Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Ich habe, wieder einmal, eine Wohnung gemietet, ohne die alte zu kündigen: Umzüge sind bekanntlich nicht zu bewerkstelligen; der verrückte logistische Aufwand, ein ganzes ordentliches Leben in Kisten zu packen und von fremden Leuten herumtragen zu lassen, wird noch übertroffen vom emotionalen Aufwand, alle eigenen Gegenstände einmal anfassen zu müssen und eine Entscheidung zu fällen. Das Glück, die Schuld, der Schmerz an den Gegenständen, kurz ihre gesamte unermessliche Melancholie, wird so aufgescheucht und neu auf die Seele losgelassen, aus den Schubladen und Fächern heraus: Das hält niemand aus.

Der einzige Weg, von sich loszukommen, ist also das Zurücklassen vollständig bewohnter Wohnungen. Ich selbst suche mir mit Vorliebe neue Orte, die den Anforderungen an rationales Wohnen kaum genügen: Im Grunde verlange ich von einer neuen Wohnung, mein gesamtes Bewusstsein zu vereinnahmen, mich ganz und gar mit dem Überleben in ihr zu befassen, sodaß ich keinen Gedanken verschwenden kann an meine Pflichten als Mensch oder Kapitalkraftwerk. Eine Wohnung, in der das bloße Dasein mich ganz ausfüllt, entschuldigt meine Unzulänglichkeiten, die grenzmutwillig vergessenen Geburtstage, die Traurigkeit, die mich umfing, als ich einen lieben Brief hätte beantworten sollen, und mich erst Jahre später freigab, als er spröd geworden war — all solches, das wird jeder einsehen, wird zweitrangig, wenn die Toilette nicht funktioniert.

Also habe ich eine Wohnung im fünften Obergeschoß gemietet, nicht im Dachgeschoß, gerade eins darunter, die vollständig gekachelt ist. Im Wohnzimmer liegen große, quadratische, fleckig hellblaue Kacheln, im Flur terrakottahafte kleine Rechtecke, und grobe Steinfliesen im Bad und in der Küche. Im Wohnzimmer sitzt ein unsauberes und wohl schon eine Dekade lang durchhängendes Holz-und-Leinen-Sofa, und es liegt ein zu kleiner Flickenläufer aus, der dem kalten hellblauen Raster nichts entgegenzusetzen hat. In einer Ecke steht allein: ein Stuhl mit unappetitlich unparallelen Beinen.

In der Küche ein Gewürfel, die Geräte verraten mit bräunendem Kunststoff und runden Formen ihre Herkunftsjahrzehnte. Ein schwarzweißes Waschbecken, ein rohrdünner zweimal gewinkelter Hahn, links ein Ventil, rechts ein Ventil, und ein boshafter Boiler. Es gibt auch eine Duschzelle in der Küche.
Im Badezimmer steht eine speckige Emaillewanne und ein Holzkasten, in dem sich schamhaft die Toilette verbirgt. Die Menschen haben es leichter, seit sie zugeben, daß sich in ihren Wohnungen Aborte befinden (in jeder wenigstens einer), dieses Bad geht zurück in eine Zeit, in der es in Berlin unschicklich schien, eine Toilette zu haben.

Die Badezimmer- und Kücheneinrichtungen haben nun die Eigenschaft, unzuverlässig zu sein. Der Hahn kollert beizeiten lange, bevor er spanig losspuckt, schlimmer aber sind die Abflüsse, die an Regentagen ihre Funktion umkehren. Ich fand schon den Toilettenholzkasten bis an die Deckelkante angefüllt mit (dankenswerterweise leidlich sauberem) Wasser. Frühere Mieter, oder frühere Hausmeister, haben die Naßräume mit Klappen versehen, und wenn die Rückstauungen zu stark werden, öffnen sich diese Klappen nach unten — wohin? — es platscht und gurgelt, und meine Wohnung wird leichter.

Der Vermieter hat mir, als er meinen Willen, hier einzuziehen, akzeptieren musste, schlechten Gewissens Zugang zu einer Dachterrasse versprochen, die demnächst, genauer wurde er nicht, ausgebaut werden soll und die er über einen Gang oder eine Treppe, er blieb vage, mit meinem hellblauen Wohnzimmer verbinden wollte.

Diese Wohnung jedenfalls ist in ihrer völligen Unbrauchbarkeit herrlich und macht frei. Meine alte Wohnung in der Warschauer Straße habe ich wochenlang nicht gesehen, jeder Tag macht den Gedanken, dorthin zurückzukehren und die riesige Aufgabe einer Auflösung in Angriff zu nehmen, absurder. Staub, Staub. Gottlob bin ich wohlhabend inzwischen — es muß Vorteile haben, fast vierzig zu sein — und mein alter Mietvertrag ist nach heutigem Dafürhalten spottbillig. Ich werde diese Wohnung (und all die anderen) halten, bis ich sterbe: sollen sie sich dann wundern, was diese rastlose Wohnungsakkumulation und lebensumfängliche Möbel- und Kleiderverstaubung wohl sollte.

Wieder der Vermieter: Er legt mir noch eine Tür, wieder aus schlechtem Gewissen, zu einem großen (aber nur raumhohen) Saal, der bisher, so sagt er, als Versammlungsort für den exilierten Hof eines kasachischen oder tadschikischen Fürsten gedient habe: Zwischen den Säulen steht ein Prunksessel auf dem grünen Veloursboden (nicht im Raster der Säulen, sondern verdreht, was ich sofort korrigiere).
Man lagerte sich wohl zu Füßen des Fürsten, weitere Stühle gibt es nicht im Saal. Gut gefällt mir noch der skulpturale Heizkörper, der aus dem darunterliegenden vierten Stockwerk in den Saal heraufreicht durch eine weite, geländergefasste Öffnung. Am Heizkörper vorbei sehe ich da unten ein Sofa in Brokat, einen Flügel, goldene Tapeten und staubige Gestecke.

Auch dies alles gefällt mir gut: Die offenkundigen Verstöße gegen die feuerpolizeiliche Vernünftigkeit passen zu meinem eigenen Trotz. Ich will Städte, in denen ich tagelang durch Wohnungen und Türen spazieren könnte ohne ein einziges mal eine Straße zu betreten und in denen ich am Dialekt der mir begegnenden Hausmusik-Streichquartette den Stadtteil erraten müsste.

Link | 26. November 2018, 21 Uhr 04 | Kommentare (1)


Es ist klar wie ein Bergbach mit zappelnd vor dem Rechen stehenden Forellen inzwischen: Die alte Kaskade Leben -> Fimmel -> Kommodifizierung -> Full-on-Fernsehscheißdreck -> Nachleben-als-T-Shirt-Motiv ist nicht mehr, ist ein Ding des zwanzigsten Jahrhunderts, passiert nicht mehr, kommt nimmermehr wieder.

Oh, die Popkultur stagniert, was machen wir bloß.

Was wir jetzt statt der alten Kaskade haben hat den Vorteil, immerhin reichlich konfus zu sein und die Kriegsgewinnler der alten Kaskade, also exemplarisch die Bevölkerung von ganz Köln ca. 1999, komplett verwirrt im Regen neben dem jetzt plötzlich sehr schlammigen und forellenlosen Bach zurückzulassen, wo sie jammern und klagen. Gut, die sind wir schonmal los.

Was wir statt der alten Kaskade haben hat zwei Ebenen.

Obendrauf ist so eine Art Nacht der Welt: Bei Zara ist immer mal drei Tage Hair und drei Tage Super Trooper und drei Tage Flanellhemd und dann wieder Blume im Haar, für immer, und an der Zarakasse dreht ein Clown (sieht aus wie Lagerfeld mit roter Nase) die Ka-Tsching-Kurbel und schreit Mode Mode Mode. Es ist natürlich auch der trübsten Tasse klar, daß der Clown das nicht so meint, aber was soll man machen.

Untendrunter gibt es die Fanatiker, die sich in einem Teil des in der Kulturgeschichte erschöpfend erschlossenen Möglichkeitenraums des Menschseins niederlassen und in die Raumfalten und -klüfte gehen. In der Breite waren wir sequentiell überall, jetzt gehen wir parallel in die Tiefen von allem, erschlossen über das Koordinatensystem Dekade/Subkultur/Stadt.

Und dieses Koordinatensystem verweist eben nicht in die Zeit zurück, sondern in den zeitlosen Raum der Stimmungsmöglichkeiten: Hört auf zu jammern. (Könnt Ihr nicht, weiß ich, transzendentale Miserabilisten seid ihr und werdet ihr sein bis ihr vergessen seid und niemand sich an Eure Nicht-ganz-Revolte erinnert.)

Es geht jetzt darum, diese Unterströmung des uninteressanten Nacht-der-Welt-Internet-und-Zara-Quatsches zu umarmen und abzutauchen in die Klüfte, es gibt viel zu verstehen und ist alles nicht wenig aufregend.

(In der U-Bahn: Weiße kurze Wuschelhaare, bodenlanges rotes Samtkleid, graue hohe Lackschuhe, Kopfhörer Holz und Chrom. Sagenhaft, eine Art pagane Bordpriesterin für ein Luftschiff: Sail!)

[Wasser Wasser]

Link | 17. November 2018, 3 Uhr 34


Im Inneren der gewaltigen Steinagglomeration, inmitten in den Himmel türmender verschütteter Wassergewirre, erinnere ich mich an die Novemberluft in einer schläfrigeren Stadt, an meine Übermüdung an einem kalten weißen Morgen, drew a breath, hard and clear, like a hammer on a church bell.

Am meisten wir selbst sind wir an so einem müden Morgen in einer fremden Stadt, ungeschickt verloren und roh, geliebt für unsere unsteten Blicke, Hunger und Zweifel, Talent und Übermut. Im Moment selbst bemerken wir nichts, später bleibt dieser Moment immer bei uns, er wird, wer wir sind.

Die Trinkerei der ganz Großen ist vielleicht das: Ein Weg, bloß talentiert zu bleiben, diesen konservierten Moment größter Verletzlichkeit nicht vom Erfolg auslöschen zu lassen.

Link | 15. November 2018, 3 Uhr 32 | Kommentare (1)


Die Substanz einer Landschaft: Die Steine, Wasser, Ansichten. Die Mythologie einer Landschaft: Die Leidenschaften ihrer Toten, die Besetztheit der Steine, Wasser und Ansichten mit vergessenen Besessenheiten.

Es gibt Landschaften, die spektakulär sind, azur und ocker und tieforange an Novemberabenden, aber mythologiefrei, und sie werden bewohnt von Leuten, die es zu etwas gebracht haben und sich Häuser gekauft haben und die Kunst ihrer Freunde darin aufhängen, und die Kunst zeigt im Wesentlichen Azur und Ocker und das Tieforange von Novemberabenden.

Und es gibt Landschaften, reizlos und ohne besondere Sonnenuntergänge, in denen an jeder Buche ein schwedischer Reiter hängt wenn die Nacht kommt, in denen die Kamine in den Wirtshäusern aufstieben und fauchen wenn man die Türen öffnet, in denen Gold und Hostien in den Höhlen sind oder Steine im Wald sirren und leuchten nach dem Regen.

Ich glaube überhaupt, daß es die Wasser sind, in dem die Leidenschaften der Toten überdauern. Auch das Kasseler Oktogon, in dessen moosige Ruinen-Innereien für immer Stan Douglas‘ Technicolor-Grimmgeister eingezogen sind, stelle ich mir immer triefend vor, nach dem Regen, Stein und Moose vollgesogen und kalt, lebendig voll unbezwingbar Nie-ganz-Verdrängtem.

Link | 13. November 2018, 2 Uhr 42