Die ersten dreissig Seiten von Hermann Brochs Schlafwandlern lesend, bemerke ich: Es ist doch ein Irrtum, daß die Romanform ihre Zeit gehabt hätte und man so heute nicht mehr über einen Menschen sprechen könne, wie über Joachim v. Pasenow gesprochen wird in den Schlafwandlern. Natürlich könnte man sich einen Angehörigen der oberen Mittelschicht erfinden und ihn genau so zerlegen und ausdeuten, es bliebe kein Rest. Man muß das Militärische durch die eine oder andere früh getroffenen Lebensstilentscheidung ersetzen, aber die romanhaft-psychologische Grundstruktur, diese Mischung aus Unsicherheit und Eitelkeit, dazu Schuld oder Leichtsinn, immer mit einigen wenigen eingesprengten echten Charakterzügen, ist doch unverändert, daraus sind sie auch heute noch hergestellt, die Herrschaften. Die Moderne konnte ihnen nicht viel anhaben, sie erwiesen sich als so ungeeignet zum Material wie zur Freiheit.
In diesen Tagen spürt man die Nachkriegsmelancholie Europas nahtlos in eine vorauseilende „chinesische“ Melancholie übergehen, mit wässrigen Augen — ach, wir wussten ja schon immer, daß es nicht funktionieren könnte — schaut man zurück in die so schlecht genutzte und schon in ihrem Ausklingen kaum noch lesbare Zeit vor der Dominanz des neuen autoritären Kapitalismus. Dieser wiederum nimmt die ihm vollständig wesensfremde Melancholie nicht einmal wahr, und so ist eine Infektion der Maschine mit dem Gedanken vom freien Einzelnen jedenfalls von außen nicht zu erwarten. Undsoweiter undsoweiter: Alles grober Quatsch.
Grober Quatsch, weil das (aufgeklärte) Bewusstsein eine Sekte ist, wie jede Sekte von innen schwer als solche zu erkennen und zudem sehr lange sehr erfolgreich, aber eine Sekte nichtsdestotrotz, Häresien, Schismen, Gnostiken und Perversionen hervorbringend wie es in der Spätantike schöner nicht gewesen sein kann, und diese Perspektive hilft enorm bei der Bestimmung der eigenen Position: Die Stärke oder Schwäche einer mystischen Praxis (in unserem Falle wohl der klassischen Musik) ist beispielsweise nie von aussen bestimmt, und auch eine neue Variante der Megastruktur Kapital hat darüber wenig Macht. Der ideelle Kern, die komplexe Antwort auf die Frage Wie verstehe ich mich selbst?, eine andere Form der Frage Was brauche ich?, driftet möglicherweise: Das gilt es zu beobachten. Wem von uns das Bekenntnis gelingt, daß er, bei aller Unzufriedenheit, im Grunde so leben will, wie wir leben (in all der Kälte, in all der frenetischen Bewusstheit), der kann dieser Drift gegenüber nicht gleichgültig sein, er ist Teil unseres Kults der Luzidität. Und er hat kein Recht zur Melancholie, sein Herz ist der Kampfplatz und noch nicht verloren.
»Sie halten also konservative Prinzipien für Atavismen?«
»Oh, manchmal schon, nicht immer. Obschon es sich hier eigentlich nicht darum handelt. [Ein Duell, Ehrgefühl oder Ähnliches] Ich meine, daß das Lebensgefühl, das man hat, immer etwa ein halbes oder auch ein ganzes Jahrhundert dem wirklichen Leben nachhinkt. Das Gefühl ist eigentlich immer weniger human als das Leben, in dem man steht. Denken Sie doch nur, daß ein Lessing oder ein Voltaire es ohne Revolte hingenommen haben, daß man zu ihrer Zeit noch gerädert hat, schön von unten herauf, für unser Gefühl unvorstellbar — und glauben Sie, daß es bei uns anders ist?«