Vigilien

is there any any? nowhere known some?

[Eins]

Ich habe es bislang für unmöglich gehalten, zu Wikileaks etwas halbwegs Substanzielles zu sagen. Man konnte sich über die Skandalmaschine echauffieren, die von den Medien weltweit folgsam angeworfen worden war, um das als Skandal entworfene Cablegate und später Julian Assanges sonderbare Verhaftung zu behandeln, und man konnte wieder einmal darauf hinweisen, wie lachhaft unfähig selbst journalistische Institutionen wie die Tagesschau inzwischen sind, eine globale Medienerregung auf ein paar relevante zugrundeliegende Fakten herunterzubrechen. Den beunruhigenden Kern der Sache hätte das nicht getroffen, und sich über die verrotteten Medien aufzuregen, ist zwar ein Spaß, den man sich gelegentlich gönnen darf, aber besonders substanziell ist es nicht.

Warum kann man über Wikileaks selbst kaum etwas sagen? Zunächst, weil unklar ist, wer hier agiert und wer reagiert. Gerüchte, daß Wikileaks dieses Material hat, gab es seit Anfang des Jahres. Nehmen Sie an, man hätte Ihnen diese Daten zugeschickt, und Sie hätten Grund zu der Annahme, daß große, böse, rücksichtslose Organisationen wissen, daß Sie sie bekommen haben. Wie beweisen Sie so jemandem, daß Sie’s gelöscht haben? Möglicherweise können Sie nur noch nach vorn ab diesem Punkt. Und nun nehmen Sie an, daß die Quelle dieses Materials einigermaßen zweifelhaft ist, in jedem Fall aber seine Integrität. Möglicherweise zwingt Sie also jemand nach vorn, der Interessen verfolgt, die Sie nicht einmal durchschauen. Wer weiß, wer da gerade warum welche Daten durch Wikileaks drückt, was Signal und was Rauschen ist. Das Problem mit Cablegate ist: Wir sind in einem Geheimdienstspiel. Man muß damit rechnen, daß die unsichtbaren Akteure professionell und unklar motiviert sind, und man muß damit rechnen, daß die sichtbaren Akteuere weder Herren ihres Schicksals sind noch wissen, welche Rolle sie spielen. Man muß andererseits auch damit rechnen, daß alles genau so ist, wie es scheint. Wer mit Schlapphüten spielt, sollte Misstrauen lernen. Genau deswegen ist es schöne Ironie, wie sich Nerdkreise in den letzten Wochen die Köpfe heiß diskutieren konnten mit der sinnlosen Frage: Pro und Kontra unbedingte Transparenz. Als gäbe es hinter dem Glas etwas Klares zu sehen, wenn nur das Glas einmal klar wäre.

Der zweite Grund, warum es so schwierig ist, sich zu Wikileaks zu äußern, ist, daß der veröffentlichte theoretische Hintergrund zu einer hochgradig gegenwärtigen Ideologie gehört, die wir alle im Netz teilweise teilen dürften. Die eigene ideologische Ausrüstung ist immer der blinde Fleck der Wahrnehmung, und wir haben bislang kaum historische Außenperspektiven auf die Netzkultur. (Die konservative Kritik existiert natürlich wie immer, aber wie immer ist ihre Funktion nur die der banalen Mahnung, daß eine historische Perspektive einst möglich sein wird.) Ob man über Wikileaks sprechen kann, ohne in die Falle eines simplen dafür/dagegen-Diskurses zu geraten, bevor überhaupt verstanden ist, wofür oder wogegen man da genau wäre, oder gleich in die einerseits/andererseits-Falle zu tappen, ist unklar, und bislang habe ich kaum überzeugende Versuche gelesen.

In die Weihnachtspause hinein, als hätten alle sich erst einmal besinnen müssen, sind nun zwei kluge Texte erschienen, die das wenig ergiebige Robin-Hood-Schema verlassen: Zum einen Bruce Sterling, der sich für meinen Geschmack zwar viel zu sicher ist in seiner Einschätzung der sichtbaren Akteure, aber sonst, wie ich denke, zwei wesentliche Charakteristika der Affaire freilegt: Erstens die Wurzeln der Wikileaks-Motivationsstruktur in der Ästhetik der Existenz des Cyber/Cypherpunk, also einer äußerst anziehend technologieverliebten Spielart des Anarchismus, zweitens die kaum zu fassende Schwäche der Institutionen, die mit dieser Herausforderung konfrontiert sind. Bruce Sterling: The Blast Shack.

Der zweite Text ist von Jaron Lanier und im Atlantic erschienen. Wie zu erwarten hechelt Lanier seine Einschätzung über den Kamm seiner Kritik der Nerdkultur, aber auch dabei wird eine Perspektive auf die Affaire frei: Den Griff nach politischer Macht, den die Nerdkultur hier macht. Wir sehen das an anderer Stelle passieren — man denke an die hier bereits diskutierten ersten Erfolge der Piratenparteien — und obwohl man im Falle von Julian Assange tatsächlich zweifeln kann, ob ihn Macht interessiert, ist sich der Chauvinismus der Nerdkultur inzwischen tatsächlich und beobachtbar seiner selbst sicher genug, um Julian Assange nicht nur als Robin Hood zu feiern, sondern ihn (und mit ihm Wikileaks) zur Speerspitze einer Avantgarde, zu der man selbst sich gehörig fühlt, zu erklären. Jaron Lanier: The Hazards of Nerd Supremacy.

[Zwei]

Fragen zur Wikileaks-Ideologie: Ist Wikileaks ein Vorschlag zur Verbesserung der Demokratie, bzw. ein mögliches Prinzip bei der Etablierung einer „digitalen Demokratie“? Geht es um allgemeine „Transparenz“? Gibt es einen Transparenzbegriff, der nicht die Sichtbarkeit von Information mit ihrer moralischen Bewertung begründet? Der Kommentarmob mag das Argument: „Privatpersonen haben ein Recht auf Privatsphäre, Staaten und Institutionen nicht.“ Lässt sich dieser primitive Konsens auf etwas anderes zurückführen als auf ein tiefes Misstrauen gegenüber den Institutionen? Es ist offensichtlich, daß Institutionen kein „Recht auf Privatsphäre“ haben müssen, um auf Grundlage von Informationsassymmetrien zu funktionieren, als Organisationen ist ihnen ein bestimmtes Informationsgefälle von außen nach innen strukturell konstitutiv. (Handelsorganisationen leben davon, daß sie Wissen über Märkte internalisiert haben und daher erfolgreicher operieren können als einzelne draußen, und die katholische Kirche feiert das Geheimnis.) Der genannte Primitivkonsens gefiele sich selbstverständlich in dieser Radikalität: Ja, die Kirche und der Handel, zwei weitere Übel, die können auch weg. Und hier spätestens offenbart sich das Prinzip „stick it to the man“ bzw. „crush the bastards“: Das um ein hehres, überzeitliches Gut bemühte, theoretisch begründete Denkgebäude gibt, wenn herausgefordert, nach, und offenbart, daß es eine Rechtfertigung für das Selbstverständnis guter alter Partisanen ist.
Nun ist gegen gutes altes Partisanentum nichts einzuwenden, im Gegenteil, aber der Charakter des Partisanen ist sein Gegner: Der Gegner des Partisanen muß das Opfer wert sein.
Wer also ist der Gegner von Wikileaks? Wer sind die Bastards? Die US-Diplomatie? Das US-Militär? Der alberne US-Senator, dessen zahnloses Gegeifer von der „Verbrecherjagd“ auf Assange tagelang kolportiert wurde? Die Bastards scheinen, wenn man die bisherigen Leaks betrachtet, zu sein: Eine unklare Verschwörung, die sich in der (an sich nicht überraschenden) Brutalität des Krieges oder der (an sich nicht überraschenden) Realpolitik des diplomatischen Tagesgeschäfts versteckt. Jedes Leak zeigt in seiner verdächtigen Harmlosigkeit nur, wieviel die Verschwörung zu verbergen fähig ist.

Diese Verschwörung könnte auch in diesem Fall, wie so oft, die unerträgliche Moderne sein.

Wir haben also zwei Möglichkeiten, Wikileaks als Erscheinung zu lesen: Als Vorschlag eines neuen kategorischen Imperativs, der lautet „Handle stets so, als ob jedermann jeden Schritt Deiner Handlung beobachten könnte.“ Oder als Kampf gegen die „Bastards“ — von denen wenig bekannt ist, auch nach den Leaks, die aber (denn so sind die Leaks ausgewählt) sicher irgend etwas mit der US-Regierung zu tun haben.

[Drei]

Zur Logik des Partisanen: Der Partisan scheint sein Tun zu rechtfertigen. Angeblich sagt er: „Mein Gegner ist böse, also bin ich im Recht, wenn ich ihn bekämpfe.“ Das ist ein Irrtum. Der Partisan hat das gehegte Gebiet des gerechten Kampfes explizit verlassen. Die Begründung (nicht Rechtfertigung) für sein Tun lautet deshalb: „Mein Gegner ist böse, also bin ich mit dem Bösen in Berührung und verwoben. Ich begehe selbst Unrecht, weil ich meinen Gegner nicht mehr ignorieren konnte und ihn zu meinem Gegner machen musste.“
Der Partisan kämpft als Schuldiger. Er akzeptiert, daß Gewalt die Sphäre des Moralischen zerstört, nicht teilt. Deshalb muß sein Gegner seiner würdig sein. Die RAF ist an ihrer Ästhetik der Existenz nicht gescheitert, weil sie sie nicht beherrscht hätte (sie hat sie meisterhaft beherrscht), sondern weil diese in einem Mißverhältnis zum tatsächlich erlittenen Unrecht stand.

Wikileaks ist keine Partisanentruppe.

[Vier]

Zur Kraft der Geschichte: Die Offenlegung von Information ist, glaubt man den Apologeten der Einen Offensichtlichen Digitalen Zukunft, mit ihrer Offenlegbarkeit identisch. Was sichtbar sein kann, wird sichtbar werden. Wir gewöhnen uns besser dran. Es handelt sich bei diesem Argument um lupenreinen Quatsch. Die Unvermeidlichkeit des technologischen Fortschritts hat keine normativen Auswirkungen. Technologie verändert Werte, wenn sie wirksam wird, aber in unvorhersehbarer Weise. Man muß es ihr schon selbst überlassen, uns zu verändern. In vorauseilendem Gehorsam Werte preiszugeben, die noch gut begründet sind, ist eine freiwillige Bewegung. Diplomatische Kommunikation ist immer abgehört worden, Krieg wurde immer von Menschen im Blutrausch geführt und so dokumentiert. Neu ist die globale Öffentlichkeit für dieses Material — die sich aber für die veröffentlichten Inhalte kaum zu interessieren versteht, nur für den Skandal.

Wikileaks ist keine unvermeidliche Kraft der Geschichte.

[Fünf]

Analyse der Inhalte: Vor allem geht es nicht schnell genug. Was wir bisher wissen: Die USA sind ein Staat mit einem diplomatischen Apparat, der manchmal unflätiges über Staatsoberhäupter sagt und gelegentlich skrupellos Machtpolitik, auch mit Gewalteinsatz, betreibt, aber das wussten wir schon. Ein böses Imperium dagegen wird nicht sichtbar. Cablegate zielt scheinbar auf die Aufdeckung eines großen skandalösen Vorgangs oder einer skandalösen Struktur. Was jedoch zutage gefördert wird, enttäuscht die Erwartungen. Die Wirklichkeit ist nicht von Ian Fleming erdacht, wir müssen uns weiter mit ihrer Banalität abfinden oder ihr ausweichen: Gibt es vielleicht eine Verschwörung, die die wirklich brisanten Informationen zurückhält? Einen Deal? Falsche Zurückhaltung? Müsste man nicht endlich Wikileaks leaken, damit es schneller ginge mit den wirklich skandalösen Sachen, und man sicher sein könnte? Könnte nicht endlich die Ungeheuerlichkeit aufgedeckt werden, die wirklich einen globalen Aufstand hervorriefe?

Wikileaks enthüllt keine Verschwörungen, sondern bestätigt, was wir wissen. Allerdings nicht alles.

[Sechs]

Die globale Nerdcommunity feiert mit Wikileaks sich selbst: Wir sind die Guten, und jetzt kommen wir an die Macht, wir zeigen’s ihnen richtig. Wir, die Nerds, die gescheiter sind als alle, und an Institutionen nicht mehr zu glauben nötig haben. Wir können alles selbst, alles mit Computern, und weil wir so schlau sind: Wir, die Rebellen.
Nur: Che Guevara trug kein Che-Guevara-Shirt, das ist der Unterschied. Der Nerd an sich hat kein Projekt und keinen Plan. Er findet nur, man soll ihn machen lassen, was er gerne macht. Dazu gehört eine Respektlosigkeit, die nicht weiter motiviert, sondern einfach interessant ist. Wie ist es mit den Nerdeliten?

Bruce Sterling über Julian Assange: He’s a darkside player out to stick it to the Man. The guy has surrounded himself with the cream of the computer underground, wily old rascals like Rop Gonggrijp and the fearsome Teutonic minions of the Chaos Computer Club.

Von denen kenne ich ein paar. Sie haben ein Weltbild und führen gelegentlich ein halbstarkes anarchisches Wort, aber sie haben keine politische Theorie. Wenn sie eine haben, wie Frank Rieger, den ich sehr schätze, findet man höchst gemäßigte, sicherlich bei den persönlichen Freiheiten stark zum Liberalen neigende, gute, nostalgische Demokraten. Der Kampf gegen Wahlcomputer, den sie mit dem „Chaos“ im Banner seit Jahren führen, auch Sterlings wily old rascal, beweist, wie geradeaus dieser Hase politisch läuft.

Wikileaks ist vermutlich nicht gegen die demokratischen Institutionen aufgestellt.

[Sieben]

Was also geht da vor? Womit haben wir es zu tun?

Zunächst der grundsätzliche Schlapphut-Vorbehalt: Wikileaks operiert in der hochgradig verspiegelten Sphäre nichtöffentlicher Kommunikation zwischen Nationalstaaten. Man muß mit allem rechnen.

Was man sagen kann, wenn alle zuvor genannten negativen Aussagen zutreffen: Alle naheliegenden Wahrnehmungsmuster für Wikileaks treffen die Sache nicht oder sind in sich inkonsistent, und das scheint interessanterweise auch für die Muster zu gelten, die Wikileaks oder die Nerdkultur, die Wikileaks feiert, selbst anwenden. Die haben sich möglicherweise selbst nicht verstanden — sie hoffen einfach, daß irgendeine ihrer nicht besonders weit gedachten Ideen irgendwo hinführt, wenn sie jemand zu Ende denkt, und bis das passiert, kann man von einer zur anderen springen, immer wenn es anstrengend wird.

Insofern ist Sterlings Deutung von Wikileaks als Erscheinung, genauer Zerfallserscheinung der Macht nicht unplausibel: Wikileaks muß als Phänomen nicht konsistent und zielgerichtet sein, es ist nur etwas, das passiert, wenn ein von anderer Seite beschädigtes Machtsystem (in diesem Fall das der internationalen Diplomatie) zerfällt. Die Ursache der Erscheinung ist die Schwäche des bisherigen Machtgefüges: Die Barbaren werden an den Grenzen des Reiches sichtbar, weil die Grenzen durchlässig werden. Die Barbaren waren immer dort, und sie wollen das Reich nicht zerstören, sondern sich zu Eigen machen. Sie verstehen aber weder, wie das Reich funktioniert, noch, was der Preis für sein Funktionieren ist. Sie lesen es durch ihre vulgären (stark abwertenden) Kategorien hindurch. Dabei lieben sie es und wollen es besitzen.

Ich glaube, daß wir sehr wohl ein Wort für das haben, was Julian Assange ist: Er ist ein Barbarenführer, in der vollen Komplexität des Begriffs. Einer, der fanatisch erobern will, was er zu verstehen sich weigert und moralisch nicht dulden kann, weil es ihm dekadent erscheint. Seine digitale Horde folgt ihm begeistert: Leute, die aus einer Welt kommen, in der keine moralisch fragwürdigen Duldungen des Wirklich Anderen je nötig waren.

Wir, Décadents des alten Reiches, ich auch, haben naturgemäß eine gewisse Zärtlichkeit für die Barbaren. Sie sind nicht unsere Feinde, sie erlösen uns.

[Nachtrag: Ein gerade erschienener Text von jemandem, der in Sachen Wikileaks zumindest weiß, wovon er redet: 27C3 keynote by the wily old rascal himself.]

Link | 26. Dezember 2010, 0 Uhr 53 | Kommentare (8)


8 Comments


Ich bin kein Nerd, habe eine politische Agenda und unterstütze Wikileak vollinhaltlich. Was nun?

Kommentar by soror | 12:04




Sehr spannende Phänomenologie Wikileaks‘, danke. Mir persönlich ist der akteurzentrierte Ansatz allerdings zu reduktionistisch. Ich glaube nicht, dass die Intentionalität sowohl der Sphäre des Spiegelkabinetts als auch eines Assange und der Nerdcommunity die einzig wirksamen Variablen sind. Weder sind die Nerds eine homogene Gemeinde, deren Ideologie sich durch Wikileaks in einer Ablehnung des Hegemon „the man“ manifestiert, noch ist „die Diplomatie“ das eigentliche Ziel eines anarchistischen Angriffs auf asymmetrische Wissensverhältnisse.

Obendrein ist doch der „Leak“ als solcher keine Neuerung. Neu (und noch in der Entwicklung) sind vielmehr die Mechanismen digitaler Kommunikation, in der alles Spuren hinterlässt und eine kritische Menge an Spuren plötzlich die Schwelle zum Kommunikationsbeitrag selbst überschreitet. Wenn also ein Problem sein soll, dass Wikileaks ein Produkt einer Ideologie ist, für die es noch keine Außenperspektive gibt, sage ich: Nö.

Wir können den Zeitgeist und seine Ausprägungen mit allem analysieren, was die Epistemologie so hergibt. Das ist mehr als Konservatismus. Transparenz und Demokratie sind ideengeschichtlich immer mit dem Konstrukt des Staates verwoben gewesen. Jetzt haben wir halt Postdemokratie in einem neuen Kommunikationsparadigma, in der Transparenz als Konzept wirkt. Wikileaks ist doch nur eine von vielen möglichen gesellschaftlichen Weiterentwicklungen des Spannungsfeldes von Herrschaft und Information. Die Sprengkraft bezieht es nicht aus seiner radikal neuen Idee, sondern vielmehr aus einer alten Idee, die in neuem Umfeld wirkt.

Kommentar by erz | 12:50




@soror: Nun, das ist wenig überraschend. Fast jede irgendwie auf Destabilisierung sinnende politische Agenda, Nerdbit an oder aus, dürfte Wikileaks unterstützen können, und selbst im gemäßigten Spektrum gibt es eine Menge Gründe dafür — das ist unbestritten.

@erz: Ich weiß nicht, ob es ein Problem ist, daß Wikileaks das Produkt einer Ideologie ist, auf die es noch keine richtige Aussenperspektive gibt, aber ich denke, daß das der Fall ist.
Wie gesagt: Neue technologische Möglichkeiten werden nicht automatisch von einer Gruppe von Freiwilligen als Waffe gegen bestehende Strukturen geführt, dazu bedarf es einer Entscheidung, und man muß fragen, wie die begründet ist und wer diese Begründung nachvollziehen kann. Das neue Kommunikationsparadigma ist auch nicht einfach „halt“ da. Das Internet ist da, aber es ist von einer bestimmten Sorte Menschen mit bestimmter ideologischer Ausrüstung so geschaffen worden, wie es ist. Wir haben es alle ziemlich gern, aber wie wir es weiterentwickeln und wofür wir es einsetzen, gehört in den Bereich unserer Freiheit, nicht in den Bereich der Tatsachen, die jetzt einfach so sind.

Kommentar by spalanzani | 14:07




Danke für den differenzierten Beitrag, und an erz für den Kommentar. Ich hänge immer noch an der Frage, wer hier alles die Finger im Spiel hat, und welches Spiel das eigentlich ist, das da gespielt wird. Die Mitspieler, namentlich Wikileaks, Regierungen mit ihren Geheimdiensten, Medien, Nerds außerhalb WL, scheinen bekannt – aber wer spielt noch mit? Wer agiert, wer reagiert, wer nimmt mehr teil, als er zugeben mag, und welche Rolle haben darin eigentlich wir? Die des Beobachters, der auch einsteigen kann, sobald er an brisantes Material gerät, und was ist eigentlich „brisant“? Oder sind wir doch auch Akteure, realisieren das jedoch nicht unbedingt? Ehrlich: Ich weiß es nicht. Ich glaube nur, dass es immer noch einen Unterschied macht, ob man mutmaßt, glaubt, sich nach Hörensagen-Informationen sicher ist, dank Buschfunk weiß, dass gespielt wird – oder ob man Beweise hat. – Auch wenn die tröpfchenweise und auf kritikwürdigen Kanälen verbreitet werden. Auch wenn diese Informationen und ihre großen Zusammenhänge, so existent, abseits von Verschwörungstheorien stellenweise zunächst eher mehr zu vernebeln als zu enthüllen scheinen. Aber immerhin gibt es sie. Was damit passiert, welche Konsequenzen sie haben – wird sich zeigen.

Alles, wo ich mir sicher bin, ist, dass ich weniger weiß, als ich gerne wüsste. Und dass ich gerne hätte, dass sich das ändert.

Kommentar by Lena | 14:13




Es gibt sie die guten Ansätze über wikileaks (hinaus) nachzudenken. Schön hier gelandet zu sein.

Vor kurzem startete ich eine Diskussion über „Digital Natives – digital & naiv“ – Es ging mir darum zu verstehen, wie es innerhalb der Internetaktiven möglich ist, sich an einem bunten Sammelsurium von Handlungen zu erfreuen ohne mit teilweise klaren ideologischen Brüchen auch nur im Geringsten ein Problem zu haben.

Beispiel: Man kennt alle Verschwörungstheorien, nimmt an carrot-mobs teil und freut sich, wenn das eigene Start-Up für ein Schweinegeld von einem Großkonzern gekauft wird. Einfach so.

Die Diskussion dauert an, aber positiv kann ich schon jetzt sagen, es gibt einen Drang danach – die neugefundene geistige Freiheit in einen verantwortlichen Kontext zu setzen, der denn Aufgaben der Zeit gerecht werden will.

Der fehlende kohärente ideologische Überbau nicht nur von wikileaks, sondern der ganze Internetbewegung ist gleichzeitig Chance und Risiko.

Durch die pure Begeisterung an den technischen Möglichkeiten und deren Anwendung wo auch immer es möglich ist, hat den Digitalen sicher mehr Entfaltungsraum gebracht als unendliche ideologische Diskussionen, wie sie für die Generation üblich waren, aus der das Web entsprungen ist.

Doch langsam ist diese Technikdeterminiertheit nicht mehr ausreichend, wenn man durch das Handeln alte Systeme in Frage stellt.

wikileaks Cablegate bestätigt tatsächlich oftmals nur, dass die Mechanismen der alten Mächte genauso verlogen und hinterhältig sind, wie man es sowieso schon geahnt hat. Doch werden dadurch neue Fragen nach dem Warum? oder gar dem Wie besser? aufgeworfen – Nein.

Es werden Fassaden eingerissen, die für viele sowieso nur noch Makulatur waren. Die hektische Reaktion der Mächtigen ist nicht etwa dem „Erfolg“ dieser Gruppe geschuldet, sondern will durch das ganze Tohuwabohu um Assange usw. sicherstellen, dass diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten gelernt haben blind und zynisch zu sein auch weiterhin nur kurz erbost auf den Fernseher blicken und in ihrer Lethargie verharren.

Der Kampf um die Vorherrschaft in Kommunikation und Information wird nicht einfach sein. PsyOps und PR haben einen jahrhundertelangen Vorsprung in der Entwicklung von Strategien zur Realitätsgenerierung. Aber vielleicht ist ja genau das Einsteigen in diesen Kampf schon der erste Fehler.

Es gibt kein digitales Utopia, das nicht auch im Physischen verhaftet sein wird (außer es wird ohne den Menschen umgesetzt, aber wer will das schon von uns). Insofern ist es müßig die Barlow’sche Freiheitserklärung nach all den Jahren wieder hervorzuholen, da diese eben genau das völlig negiert, worum es eigentlich geht:

Das Web, die digitale Ebene unserer Realität, ist der Ort, von dem eine neue Aufklärung gesamtgesellschaftlich gestaltet werden kann – es gibt keine Parallelwelt. Wie alle aufklärerischen Bewegungen ist sie bunt und uneinheitlich – Es ist der Versuch, dem menschlichen Naturell eben ohne Verachtung und gegenseitiger Vernichtung entgegenzutreten ohne es zu negieren.

Und wie so oft sind es die anarchistischen Kräfte, die irgendwann die Geduld verlieren und auf den Putz hauen (und damit zu allererst ihre eigenen Ideale über Bord werfen). Auch wenn sie dadurch als erste verlieren, ist es gut, wenn einer endlich richtig ungeduldig wird.

— Ich habe bisher erst von einer gelungenen digital-anarchistischen Wandlung gelesen und das war in einem Roman. Die Technolibération in Greg Egans „Distress“(1995), die auf ihrer künstlich geschaffenen Insel „Stateless“ leben und den Angriffen der Unfreien widerstehen. (Leseempfehlung)—

Die Geschichtslosigkeit vieler Webaktiven (insbesondere von Piraten) ist eine Schwäche. Romantische Sichtweisen auf verlorene Schlachten für Freiheit und Gleichheit ersetzen nicht den kritischen Blick zurück.

Die Einordnung des Werkzeuges Internet in die Tradition des aufklärerischen Handelns, das Wissen um den geschickten Missbrauch durch die Kräfte, die den Status Quo aufrechterhalten wollen und letztendlich der Wille aus den erweiterten digitalen Möglichkeiten eine gesamtgesellschaftlich wirksame Kraft entstehen zu lassen – für all das braucht es ein wenig mehr als eine technische Basis zum Leaken der Geheimnisse der Anderen.
Was es genau braucht wird hoffentlich in 2011 an vielen Stellen Thema sein.

(aus Greg Egans „Disstress“ (dt.“Qual“)
Don’t you ever get sick of living in a society which talks about itself, relentlessly – and usually lies?

Kommentar by Jens Best | 15:08




@spalanzani
Ich bin der letzte, den du überzeugen müsstest, dass Medien von Nutzern gemacht werden http://kontextschmiede.de/von-alten-medien-lernen/

Nichtsdestotrotz bewerten wir den Medienwandel wohl deutlich anders. Ich behaupte nämlich, dass er zwar nicht abgeschlossen ist, aber sehr wohl schon Tatsachen geschaffen hat, aus dem in einer gewissen Pfadabhängigkeit die Optionen der Nutzer zur Weiterentwicklung eingeschränkt sind. Ein neues Paradigma ist sehr wohl schon da. Die Mechanismen, nach denen Kommunikation anders abläuft als zur Zeit der senderzentrierten Massenmedien, die sind allerdings noch weitgehend unverstanden und die Konventionen bilden sich gerade erst heraus. (egal, was gerade die Nerds aus ihrer Binnenperspektive sagen – Nutzerkompetenz kann auch blind machen). Die Konventionen werden sich übrigens nach meiner vom Studium solcher Kommunikationsprozesse bestimmten Ansicht gerade nicht nach dem Selbstverständnis einer Avantgarde ausrichten, sondern von einem der „Medienkompetenz“ unverdächtigen Mainstream bestimmt. Während die Nerds sich in der Nabelschau ihrer Wichtigkeit ergehen, picken sich die DAUs ein paar Brocken heraus, die für sie alltagstauglich sind und schaffen Fakten.

Das ist wie mit Sprache – egal wie elaboriert der Duktus in deiner peer-group sein mag, wenn du dich allgemein verständlich machen willst, sprichst du den Standard, der sich durch den für dich unzugänglichen Prozess des Sprachwandels etabliert hat. Falls du den Reduktionismus an dieser Stelle entschuldigst 😉

Desweiteren behaupte ich auch, dass es erkenntnistheoretisch immer möglich ist, sich einem Phänomen aus verschiedenen Richtungen zu nähern. Du kannst Wikileaks oder die Netzbewegung jeweils für sich betrachten, ohne einen Kausalnexus im Verhältnis der beiden Phänomene annehmen zu müssen. Du könntest Wikileaks marxistisch interpretieren und Nerdtum aus feministischer Theorie heraus. Die Ideengeschichte bietet dir einen Fundus von 200.000 Jahre aus dem du dich bedienen kannst. Das Nerdtum ist ja nicht aus dem Nichts entstanden.

Kommentar by erz | 15:22




Ich glaube auch, dass WikiLeaks (WL) viel weniger einem ideologischen Überbau zuzuordnen ist, als man vielleicht gemeinhin denkt. Die Überraschungen aus Cablegate sind nicht derart großartig, dass sie einem politisch interessierten oder denkenden Menschen erschüttern. Einige Details erhält man dank WL nur etwas früher als sonst. Aber auch ohne Assange hatte man recht schnell erfahren, dass Bismarck die Emser Depesche gefälscht hatte. Daher ist für mich die Reaktion der USA völlig übertrieben. Sie resultiert vermutlich daraus, dass man nicht genau weiss, welche Informationen man wirklich hat. Meines Erachtens dürfte WL mit den Afghanistan-Dokumenten mehr Schaden angerichtet haben als mit diesen mehrheitlich sehr banalen Einschätzungen.

Hinzu kommt, dass nicht klar ist, welche Dokumente fehlen. D. h. selbst wenn irgendwann einmal alle „ge-leakten“ Dokumente vorliegen, gibt es noch -zigfach mehr solcher Nachrichten, dessen das/die Leck/s nicht hafthaft waren. Insofern gibt WL immer einen Ausschnitt wieder, der jedoch fast mehr ver- als enthüllt.

Bedenklich finde ich das autoritäre Gesinnungsverhalten der „Nerds“, die legitimationslos Webseiten lahmlegen. Diese Leutchen als harmlose Spinner abzutun, die nur „viel Spaß“ haben (Sixtus), greift zu kurz. In Wirklichkeit wird damit die apolitische Dimension dieses Hypes angezeigt.

Kommentar by Gregor Keuschnig | 16:30




Hinweis @all.

Soziologische und kulturwissenschaftliche Techniken bringen Sie hier nur ein kleines Stückchen weiter. Aber schwerlich auch nur in die ungefähre Nähe.

Kommentar by BionicAdorno | 0:38