Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Dinge, die wir von Zügen, die nicht kommen, lernen können:

1. Wenn eine Straßenbahn nicht kommt und man wartet und sie kommt immer noch nicht, kommt man zu spät und hat eine halbe Stunde ohnmächtig fluchend im Regen gestanden. Wenn eine Straßenbahn nicht kommt und man geht zu Fuß und sie kommt doch und überholt einen, kommt man zu spät und marschiert durch den Regen; aber, und das ist der entscheidende Punkt, man ist in Bewegung, kann schneller gehen, Leute aus dem Weg schubsen und ist wieder Herr seines Schicksals. Nicht nur im sogenannten ÖPNV-Kafka-Deadlock gilt also: Geh den Weg der Kontrolle und geh‘ ihn zu Fuß.

2. Wenn eine S-Bahn nicht kommt und man wartet und der Bahnsteig füllt sich und füllt sich immer weiter und man ist stoisch und ruhig und schicksalergeben, und dann kommt eine unsympathische alte Rentnervettel die Treppe hochgewatschelt mit Opfergetue und Vorwurf in jeder Bewegung und gleichzeitig fährt die Bahn ein, dann hat man es mit einem sogenanntes ÖPNV-Weinberg-Dilemma zu tun: Das Gefühl, daß man selbst, mit all den Plänen und Vorhaben und Terminen, 30 Minuten gewartet hat, während die Alte, die nichts mehr vor hat als jeden für ihre eingebildete Misere verantwortlich zu machen, einfach so, ohne auch nur zu bemerken, daß es ein S-Bahn-Problem gab, in denselben wertvollen Zug hineinwackelt, dieses Gefühl ist eines der tief empfundenen Empörung gegen eine Ungerechtigkeit biblischen Ausmaßes. Da aber niemand außer der mächtigen Kontingenz je für das Zusammentreffen von Verzögerung, Selbst und alter Vettel verantwortlich zu machen ist, hat man drei Möglichkeiten: Den unvermeidlichen Haß auf das System, also ins Blaue, auf die Alte, also eine Unschuldige, oder auf das Gefühl der Ungerechtigkeit, also nach innen zu wenden. Da Haß auf ein System lächerlich und Haß auf die Alte blöde wäre, bleibt nur die Lektion: Das Gefühl der Ungerechtigkeit ist inhaltlich nichts wert, wird vom Menschenhirn offenbar aus purer genetischer Gewohnheit produziert, von jeder Albernheit ausgelöst und sollte von klugen Leuten, die ihre Nahverkehrslektion gelernt haben, mit einem lächelnden Schulterzucken quittiert werden.

Link | 11. Dezember 2005, 14 Uhr 38 | Kommentare (1)


Ein Kommentar


Bis zur fünftletzten Zeile wollte ich schreiben:

Hörn Sie auf Luhmann zu lesen und ändern Sie Ihre Prämissen.

Aber dann sind Sie ja noch von selbst drauf gekommen.

Kommentar by amh | 22:42