt… und nun hat er mich umgebracht.

Elisabeth von Schmidt-Pauli, Die Heilige und ihr Mörder, Kevelaer 1952. Meine Ausgabe 1960, 15.-18. Tausend.

Link | 4. Dezember 2011, 16 Uhr 13


Ecos Friedhof in Prag ist natürlich ein großer Spaß: Das Neunzehnte Jahrhundert erscheint fern darin, als eine vorrationale Zeit (die das Mittelalter bei Eco eben nicht ist) bestehend aus nichts als Eitelkeit, Dummheit und Bosheit. Plausibel: Dieses dunkle Paris der ambitionierten Spione, Bettler, Salons, Zeitungsbesitzer und Kanalbauunternehmer ist schließlich die Welt des Romans schlechthin.

Was leicht zu übersehen ist: Das ist so lange nicht her. Der Roman endet 1898. Eco ist Jahrgang 1932. Sein Lektüre-Abstand zu dieser Welt entspricht in etwa unserem zu den vierziger und fünfziger Jahren. Möglicherweise weiß Eco auch einfach nur sehr gut Bescheid über die Welt am Westrand seines Lebenszeithorizonts.

Link | 4. Dezember 2011, 15 Uhr 40


Der Moment mit den Erdbeeren und der frischen Milch, und dem Versprechen, sich an den Moment zu erinnern: Die geschlossenen Vorhänge, hell auf der sonnenbeschienenen Außenseite, hellrot innen (erstes OG), der Fernseher auf einem rollbaren Gestell, die leeren Plätze (denn nur die Katholiken sind anwesend), die weißen Tischflächen, Mappen schon gepackt für den Weg zum Bus. Streifen von Licht.

Link | 2. Dezember 2011, 23 Uhr 40