[Eins]
Ich habe es bislang für unmöglich gehalten, zu Wikileaks etwas halbwegs Substanzielles zu sagen. Man konnte sich über die Skandalmaschine echauffieren, die von den Medien weltweit folgsam angeworfen worden war, um das als Skandal entworfene Cablegate und später Julian Assanges sonderbare Verhaftung zu behandeln, und man konnte wieder einmal darauf hinweisen, wie lachhaft unfähig selbst journalistische Institutionen wie die Tagesschau inzwischen sind, eine globale Medienerregung auf ein paar relevante zugrundeliegende Fakten herunterzubrechen. Den beunruhigenden Kern der Sache hätte das nicht getroffen, und sich über die verrotteten Medien aufzuregen, ist zwar ein Spaß, den man sich gelegentlich gönnen darf, aber besonders substanziell ist es nicht.
Warum kann man über Wikileaks selbst kaum etwas sagen? Zunächst, weil unklar ist, wer hier agiert und wer reagiert. Gerüchte, daß Wikileaks dieses Material hat, gab es seit Anfang des Jahres. Nehmen Sie an, man hätte Ihnen diese Daten zugeschickt, und Sie hätten Grund zu der Annahme, daß große, böse, rücksichtslose Organisationen wissen, daß Sie sie bekommen haben. Wie beweisen Sie so jemandem, daß Sie’s gelöscht haben? Möglicherweise können Sie nur noch nach vorn ab diesem Punkt. Und nun nehmen Sie an, daß die Quelle dieses Materials einigermaßen zweifelhaft ist, in jedem Fall aber seine Integrität. Möglicherweise zwingt Sie also jemand nach vorn, der Interessen verfolgt, die Sie nicht einmal durchschauen. Wer weiß, wer da gerade warum welche Daten durch Wikileaks drückt, was Signal und was Rauschen ist. Das Problem mit Cablegate ist: Wir sind in einem Geheimdienstspiel. Man muß damit rechnen, daß die unsichtbaren Akteure professionell und unklar motiviert sind, und man muß damit rechnen, daß die sichtbaren Akteuere weder Herren ihres Schicksals sind noch wissen, welche Rolle sie spielen. Man muß andererseits auch damit rechnen, daß alles genau so ist, wie es scheint. Wer mit Schlapphüten spielt, sollte Misstrauen lernen. Genau deswegen ist es schöne Ironie, wie sich Nerdkreise in den letzten Wochen die Köpfe heiß diskutieren konnten mit der sinnlosen Frage: Pro und Kontra unbedingte Transparenz. Als gäbe es hinter dem Glas etwas Klares zu sehen, wenn nur das Glas einmal klar wäre.
Der zweite Grund, warum es so schwierig ist, sich zu Wikileaks zu äußern, ist, daß der veröffentlichte theoretische Hintergrund zu einer hochgradig gegenwärtigen Ideologie gehört, die wir alle im Netz teilweise teilen dürften. Die eigene ideologische Ausrüstung ist immer der blinde Fleck der Wahrnehmung, und wir haben bislang kaum historische Außenperspektiven auf die Netzkultur. (Die konservative Kritik existiert natürlich wie immer, aber wie immer ist ihre Funktion nur die der banalen Mahnung, daß eine historische Perspektive einst möglich sein wird.) Ob man über Wikileaks sprechen kann, ohne in die Falle eines simplen dafür/dagegen-Diskurses zu geraten, bevor überhaupt verstanden ist, wofür oder wogegen man da genau wäre, oder gleich in die einerseits/andererseits-Falle zu tappen, ist unklar, und bislang habe ich kaum überzeugende Versuche gelesen.
In die Weihnachtspause hinein, als hätten alle sich erst einmal besinnen müssen, sind nun zwei kluge Texte erschienen, die das wenig ergiebige Robin-Hood-Schema verlassen: Zum einen Bruce Sterling, der sich für meinen Geschmack zwar viel zu sicher ist in seiner Einschätzung der sichtbaren Akteure, aber sonst, wie ich denke, zwei wesentliche Charakteristika der Affaire freilegt: Erstens die Wurzeln der Wikileaks-Motivationsstruktur in der Ästhetik der Existenz des Cyber/Cypherpunk, also einer äußerst anziehend technologieverliebten Spielart des Anarchismus, zweitens die kaum zu fassende Schwäche der Institutionen, die mit dieser Herausforderung konfrontiert sind. Bruce Sterling: The Blast Shack.
Der zweite Text ist von Jaron Lanier und im Atlantic erschienen. Wie zu erwarten hechelt Lanier seine Einschätzung über den Kamm seiner Kritik der Nerdkultur, aber auch dabei wird eine Perspektive auf die Affaire frei: Den Griff nach politischer Macht, den die Nerdkultur hier macht. Wir sehen das an anderer Stelle passieren — man denke an die hier bereits diskutierten ersten Erfolge der Piratenparteien — und obwohl man im Falle von Julian Assange tatsächlich zweifeln kann, ob ihn Macht interessiert, ist sich der Chauvinismus der Nerdkultur inzwischen tatsächlich und beobachtbar seiner selbst sicher genug, um Julian Assange nicht nur als Robin Hood zu feiern, sondern ihn (und mit ihm Wikileaks) zur Speerspitze einer Avantgarde, zu der man selbst sich gehörig fühlt, zu erklären. Jaron Lanier: The Hazards of Nerd Supremacy.
[Zwei]
Fragen zur Wikileaks-Ideologie: Ist Wikileaks ein Vorschlag zur Verbesserung der Demokratie, bzw. ein mögliches Prinzip bei der Etablierung einer „digitalen Demokratie“? Geht es um allgemeine „Transparenz“? Gibt es einen Transparenzbegriff, der nicht die Sichtbarkeit von Information mit ihrer moralischen Bewertung begründet? Der Kommentarmob mag das Argument: „Privatpersonen haben ein Recht auf Privatsphäre, Staaten und Institutionen nicht.“ Lässt sich dieser primitive Konsens auf etwas anderes zurückführen als auf ein tiefes Misstrauen gegenüber den Institutionen? Es ist offensichtlich, daß Institutionen kein „Recht auf Privatsphäre“ haben müssen, um auf Grundlage von Informationsassymmetrien zu funktionieren, als Organisationen ist ihnen ein bestimmtes Informationsgefälle von außen nach innen strukturell konstitutiv. (Handelsorganisationen leben davon, daß sie Wissen über Märkte internalisiert haben und daher erfolgreicher operieren können als einzelne draußen, und die katholische Kirche feiert das Geheimnis.) Der genannte Primitivkonsens gefiele sich selbstverständlich in dieser Radikalität: Ja, die Kirche und der Handel, zwei weitere Übel, die können auch weg. Und hier spätestens offenbart sich das Prinzip „stick it to the man“ bzw. „crush the bastards“: Das um ein hehres, überzeitliches Gut bemühte, theoretisch begründete Denkgebäude gibt, wenn herausgefordert, nach, und offenbart, daß es eine Rechtfertigung für das Selbstverständnis guter alter Partisanen ist.
Nun ist gegen gutes altes Partisanentum nichts einzuwenden, im Gegenteil, aber der Charakter des Partisanen ist sein Gegner: Der Gegner des Partisanen muß das Opfer wert sein.
Wer also ist der Gegner von Wikileaks? Wer sind die Bastards? Die US-Diplomatie? Das US-Militär? Der alberne US-Senator, dessen zahnloses Gegeifer von der „Verbrecherjagd“ auf Assange tagelang kolportiert wurde? Die Bastards scheinen, wenn man die bisherigen Leaks betrachtet, zu sein: Eine unklare Verschwörung, die sich in der (an sich nicht überraschenden) Brutalität des Krieges oder der (an sich nicht überraschenden) Realpolitik des diplomatischen Tagesgeschäfts versteckt. Jedes Leak zeigt in seiner verdächtigen Harmlosigkeit nur, wieviel die Verschwörung zu verbergen fähig ist.
Diese Verschwörung könnte auch in diesem Fall, wie so oft, die unerträgliche Moderne sein.
Wir haben also zwei Möglichkeiten, Wikileaks als Erscheinung zu lesen: Als Vorschlag eines neuen kategorischen Imperativs, der lautet „Handle stets so, als ob jedermann jeden Schritt Deiner Handlung beobachten könnte.“ Oder als Kampf gegen die „Bastards“ — von denen wenig bekannt ist, auch nach den Leaks, die aber (denn so sind die Leaks ausgewählt) sicher irgend etwas mit der US-Regierung zu tun haben.
[Drei]
Zur Logik des Partisanen: Der Partisan scheint sein Tun zu rechtfertigen. Angeblich sagt er: „Mein Gegner ist böse, also bin ich im Recht, wenn ich ihn bekämpfe.“ Das ist ein Irrtum. Der Partisan hat das gehegte Gebiet des gerechten Kampfes explizit verlassen. Die Begründung (nicht Rechtfertigung) für sein Tun lautet deshalb: „Mein Gegner ist böse, also bin ich mit dem Bösen in Berührung und verwoben. Ich begehe selbst Unrecht, weil ich meinen Gegner nicht mehr ignorieren konnte und ihn zu meinem Gegner machen musste.“
Der Partisan kämpft als Schuldiger. Er akzeptiert, daß Gewalt die Sphäre des Moralischen zerstört, nicht teilt. Deshalb muß sein Gegner seiner würdig sein. Die RAF ist an ihrer Ästhetik der Existenz nicht gescheitert, weil sie sie nicht beherrscht hätte (sie hat sie meisterhaft beherrscht), sondern weil diese in einem Mißverhältnis zum tatsächlich erlittenen Unrecht stand.
Wikileaks ist keine Partisanentruppe.
[Vier]
Zur Kraft der Geschichte: Die Offenlegung von Information ist, glaubt man den Apologeten der Einen Offensichtlichen Digitalen Zukunft, mit ihrer Offenlegbarkeit identisch. Was sichtbar sein kann, wird sichtbar werden. Wir gewöhnen uns besser dran. Es handelt sich bei diesem Argument um lupenreinen Quatsch. Die Unvermeidlichkeit des technologischen Fortschritts hat keine normativen Auswirkungen. Technologie verändert Werte, wenn sie wirksam wird, aber in unvorhersehbarer Weise. Man muß es ihr schon selbst überlassen, uns zu verändern. In vorauseilendem Gehorsam Werte preiszugeben, die noch gut begründet sind, ist eine freiwillige Bewegung. Diplomatische Kommunikation ist immer abgehört worden, Krieg wurde immer von Menschen im Blutrausch geführt und so dokumentiert. Neu ist die globale Öffentlichkeit für dieses Material — die sich aber für die veröffentlichten Inhalte kaum zu interessieren versteht, nur für den Skandal.
Wikileaks ist keine unvermeidliche Kraft der Geschichte.
[Fünf]
Analyse der Inhalte: Vor allem geht es nicht schnell genug. Was wir bisher wissen: Die USA sind ein Staat mit einem diplomatischen Apparat, der manchmal unflätiges über Staatsoberhäupter sagt und gelegentlich skrupellos Machtpolitik, auch mit Gewalteinsatz, betreibt, aber das wussten wir schon. Ein böses Imperium dagegen wird nicht sichtbar. Cablegate zielt scheinbar auf die Aufdeckung eines großen skandalösen Vorgangs oder einer skandalösen Struktur. Was jedoch zutage gefördert wird, enttäuscht die Erwartungen. Die Wirklichkeit ist nicht von Ian Fleming erdacht, wir müssen uns weiter mit ihrer Banalität abfinden oder ihr ausweichen: Gibt es vielleicht eine Verschwörung, die die wirklich brisanten Informationen zurückhält? Einen Deal? Falsche Zurückhaltung? Müsste man nicht endlich Wikileaks leaken, damit es schneller ginge mit den wirklich skandalösen Sachen, und man sicher sein könnte? Könnte nicht endlich die Ungeheuerlichkeit aufgedeckt werden, die wirklich einen globalen Aufstand hervorriefe?
Wikileaks enthüllt keine Verschwörungen, sondern bestätigt, was wir wissen. Allerdings nicht alles.
[Sechs]
Die globale Nerdcommunity feiert mit Wikileaks sich selbst: Wir sind die Guten, und jetzt kommen wir an die Macht, wir zeigen’s ihnen richtig. Wir, die Nerds, die gescheiter sind als alle, und an Institutionen nicht mehr zu glauben nötig haben. Wir können alles selbst, alles mit Computern, und weil wir so schlau sind: Wir, die Rebellen.
Nur: Che Guevara trug kein Che-Guevara-Shirt, das ist der Unterschied. Der Nerd an sich hat kein Projekt und keinen Plan. Er findet nur, man soll ihn machen lassen, was er gerne macht. Dazu gehört eine Respektlosigkeit, die nicht weiter motiviert, sondern einfach interessant ist. Wie ist es mit den Nerdeliten?
Bruce Sterling über Julian Assange: He’s a darkside player out to stick it to the Man. The guy has surrounded himself with the cream of the computer underground, wily old rascals like Rop Gonggrijp and the fearsome Teutonic minions of the Chaos Computer Club.
Von denen kenne ich ein paar. Sie haben ein Weltbild und führen gelegentlich ein halbstarkes anarchisches Wort, aber sie haben keine politische Theorie. Wenn sie eine haben, wie Frank Rieger, den ich sehr schätze, findet man höchst gemäßigte, sicherlich bei den persönlichen Freiheiten stark zum Liberalen neigende, gute, nostalgische Demokraten. Der Kampf gegen Wahlcomputer, den sie mit dem „Chaos“ im Banner seit Jahren führen, auch Sterlings wily old rascal, beweist, wie geradeaus dieser Hase politisch läuft.
Wikileaks ist vermutlich nicht gegen die demokratischen Institutionen aufgestellt.
[Sieben]
Was also geht da vor? Womit haben wir es zu tun?
Zunächst der grundsätzliche Schlapphut-Vorbehalt: Wikileaks operiert in der hochgradig verspiegelten Sphäre nichtöffentlicher Kommunikation zwischen Nationalstaaten. Man muß mit allem rechnen.
Was man sagen kann, wenn alle zuvor genannten negativen Aussagen zutreffen: Alle naheliegenden Wahrnehmungsmuster für Wikileaks treffen die Sache nicht oder sind in sich inkonsistent, und das scheint interessanterweise auch für die Muster zu gelten, die Wikileaks oder die Nerdkultur, die Wikileaks feiert, selbst anwenden. Die haben sich möglicherweise selbst nicht verstanden — sie hoffen einfach, daß irgendeine ihrer nicht besonders weit gedachten Ideen irgendwo hinführt, wenn sie jemand zu Ende denkt, und bis das passiert, kann man von einer zur anderen springen, immer wenn es anstrengend wird.
Insofern ist Sterlings Deutung von Wikileaks als Erscheinung, genauer Zerfallserscheinung der Macht nicht unplausibel: Wikileaks muß als Phänomen nicht konsistent und zielgerichtet sein, es ist nur etwas, das passiert, wenn ein von anderer Seite beschädigtes Machtsystem (in diesem Fall das der internationalen Diplomatie) zerfällt. Die Ursache der Erscheinung ist die Schwäche des bisherigen Machtgefüges: Die Barbaren werden an den Grenzen des Reiches sichtbar, weil die Grenzen durchlässig werden. Die Barbaren waren immer dort, und sie wollen das Reich nicht zerstören, sondern sich zu Eigen machen. Sie verstehen aber weder, wie das Reich funktioniert, noch, was der Preis für sein Funktionieren ist. Sie lesen es durch ihre vulgären (stark abwertenden) Kategorien hindurch. Dabei lieben sie es und wollen es besitzen.
Ich glaube, daß wir sehr wohl ein Wort für das haben, was Julian Assange ist: Er ist ein Barbarenführer, in der vollen Komplexität des Begriffs. Einer, der fanatisch erobern will, was er zu verstehen sich weigert und moralisch nicht dulden kann, weil es ihm dekadent erscheint. Seine digitale Horde folgt ihm begeistert: Leute, die aus einer Welt kommen, in der keine moralisch fragwürdigen Duldungen des Wirklich Anderen je nötig waren.
Wir, Décadents des alten Reiches, ich auch, haben naturgemäß eine gewisse Zärtlichkeit für die Barbaren. Sie sind nicht unsere Feinde, sie erlösen uns.
[Nachtrag: Ein gerade erschienener Text von jemandem, der in Sachen Wikileaks zumindest weiß, wovon er redet: 27C3 keynote by the wily old rascal himself.]