Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Wenn man einen Roman schriebe, der in Berlin spielte, im Dezember: Die Figuren müssten unbedingt völlig willenlose, verwirrte Gestalten sein, die vom Wetter bewegt werden, von der Dunkelheit und einer Art gemeinsamer Trägheit, die ihr Antrieb wäre, weil sie nur trägheitsbestimmte Dinge tun dürften. Ihre Wahrnehmung wäre pure Verweigerung, jeder Blick ein Vorwurf, jeder Gedanke ein Gedanke an das große Woanders, jedes Glück eine Erinnerung oder eine Projektion von einem anderen Ort; weil der Berliner Winter Schleier über selbst die schönen Dinge wirft, so daß sie aussehen wie kränkliche Schatten, die eines fremden, künstlichen Lichts bedürfen, dessen sie so unbedüftig wären wie jede andere Schönheit, wenn sie nicht in diesem trägen Zustand schwömmen.

Weil das Wetter und das Licht in uns handelt und nicht umgekehrt, muß man eine neutrale, zugezogene, geheizte Dunkelheit mit Zugang zum Netz aufsuchen und darin: Die Sonnenflecken auf berankten Stoffen, mattes Glänzen, tiefblau transparente Blitze aus der Ferne und abgeplatzer Putz, geschmiedetes Eisen, Blüten und den kühlen letzten Atem der untergehenden Sonne.

Wenn man dann wieder auftaucht, aus alldem, und auf die dunkle gelbgewalkte Stadt blickt, ist man zwar nicht wieder Subjekt geworden in den Berliner Wintergeschichten, aber wer eine intakte Demut hat, weiß dann, daß es nicht nur ein Recht auf Leichtigkeit gibt, sondern einen stillen Deal mit ihr: Winter-Entscheidungen sind immer Entscheidungen des schleichenden Unglücks, und obwohl sie natürlich voll wirksam und verantwortet und gültig sind, zählen sie eigentlich nicht, sondern sind ungedeckte Schecks, bis das Licht zurückkehrt. Einstweilen kann man nur die Taten des Wetters akzeptieren oder versuchen, aus der Dunkelheit zu fliehen und den Abgleich der Wunsch-Wirklichkeitsdiskrepanzen im Licht noch einmal zu vollziehen. Im norddeutschen Winter ist alles, was gut oder schlecht ist, nur relativ zum norddeutschen Winter gut oder schlecht. Er ist eine unmittelbare, nicht hintergehbare Wahrnehmungsbedingung und verseucht alles. Wer bleibt, kann ihn nur aussitzen, schulterzuckend, lächelnd, mit der kultivierten Kamin-Resignation derer, die über unbewohnbares Land herrschen.

[Und wenn der nasskalte Wind ins Sakko fährt und alle Gewissheiten wie Schals vor dir herweht: Greife nicht danach und laß sie flattern. Sei ein Spieler. Lach mit dem Wind.]

Link | 5. Dezember 2005, 23 Uhr 17