Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Im Westteil der Stadt bin ich selten unterwegs, und die U-Bahnen sind unvertraut, optisch wie topographisch:  Wir beeilten uns an diesem sehr frühen Morgen, meine Begleiterin und ich, und bemerkten erst im Zug, daß wir die falsche Linie erwischt hatten. Gleich beim nächsten Halt stiegen wir aus und nahmen den Gegenzug. Seltsamerweise fuhr der ohne anzuhalten durch die Station, in dem wir zuvor so übereilt in die falsche Linie geraten waren, hindurch, und hielt erst südlich davon wieder in einem ungewöhnlich tief gelegenen Bahnhof mit langen, frei durch den Raum laufenden Rolltreppen — dort war ich noch nie gewesen, und einmal mehr wunderte ich mich über den Westen und die runde, farbig-verblichene Moderne dort. Wir erklärten uns den fehlenden Halt mit einer Baustelle oder einem unbenutzbaren Bahnsteig, man kannte das vom Ostkreuz, und erwischten, hastig eine Rolltreppe hinabstolpernd, einen Zug zurück nach Norden. Dieser fuhr allerdings einen rumpelnden Bogen und dann sehr lange geradeaus. Allein im Zug waren wir außerdem, und die Anzeige versprach als nächste Station nicht den Bahnhof, an dem in den richtigen Zug zu gelangen uns heute nicht gelingen wollte, sondern „Wald“. Nach zehn Minuten erst verließ unser Zug den Tunnel und fuhr in den ebenerdigen Bahnhof Wald ein — zwei Bahnsteige, Bahnmülleimer, unbequeme, aber unzerstörbare Drahtgittersitze und Selecta-Automaten darauf, und das übliche Wellblechdach in der Form eines flachen V darüber. Nur wir beide stiegen aus dem Zug. Wir sahen uns nach einem Netzplan um, um herauszufinden, wo wir da gelandet sein mochten und wie uns ein Bahnhof namens Wald hatte entgehen können bislang, Westen hin oder her. Der Zug — eine Linie 76, wie wir auf der Anzeigetafel des ersten, jetzt letzten Wagens sahen, fuhr zurück in die Stadt, und der Bahnsteig lag verlassen. Die blauweißschwarzen alten Namensschilder des Bahnhofs waren dunkelblau überklebt: Durch den neuen Namen „Rottende Stadt“ sah man das Relief „Wald“ sich noch abdrücken. Seltsam genug, aber mochte das sein, wie es wollte, weder nach Wald noch nach Rottende Stadt hatten wir gewollt, wir hatten uns lediglich im Durcheinander offenbar baufälliger West-Linien verfranst. Alles, was wir tun mussten, war den nächsten Zug zurück abzuwarten, einmal umzusteigen, diesmal weniger hektisch, uns von wartenden Zügen nicht verleiten zu lassen, und heute Abend auf Wikipedia nachzusehen, was es mit diesem Wald-Bahnhof auf sich hatte, den die Anwohner eigenmächtig und mit viel Aufwand in „Rottende Stadt“ umgelabelt zu haben schienen. Wir warteten also; es war ziemlich zugig und kalt — vor acht Uhr Morgens im Oktober kein Wunder. Nach einigen Minuten schon waren wir nicht mehr allein, eine kleine Gruppe von Menschen sammelte sich am Bahnsteig und wollte in die Innenstadt. Es gab mehrere Herren mit Hut und ein Mädchen mit einem großen Korb roter Zwiebeln. Draußen, vor dem Bahnhof, fuhr ein U-Bahn-Zug vorbei — offenbar eine andere Linie, denn die Weiche in den Waldbahnhof hinein war nicht gestellt. Dann folgte ein Güterzug, eine endlos lange Reihe in der Mitte eingeknickter Tankwaggons. Dann ein U-Bahn-Zug, dann noch einer. Die anderen Fahrgäste standen jetzt ganz am Rand des Perrons und schüttelten die Fäuste gegen die vorbeifahrenden Züge. Ich sah meine Begleiterin an und schlug, da wir unseren Termin ohnehin verpasst hätten inzwischen, vor, uns diesen unbekannten Teil der Stadt anzusehen, bis der Zugverkehr wieder regelmäßig wäre. Inmitten eines auf U-Bahnen wütenden Mobs zu erfrieren, war jedenfalls kaum die bessere Option.

Die rottende Stadt bestand aus zwei sehr großen Gebäuden inmitten von viel Grün: Verschachtelte Blocks mit umlaufenden Gängen, halb mit Holz verkleidete Fassaden, Fenster und Terrassen; eine Brücke zwischen den Häusern führte durch den blassen Morgenhimmel. Überall im Park lagen Berge von Müll, die Häuser umgab ein Kristallreif von zerbrochenem Glas. In den Einfahrten lagen Teile der hölzernen Fassadenverkleidung, weichgefaulte, glasgespickte Fasern. Ein zweites Mädchen mit einem Korb voller Zwiebeln kam uns entgegen, auf dem Weg zum Bahnhof offenbar kam sie aus einer Art Passage, die ins Innere des ersten Blocks führte. Ein zweiflügliges Messingportal stand, längst unbeweglich gemacht von Haufen aus Glas und Laub und Zweigen und Plastiktüten, offen. Trotzdem hatten wir keine Bedenken, einzutreten, hier wohnten offenbar Menschen, harmlose dazu, und die Architektur war auch in ihrem traurigen Zustand einladend und weitläufig und signalisierte die Begehbarkeit der Struktur. Wir nahmen ein paar Abzweigungen — Wandmosaike, leere Anschlagtafeln — und stiegen ein paar breite, flache Treppen hinauf. Diese Treppen wanden sich um Lichtschächte herum, auf deren Gründen in breiten Betonwannen statt der einst dort sicher gepflanzten großblättrigen Gewächse nurmehr Sammlungen von leeren Flaschen zu sehen waren. Die Kugeln der in den Schächten hängenden Lampen waren zerschlagen, nur Kränze von gelblichem Glas mit Lufteinschlüssen umgaben noch die Fassungen.
Desto überraschter waren wir, als wir in einem der weit sich zwischen Säulen erstreckenden Obergeschosse brandaktuell gestaltete Schilder für ein „Sanierungsprojekt Rottende Stadt“ sahen und einen offenen Saal. Darin standen in hellem Licht Tafeln, die erklärten, wie die beiden dort so genannten „Modularen Großbauten“ neu belebt werden sollten: Es handelte sich bei den Bauten nämlich um Frames, in die und an die kleinere Module ein- und angehängt werden konnten. Das war vor vielen Jahrzehnten den Planern vielversprechend erschienen. Jetzt aber, da nur noch ärmliche Kleinhändler und niedere Beamte, für die niemand mehr Verwendung hatte, hier wohnten, lohnte sich die häufige Umgestaltung der Häuser nicht mehr, und niemand wusste, ob die Aus- und Einhängvorrichtungen noch beweglich wären. Mehrere Modelle zeigten die Häuser der Rottenden Stadt in verschiedenen Konfigurationen aus den Jahrzehnten vor dem Verfall. Durch ein breites Fenster schien die inzwischen ganz aufgegangene Sonne in den Saal herein, und wir sahen das lange, gerade Band des Flusses glänzen, mit den berühmten Brücken und den silbernen Figuren und den Hochhäusern ganz fern im Osten. Es schien mir bei diesem Blick eine ausgewiesene Schande, die Häuser der Rottenden Stadt so verkommen zu lassen, gleichzeitig hasste ich ihre Sanierung schon jetzt: Die ausgestellten Musterheizkörper waren hypermoderne, halbtransparente, hellblaue Quader aus matter Keramik, in denen man das warme Wasser sich bewegen sehen konnte, wenn man achtgab, und draußen, am anderen Ufer eines kleinen Grabens, waren Bagger schon damit beschäftigt, rostrote Stahlgitter von Lastwagen zu laden und in der Sonne aufzuschichten.

Dann begrüßte uns der Architekt. Er betreue die Sanierung, sagte er, und freue sich, daß wir uns dafür interessierten. Ob wir mehr von seinen Plänen sehen wollten? Er öffnete eine Flügeltür in einen Saal, dreimal so hoch und doppelt so breit wie der, aus dem wir kamen, überspannt von einer Stahlrohrkuppel aus Buckminster-Fuller-Waben und einer weißen Plane. Mitten im Raum waren lebensgroße Betonkräne ausgestellt, die, so erklärte der Architekt, außen an den beiden Bauten befestigt werden würden und zusätzliche Einheiten halten könnten.
Jetzt, sagte meine kluge und schöne Begleiterin, werde es ihr langsam ein bisschen zu viel. Dieser Stadtteil habe ihres Wissens zwei gleichermaßen unsinnige Namen, werde vom städtischen U-Bahn-Netz nur versehentlich einmal angefahren und überdies von Zwiebelhändlerinnen bewohnt. Wenn er eines nicht brauche, dann seien es an Kränen aufgehängte Einheiten voller halbtransparenter keramischer Heizelemente. Das, sagte der Architekt, würden wir gleich haben. Dann hängte er meine Begleiterin an einen Haken und wrang ihren Mantel aus, so daß sie als Flüssigkeit unten herausfloß und in einem Abfluß versickerte. Der Architekt schaute mich an und lächelte. In einem dritten Saal könne er mir ein lebensgroßes Modell des zweiten Hauses, im Zustand nach der Sanierung, zeigen, sagte er, und bewegte sich auf eine Flügeltür zu. Was mit meiner Begleiterin sei, fragte ich ihn, und er versicherte mir, daß wir sie selbstverständlich am Ausgang wiedertreffen würden. Als ich ihm sagte, daß ich das nicht selbstverständlich fände, nachdem er sie aus ihrem mir seit Jahren vertrauten Mantel wie eine bunte Flüssigkeit herausgewrungen habe, sah er mich an, als zweifle er an meinem Verstand. Ich wollte auf keinen Fall seinen dritten Saal sehen, und auch die Geschichte mit dem Wiedersehen mit meiner Begleiterin glaubte ich nicht. Ich war vielmehr vernünftigerweise davon überzeugt, daß sie in einem Kellergelaß gefangengehalten würde, und daß ich sie befreien sollte. Der Architekt schritt voran auf seine dritte Tür zu, ich aber kletterte in die Stahlrohrkonstruktion der Hallenkuppel hinauf. Auf einer schon sehr hoch gelegenen Plattform fand ich ein Modell der Halle, in der ich mich befand, aus Lego. Immerhin, dachte ich, endlich ergibt das Sinn und es wird ein Rätsel erkennbar: Ich konnte die Befreiung meiner Begleiterin in Lego planen und dann in Beton tatsächlich durchführen. Solange mir der Architekt nicht dazwischen käme, sollte das alles kein Problem werden — ich musste lediglich daran denken, den Mantel mit ins Verließ zu nehmen, um meine Begleiterin dann wieder hineinzugießen.

Link | 22. Oktober 2012, 18 Uhr 44 | Kommentare (1)


Ein Kommentar


das ist nicht nur super, sondern könnte – als korollar – ein phantastisches indie-game werden. myst & minecraft.

Kommentar by umruehren | 19:48