Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Ich bin ein Freund der Elektrizität, begeistert von Großindustrie, Feuer in der Nacht, glühendem Stahl und der Eisenbahn. Solche Vorlieben sind unpopulär geworden in Zeiten, in denen ein nachhaltiges, sanftes, von allen gefährlichen Kräften gesäubertes Hightech-Öko-Arkadien von Geißenmelkern und Pelletheizern die gängige Technologietranszendenzphantasie geworden ist — selbstverständlich, während die in die Ferne gerückte Industrie mit unvermindertem, nein gesteigertem Ingrimm Energien umsetzt und Waren ausstößt, denn: Die da vom Geißenmelken träumen leben in Großstädten und posten indeß ihre Tumblr voll mit Bildern unserer unbestreitbaren Glorie. Die Kraftwerke vor den Toren der Städte stemmen sich treu ins Netz, und niemals flackern die Schirme, auch die schäbigste Forumsrechthaberei halten sie unverdrossen in der Wirklichkeit, Stunde um Stunde: Das Internet bleibt an, im gewaltigen Sog der Öfen poltert weiter die Kohle ins Feuer, Meiler und Windräder tun ihren Dienst.

Ich bin ein Freund der Elektrizität. Meine Augen und Hände leuchten in der Nacht. Ich spüre Strom, wie andere Wärme spüren.
Manchmal spreche ich mit Getränkeautomaten.

Über Kernenergie kann man immer noch streiten. Die Verhältnisse sind immer noch weitaus weniger offensichtlich, als sie in der gegenwärtigen Stimmungslage scheinen. Tschernobyl und, bislang viel weniger dramatisch, Fukushima, belegen nicht, was sie in der aktuellen Erregung zu belegen scheinen. Das berühmte Restrisiko ist eben genau das: Ein Risiko, abzuwägen gegen Jahrzehnte von Wohlstand. Der erste Reaktor in Fukushima wurde 1971 in Betrieb genommen, dem Jahr, in dem Texas Instruments den Mikroprozessor patentierte und mit dem Intel 4004 der erste auf einem einzigen Chip integrierte Computer erschien.

(Diese Betrachtung ist zynisch gegenüber den Einwohnern der Zwanzig-Kilometer-Zone, die ihre Heimat verloren haben, uns allen anderen gegenüber ist sie es nicht. Wir haben Glück. Wir haben Strom und Gärten, in denen ungefährliches Gemüse wächst.)

Kernkraft könnte ihr Risiko durchaus wert sein. Zwei wirklich schwere Unfälle in diesen vierzig Jahren, davon einer durch das viertschwerste je gemessene Erdbeben, selbst unvorstellbar viel verheerender als die Folgen der Kühlungsausfälle an den vier beschädigten Reaktoren.

Der andere Unfall aber war kein gewöhnlicher Unfall. Tschernobyl ist gleichberechtigt einer der großen Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts, kein einfacher Industrieunfall mit gravierenden Folgen und vielen Toten. Im Sarkophag ruht keine havarierte technische Anlage, dort lodert ein Tor zur Hölle, der glühende Schlund, in den wir tagelang starren konnten. Die bisweilen lächerliche Obsession der deutschen Medien mit der Kernschmelze in Fukushima zeigte sehr deutlich, um was es in der Wahrnehmung der Fukushima-Katastrophe eigentlich ging: Die Frage, ob sich dieses Tor zur Hölle noch einmal auftun würde. Dieses betonrülpsende, ahnungslos weinende, Schaufeln tragende russische Männer zu tausenden verschlingende, in blassen Farben auf zerfallendem Filmmaterial tobende, einen schwarzen Partikelsturm von unsichtbar reinem Bösen ausströmende LOCH. Der kulminierte, in ein rasendes Graphitfeuer zusammengezogene, nukleare Leichtsinn des kalten Krieges: Das offenliegende Herz des Schreckens und der Name der namenlosen Angst der 80er Jahre.

Wenn wir über Kernkraft diskutieren, müssen wir eins zuallererst zugeben: Wir befinden uns in der Domäne unserer Ängste, jenseits der Risiken und Vorteile abwägenden Rationalität (wir könnten beides nicht seriös beziffern). Das ist legitim und keine Diffamierung der Gegnerschaft. Im Gegenteil. Ich, ein Freund der Elektrizität, aber auch einer, der 1986 sieben Jahre alt und auf den Anblick der Hölle nicht vorbereitet war, würde sie lieber heute als morgen abschalten: Diese fabelhaften, verrückten Kraftwerke, die mit fast nichts und ein bisschen Wasser Waschmaschinen treiben und das Internet, unser Exo-Nervenkostüm aus Elektrizität. Ich würde diese Dinger abschalten aus vollkommen irrationalen Gründen: Ich habe eins besucht.

Ich war in Gundremmingen, vor vielen Jahren. Die Präsenz der Reaktoren ist atemberaubend. Jeder Zoll Beton vibriert, die Gebäude sind umgeben mit den Auren der unvorstellbaren Energien, die dort umgesetzt werden, mit der Bewegung, die herrschen muß, um die Kräfte unter Kontrolle zu halten, mit der Rückabhängigkeit also von der Zivilisation, die von dort mit Strom versorgt wird — dreissig Prozent des bayerischen Bedarfs, aus zwei Maschinenhallen. Die technische Intelligenz, die sich über Jahrzehnte spannende Anstrengung der Infrastruktur, wird an diesen Orten gegen Elektrizität getauscht, es herrscht ein spürbar fragiles Gleichgewicht von verhaltener Brutalität. Die Reaktoren in ihren Betongehäusen sind böse, launische Augen in luziferischem Licht. Ihre Präsenz ist greifbar. Man will weg, nur weg, und irgendetwas tun, damit es aufhört, einen Starfighter draufwerfen, es wenigstens hinter sich bringen.

In Gundremmingen gibt es ein Informationszentrum, das so ist wie die Webseite des Kraftwerks: Rechthaberisch, kraftmeierisch, auftrumpfend. Mit diesem seltsamen blassen SIEMENS-Grün, das bedeutet, daß hier deutsche Ingenieure ihr Bestes geben. (Herrsche, wer da wolle.) Als ich dort war, gab es das Wort Brückentechnologie noch nicht, aber ich bin sicher, daß es jetzt auch dort aufgenommen ist und aufs Frechste impliziert, daß es Nicht-Brücken-Technologien gäbe: Es ist also schon fast ausgestanden, das Pelletheizungsnirvana erwartet uns unmittelbar. In dieser sanften Zukunft, wenn die nachhaltigen Technologien, die keine Brücken mehr sind und für immer bleiben, überall eingesetzt sind, wird die große Stasis erreicht sein.

Es ist leider schon wieder nicht so einfach. Nicht einmal mit der Kernkraft: Unsere Bedürfnisse prallen auch hier aufeinander, unsere zwei Naturen, die Frieden wollen und Vernichtung, Ruhe von uns verlangen und die Entfaltung von Kraft, den Stahlklang der Eisenbahn und die geriffelten Spiegelbilder von Schwänen und Stratocumulus in Quecksilber.

Sicher ist nur eins: Es gibt kein Zurück. Das grünkonservative Ideengebilde einer nachhaltig beheizten dezentralen Ewigkeit ignoriert nicht nur die Tatsache des Kapitals, sie ignoriert auch die Beziehung zwischen Kapital und Geist (deren Manifestation das Internet ist und die niemand mehr missen will). Die Sehnsucht danach ist nicht falsch, das können Sehnsüchte nicht sein, aber das Als-ob, das diese Zukunft für möglich annimmt, ist dumm oder unredlich. Dieser Planet ist auf dem Weg in eine rasende, atemlose, bioelektrische Zukunft, ein Crescendo, hinter das man nicht schauen kann, ganz gleich, ob wir unseren Ängsten folgen und unsere Kernreaktoren abschalten oder nicht.

[Stilübungen]

Link | 23. April 2011, 2 Uhr 23 | Kommentare (8)


8 Comments


Nun. Das hätte ich jetzt gern in der neuen NG gelesen.

Kommentar by dust | 10:54




An Kernspaltung bewundere ich immer die großartige Andersartigkeit und Schönheit des Denkens, die es von den anderen Arten der Energieerzeugung abhebt, denn Verbrennung ist primitiv, und Wind- und Wasserkraft aus wissenschaftlicher Sicht noch primitiver.

Ich bin allerdings auch immer mit dem generellen Zustand der Welt unzufrieden: Im allgemeinen sollte man ja den Eindruck haben, wenn nicht in der modernsten aller möglichen Welten, so doch in einer guten Approximation zu leben. Ich habe aber immer den Eindruck, dass ich irgendwie mit strukturellen Relikten aus dem 19. Jahrhundert zusammenlebe, und bin ärgerlich, weil ich denke, dass man sich aus reiner Gewöhnung so bald nichts besseres ausdenken wird als leckende Gas- und Wasserleitungen. Denke dann z.B.: Gibt es WIRKLICH nichts besseres, um mich sauberzukriegen, als mich vollständig auszuziehen, und schlecht und recht mit Wasser abzusprühen, das wiederum durch Röhren zu- und abgeleitet wird? Wirklich? Mann, das ist arm.

Kommentar by E. | 23:47




Den Effekt finde ich aber bei Kernkraft besonders stark: Diese Kraftwerke sind ja nichts als Kohlekraftwerke mit verrückter Kohle. Wasserdampf und Turbinen, Rohre, Becken, Kräne für Treibstoff — und so viktorianische Probleme wie verklemmte Ventile?

Kommentar by spalanzani | 9:35




Das ist ja kein Widerspruch, das ist genau die Illustration meiner Beschwerde, das aktuelle Konzept des Kraftwerks „Hey, wir brauchen was, was Hitze uebertragen kann – hm, wie waers denn mit Wasser, und dann nochmal Wasser, das also das gute Wasser sein soll, und ne Wand dazwischen, damit sich das ganze nicht mischt“ ist der Kernspaltung bei weitem nicht gewachsen, genau wie die Konzepte der Energieuebertragung – „machen wir ne lange Leitung, oder hey, machen wir doch wieder Wasser warm“. Was mich also erstaunt, ist, dass man das Problem nicht in der Infrastruktur sondern in der Art der Energieerzeugung sieht. Ueber die Kraftwerke selbst habe ich aber auch nicht gesprochen, da gebe ich allen Leuten recht, die um ihr Leben fuerchten, aber das Hochangereicherte Material selbst ist eben keine „verrueckte Kohle“, es so zu behandeln, ist eher im Einklang mit der Furcht der Leute, die Kernspaltung selber einfach nicht verstehen und sie weghaben wollen, die Prozesse selber sind sehr klar und vorhersehbar, sogar die Kernschmelze, sogar, wieviel Material man dazu braeuchte, ist ebenso eine feste Groesse wie die kosmischen Geschwinndigkeiten. Ich wuerde einfach geerne die Idee gewuerdigt sehen, die ungleich schoener ist als die der simplen Verbrennungreaktionen.

Kommentar by E. | 11:30




Vermutlich haben mich die ganz einfachen Ideen immer daher fasziniert, weil ich so ganz zu den Relikten des 19. Jahrhunderts gehöre. Ich werde nie vergessen, wie mir eine Dokumentation über die Inka vor Augen führte, dass ein Wasserleitungsrohr auch nach Jahrhunderten des Vergessens immer noch funktioniert. Hierzu gehört dann wohl auch eine gesellschaftliche Organisationsform, nach der sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten gern gesehnt wurde, zumindest solange sie nicht als staatliche Realität gelebt werden musste. Seltsam, dass heute immer noch Technik und Leben in den Debatten so weit auseinander fallen. Ob die Teflonhaut dank Fortschritten in der Gentechnologie das Problem mit dem Waschen löst und die 3.0-Version dann wieder zärtliche Berührungen zulässt, weiß ich nicht, aber schon Heute werden die Testphasen ja auf den Endverbraucher ausgelagert. Der Wunsch, Technologien zu entwickeln, die ein neues Denken einschließen, begeistert mich dann aber doch.

Kommentar by generatoren | 17:48




[…], dass ein Wasserleitungsrohr auch nach Jahrhunderten des Vergessens immer noch funktioniert. Hierzu gehört dann wohl auch eine gesellschaftliche Organisationsform, nach der sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten gern gesehnt wurde, zumindest solange sie nicht als staatliche Realität gelebt werden musste. Seltsam, dass heute immer noch Technik und Leben in den Debatten so weit auseinander fallen.

Ich dachte eine Weile nach, was das wohl heissen sollte, und kam schließlich drauf, aber – die Inkas als frühe Kommunisten, das erscheint mir doch als sehr gewagt. Den Übergang zum nächsten Gedanken verstehe ich gar nicht mehr. Ohne Kommunismus keine funktionierenden Abflüsse? Soll das behauptet werden?

Dazu würde ich gerne anmerken, dass sich im Besitz meiner Großtante diverse Gegenstände befinden (unter anderem ein wirklich vorzüglicher irdener Melitta-Kaffeefilter) auf denen „Drittes-Reich-Patent“ zu lesen steht. Allein, was sagt uns das? Hätten die Nationalsozialisten, hätten sie denn weniger als 1000 Jahre für ihr Reich veranschlagt, die Herstellung von Dingen geringerer Haltbarkeit stärker gefördert? Ein befreundeter Russe meinte übrigens auch, die Stalinbauten seien denen der Ära Chrustschow bei weitem vorzuziehen, aus Gründen, die sich dem geneigten Leser relativ leicht erschliessen werden. Leider scheinen hier die Abflußrohre die Jahrtausende nicht so gelassen hinzunehmen, geschweige denn die Jahrzehnte.

Kommentar by E. | 22:43




Warum eigentlich die Pawlowschen Reflexe, um ein beliebtes Bild herzunehmen, bei der Andeutung gesellschaftspolitischer Veränderung so oft auf Kommunismus und Nationalsozialismus hinauslaufen, bleibt mir ein Rätsel, hat doch die Demokratie angeblich das Potential, sich selbst zu erneuern. Den Urkommunismus bei den Inkas suchen wollte ich sicher nicht, lediglich meine Faszination für einfache technische Lösungen auf den Punkt bringen. Wie diese in der Zukunft aussehen und womöglich Leben und Technik harmonisieren, weiß ich sowenig wie Sie, gehöre ich doch zu jenen skeptischen Menschen, die gerade für den Umgang mit der Zukunft einen heiteren und freien Umgang einfordern, weil unsere Form der Logik nicht ewig Bestand haben wird, wenn man den Erfahrungen aus der Vergangenheit trauen darf. Diese Zukunftsskepsis ist auch von anderen nicht zuletzt gegen Sozialismus, Kommunismus und Nationalsozialismus eingewandt worden, wie ich finde, mit Recht.

Kommentar by generatoren | 12:51




Naja, man wird es mir verzeihen, wenn ich mal kryptische Formulierungen wie Hierzu gehört dann wohl auch eine gesellschaftliche Organisationsform, nach der sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten gern gesehnt wurde, zumindest solange sie nicht als staatliche Realität gelebt werden musste in Richtung Kommunismus interpretiert habe, falls Sie wahlweise Feudalherrschaft, Anarchie oder den Amazonenstaat gemeint haben sollten, dann war das nicht so klar ersichtlich.

Und – „warum die Pawlowschen Reflexe“? Nun, die Dinge aus Kommunismus und Nationalsozialismus sind, im wahrsten Sinne des Wortes, naheliegend. Zwar hatte ein Nachbar auch mal ein Schwedenschwert zuhause, das nach einigen hundert Jahren wieder aus dem Moor gebuddelt wurde, jedoch war die Funktion deutlich eingeschränkt.

…weil unsere Form der Logik nicht ewig Bestand haben wird, wenn man den Erfahrungen aus der Vergangenheit trauen darf. Naja, falls uns mal die Roboter und nicht die Affen übernehmen, dann müssen Sie sich mit „unserer Form der Logik“ schon irgendwann anfreunden && ich traue mich auch zu vermuten, dass Sie mit „Logik“ nicht dasselbe meinen wie ich. || falls es die Affen sind: Dann sollten Sie ihr mechanisch-technisches Denken aufmöbeln.

Kommentar by E. | 16:13