Vigilien

is there any any? nowhere known some?

„Eine Folge der westlichen Versessenheit auf Transzendenz, logisch gefasste Negation, die Reinheit der Unterscheidungen und ‚Wahrheit‘ ist eine Physik, die immerzu großsprecherisch versichert, kurz vor ihrer Vollendung zu stehen. Unfassbar ist die in solchen Verkündigungen ausgedrückte Verachtung für die Wirklichkeit: Was für eine Katastrophe der Libido muß da passiert sein, daß ein Physiker lächelt, wenn er sagt, die Geheimnisse der Natur seien ausgeschöpft? Wären derlei Aussagen nicht so offenbar Zeugnisse größenwahnsinniger Verwirrung und also selbst längst lächerlich: Kaum wäre es wohl möglich, sich ein schrecklicheres Bild auszumalen als das eines Kosmos, ausgestreckt unter den impertinent ihn betatschenden Fingern grinsender Affen. Und doch ist es kaum überraschend, daß man Seichtigkeit, wenn man sie nur mit hinreichend brutaler Leidenschaft sucht, wenn man bereit ist, hinreichend viel aufzugeben, um sie systematisch zu isolieren, irgendwo in kleinen Mengen finden wird. Das ist sicherlich, auf eine Art, durchaus ein Erfolg: Man hat eine Zone der Dummheit entdeckt und manipuliert, aber das ist alles. Unglücklicherweise ist eine Vorbedingung für das Feingefühl, dies auch zuzugeben — wie Newton das so eloquent getan hat in seinem berühmten Vergleich der Wissenschaft mit dem Ausrechen von Sand am Ufer eines unermesslichen Ozeans (= 0) — ein Minimum an Geschmack, an Noblesse.

Physikalistische Wissenschaft ist eine hochgradig konkrete, entwickelte und vergleichsweise nützliche Philosophie der Trägheit. Ihr Herrschaftsgebiet erstreckt sich über alles, was Gott ergeben ist (er ist tot, aber noch zittert der Lehm). In diesem Gebiet gibt es viele Bereiche, die einstweilen der Kultivierung entkommen sind, ‚Tatsachen des Geistes (spirit)‘ zum Beispiel, neben Konstellationen der Fügsamkeit, aber Widerstandsnester sind das nicht. Die Naturwissenschaft ist die Königin, wo immer Legitimität ist; vielleicht gehört ihr die terra firma in Gänze. Niemand würde ihre Rechte übereilt bezweifeln wollen, aber der Ozean ist der Aufstand (und das Land, so wird gemunkelt, schwimmt).

Sogar wenn man die kindische Übertreibung des Mythos von der naturwissenschaftlichen Vollständigkeit beiseite lässt, bleibt eine unbeantwortet Frage hinsichtlich des Erfolgs der Wissenschaft: Es kann keine ernsthaften Zweifel geben, daß die Philosophie von der Naturwissenschaft beschädigt worden ist — sie erwartet sogar ihre Auslöschung. Die Philosophie hat den Punkt erreicht, wo sie alles Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit zu wissen verloren hat, wo der Neid den elterlichen Stolz vollständig verdrängt hat und wo die stilistischen Folgen ihres schlechten Gewissens ihren Diskurs bis zur Unlesbarkeit verwüstet haben. Seit wenigstens einem Jahrhundert, vielleicht zwei, bestand die hauptsächliche Anstrengung der Philosophen darin, die Naturwissenschaftler draußen zu halten. Wie viel Defensivität, armselige Mimikry, grobe Selbsttäuschung, krypto-theologische Obskurantismen und intellektuelle Armseligkeiten bezeichnet der Name ihrer jüngsten morbiden Nachkommenschaft: die Geisteswissenschaften*.

Die erste und elementarste Quelle dieser verallgemeinerten Neurose bei praktizierenden Philosophen und an die Philosophie Angeschlossenen ist ihr Unverständnis hinsichtlich der Frage, wie genau sie eigentlich die Naturwissenschaften hatten hervorbringen können. Sie neigen zu dem Glauben, daß sie schon immer schlechte Naturwissenschaftler gewesen seien, oder zumindest unreife. ‚Wären wir doch besser in Mathe gewesen‘ murmeln sie zu sich selbst, während sie sich mit wehmütig-nostalgischem Genuß daran erinnern, daß Newton und Leibniz als Rechner noch gleichauf gewesen zu sein schienen.

Was in solcher Melancholie übersehen wird ist die Tatsache, daß Philosophie zur Naturwissenschaft nicht im Verhältnis einer Vorlage, sondern eines Motors steht. Philosophie war die wesentliche Quelle investigativer Libido, bevor sie durch die Waffenindustrie ersetzt wurde, und wo Naturwissenschaft sich noch nicht vollständig in einen Prozess technischer Herstellung aufgelöst hat, liegt die Differenz genau in einem Einfluß verborgener Philosophie. Denn Philosophie ist die Maschine, die das Versprechen von Denken in Erregung verwandelt; ein Generator. ‚Warum ist das so schwer zu sehen?‘ fragt man sich idiotischerweise. Aber schnell dämmert die Antwort: Die Akademiker.

Akademische Wissenschaft ist die Unterordnung der Kultur unter die Metriken der Arbeit. Sie neigt unaufhaltsam zu vorhersagbaren Formen quantitativer Aufblähung, die von einem Investment in eine Abstraktion von Produktivität herrühren. Akademische Wissenschaftler haben einen maßlosen Respekt vor langen Büchern und entwickeln einen fürchterlichen Groll gegen alle, die zu mogeln versuchen. Sie ertragen die Vorstellung nicht, daß Abkürzungen möglich sind, daß Spezialistentum nicht unvermeidlich ist, daß Lernen nicht stoisch ertragen werden muß. Das Allegro des Schreibens können sie nicht ausstehen, und wenn sie lebendige Texte lesen — und sie gar zu schätzen vorgeben — ist das Resultat (und das ist eine großzügige Formulierung) ‚unappetitlich‘. Akademische Wissenschaftler schreiben nicht, um gelesen, sondern um gemessen zu werden. Sie wollen, daß die Welt erfahre, daß sie hart gearbeitet haben. So weit hat es die Ethik der Industrie gebracht.“

* im Original deutsch.

(Land, meine Übersetzung.)

Das zur Antwort auf die Frage: Ob irgendjemand für die Wissenschaft gemacht sein könnte. (Ohne selbstverständlich die Wissenschaft, nicht einmal die Geisteswissenschaft, als Interesse oder Lebensmodell zu denunzieren, aber es gilt, dixit spalanzani, das Wesentliche im Blick zu halten: Das libidinöse Investment ins Denken, wesentlich gegen die Tendenz der Institutionen zu seiner Institutionalisierung.)

Link | 17. Oktober 2012, 15 Uhr 38 | Kommentare (11)


11 Comments


Es war eine Reaktion auf das verstörende Konzept Kommissionssitzung.

Kommentar by y | 0:21




Ich weiß nicht mal, was das ist, so unverstört bin ich davon! Aber gib zu, daß der Land the shit ist!

Kommentar by spalanzani | 0:35




Woher ist dieser Text? Mit „Land“ allein kann ich ihn als nicht Eingeweihter ja unmöglich finden! Und es steht (der entbehrlichen Bausch-und-Bogen-Attitüde zum Trotz) doch ungewöhnlich viel darin, was trifft und einleuchtet. Ich möchte gern weiterlesen.

Kommentar by ab | 1:20




(Ich habe es leider nicht geschafft, „Land, meine Übersetzung“ als eine Autorenangabe zu erkennen. Dachte an Karten und Gebiete und zwirbelte mir einen diffusen Zusammenhang.)

Allso: woher?

Kommentar by y | 8:46




Ich würde auch gerne wissen, woher der Text stammt und weiterlesen.

Kommentar by Arne | 14:52




Das ist eine Passage aus Nick Land, „The Thirst for Annihilation“, London/New York 1992. Der Rest des Buches beschäftigt sich allerdings mit Bataille-Rezeption und berührt die Frage des Verhältnisses von Wissenschaftsdisziplinen nur, wo Mr. Land von Anfällen schlechter Laune übermannt wird.

Kommentar by spalanzani | 17:18




Danke!

Kommentar by ab | 18:24




Geisteswissenschaft ist die verzweifelte Einsicht in die aufrechtzuerhaltende Aussichtslosigkeit, sich Sprache als maßgebende Verständigungsform gegen die Alltagserfahrung einzureden.

Kommentar by generatoren | 10:44




„, daß Newton und Leibniz als Rechner noch gleichauf gewesen zu sein schienen.“

Sind Sie sicher, daß Sie das mit „Rechner“ übersetzen wollen? Rechner als Übersetzung von Computer bezeichnet den prä-mechanischen Rechenknecht, NICHT den Mathematiker. Es geht doch in diesem (faktisch fragwürdigen) Halbsatz sicherlich nicht um das fehlerfreie Beherrschen der Grundrechenarten? Oder soll das die leise Verachtung des Schreibers vor der Mathematik ausdrücken? In dem Fall passt es natürlich, macht das ganze aber erst recht nicht besser.

Und auch sonst: „Akademische Wissenschaftler haben einen maßlosen Respekt vor langen Büchern“ – jeder Mathematiker lernt schließlich früh, dass Kürze und Eleganz angestrebt werden sollen – alles Überflüsige an einem Beweis, an einem Text, an einem Vortrag wird verachtet. Es gibt sogar Mathematiker, die dan Sinn des Bourbaki als große Sammlung des Bestehenden nicht gelten lassen wollen. Physiker scheinen mir ähnlich zu fühlen. Und sonst? Die Zweige der Wissenschaft sind unterschiedlich in dem, was sie an Fachtexten schätzen: Der „Akademische Wissenschaftler“, das erscheint mir als Klassifizierung ungeeignet. Lässt der Verfasser da nicht zu sehr seine Zeit ahnen?

Kommentar by E^(-1) | 21:31




Das mit „Rechner“ übersetzte Wort ist nicht, wie Sie offenbar vermuten, „computer“, sondern „calculator“ — was das mechanische Element vielleicht noch stärker betont. Meine Vermutung ist, daß er weder das fehlerfreie Beherrschen der Grundrechenarten meint noch Mathematik, sondern eine Sorte Kunstfertigkeit (im Sinne von Kunsthandwerk fast.)

Ohne das selbst bewerten zu wollen bitte ich auch zu beachten, daß er die von Ihnen bezweifele Aussage und bemerkte leichte Verächtlichkeit den Geisteswissenschaftlern zuschreibt. Und falls es die von ihm behauptete Haltung bei Newton und Leibniz nicht gibt, ganz sicher gibt es sie hierzuland rund um Goethe: Diese Mischung aus Nostalgie und Selbstzufriedenheit und immer noch lauerndem Gefühl von Überlegenheit, als würde sich irgendwann doch noch herausstellen, daß der größere Dichter auch der größere Naturwissenschaftler war und die Farbenlehre doch die bessere Theorie war und auch die Biologie irgendwann sich besinnen wird —

„Akademische Wissenschaftler“ sind im Original „scholars“. Sie haben Recht, mein deutscher Ausdruck ist nicht ähnlich geisteswissenschaftlich konnotiert. Über Naturwissenschaftler oder Physiker spricht er hier sicher nicht — hier geht es gegen die Philosophie, die ja sein eigentliches Ziel ist, und mehr als seine Zeit sieht man, glaube ich, verschmähte Liebe — ein Gefühl, das jedem Philosophiestudenten vertraut ist: Wir dachten, wir kriegen das Heiße Denken, und statt dessen… DAS? Diese Mischung aus Pomp, Defensivität und Denial, die die akademische Philosophie heute ist?

Kommentar by spalanzani | 16:26




Nein, ich war ziemlich sicher, daß da nicht computer gestanden haben kann – und denke weniger, daß es bei Verwendung von „calculator“ um das Handwerk geht – eher um die Ableitung aus „calculus“ – des großen Streits um die „Erfindung“ der Diferential- und Integralrechnung wegen.

Ich finde auch nicht, daß den Wissenschaftlern unbedingt Verächtlichkeit unterstellt wird – es wird ja schon klargestellt, daß Leibniz Newton bestenfalls auf einem Teilgebiet seiner Tätigkeit ebenbürtig ist – Wobei ich nicht unterstelle, daß der Autor des Textes nun unbedingt der plumpen Einordnung von Leibniz als dem Philosophen, der AUCH rechnet, und Newton als dem „Wissenschaftler“ der sich evtl. AUCH ein paar Gedanken zur Reichweite der Wissenschaft macht, daß das gerade in der Auklärung eigentlich eher in eins („Denker“) gehen sollte, ist relativ offensichtlich, ich nehme aber an, daß man es nicht zu sehr betonen kann, weil ja all die Physiker, die auch ihre eigenen Vordenker waren, sonst wieder den Philosophen die Arbeit wegnehmen: Daß die Philosophie der „Motor“ der Wissenschaft sein kann, finde ich dann auch übertrieben optimistisch, es suggeriert ja das gezielte Vorantreiben, wo dem Philosophen ja nicht klar wäre, was und wie: Sie schafft aber doch eine Art Klima, in der neue Ideen entstehen – es ist unklar, ob ausserhalb der Aufklärung selbst Newton es gewagt hätte, die antiken Auffassungen z.B. zur Mechanik anzuzweifeln, und auf welches Fundament er solche Zweifel gestellt hätte – schließlich hatte es zu dem Zeitpunkt mehrere hundert Jahre lang kluge Leute in Oxford/Cambridge gegeben.

Ehrlich hat mich Goethes Farbenlehre nur von Goethes Schlamperei und Dünkelhaftigkeit generell überzeugt [wie auch Goethe zu Eckermann „die Herren Ornithologen“] – schlage ich aber auch zum generellen romantischen Newton-Bashing, aus dem Sentiment, daß man den jeweils Größten der letzten hundert- Jahre unbedingt überwinden will, und Rationalismus sowieso nicht leiden kann – William Blake’s Newton ist die absolute Negativvision, die über der Romantik hängt- für mich schwer nachzuvollziehen: ich dachte immer schon, daß der heiße Scheiß eigentlich die Physik ist (insbes. Newton – relativ weit oben auf der Liste meiner zukünftigen Ehemänner), nur wenn die Philosophie etwas ähnlich faszinierendes wie die Gravtitationstheorie oder Kernspaltung hervorbringt, werde ich konvertieren.

gefährlich für die Philosophie ist natürlich auch, daß es zu jeder Fragestellung dieser Art bereits einen xkcd-comic gibt, der das Problem übersichtlich zusammenfasst, und sogar meist Für und Wider in Synthese zusammenbringt: Institutionalisierung z.B:

http://xk3d.xkcd.com/664/

Tja.

Kommentar by E^(-1) | 2:03