Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Die Frage also, ob die Zukunft vor oder hinter uns liegt: Der Film Berlin Babylon ist kein Dokument einer bestimmten historisch-politischen Situation, sondern einer Stimmung, die möglich ist und einmal wirklich war.

Die Berliner Bauaktivität der Neunziger Jahre, die ja auch Disposition ist für die so umkämpfte Stadtentwicklung dieser Tage, hätte sich im Jahr 2000 schon leicht als Zerstörung einer einzigartigen Postwende-Stadtsituation lesen lassen, also nach dem vertrauten, aber dysfunktionalen Schema: Westgeld und Provinzspießertum tun sich zusammen und legen das wehrlose Biotop Berlin trocken. Nichts dergleichen hört man aber in Berlin Babylon; die Unzufriedenen, die zu Wort kommen, sind weit davon entfernt, die Stadt als Opfer einer von außen kommenden Entwicklung zu sehen — die Stadt glaubt in Berlin Babylon, daß sie endlich ihre Wunden heile, weil sie eine konserviert besiegte Stadt war und ihre Niederlage hinter sich lassen will und zurückkehren zu einer eigentlicheren Form.

Und gerade als das sichtbar wird, das ist das Klügste an diesem Film und über sein eigentliches Thema hinaus interessant, betritt der Engel der Geschichte das Feld, oder vielmehr, er wird bemerkt über der Stadt.

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. (Walter Benjamin)

Der Auftritt des Engels der Geschichte erinnert daran, daß ja gar nicht nur in Berlin gebaut wird, daß Bauen keine unnatürliche Tätigkeit ist, daß Städte immer Städte auf Städte türmen. Das Aufregende an der Berliner Nachwendesituation war nicht die Existenz irgend eines fragilen, seither gestörten Gleichgewichts, sondern lediglich, daß im Durcheinander der Baukräne, für einen historisch kurzen Moment, für alle sichtbar wurde, in welcher Richtung die Zukunft liegt: Hinter uns, dort, wo wir nicht hinsehen können.

Im aus Ruinen auferstandenen Osten war man der Zukunft bekanntlich zugewandt, und im Westen führte der Fortschritt ebenfalls nach vorn — die Vorstellung, daß die Zeit uns (aus der Zukunft) entgegenströmt und wir uns, Gesicht voran, dagegen stemmen, erscheint natürlich. Aber wenn dem so wäre, wären wir blind. Und wir sind nicht blind, wir sehen nur zu genau. (Wir gehen also wohl rückwärts, beim Fortschritt, und wer hier eine pessimistische Aussage wähnt, hat sich immer noch nicht umgedreht.)

Das ist also eine mögliche Stimmung: Diese Traurigkeit bei einem erneuten Versuch, sich in die Zeit hinein zu drehen, bei der Rückkehr in die Geschichte; der vorausgeahnte Schmerz der Erinnerung an eine Zeit, in der es genug war, zu warten.

Wenn sie sich heute streiten über Stadtentwicklung und ihr G-Kampfwort rufen, denke ich das immer mit: Daß das auch Strategien sind, von der eigenen Melancholie abzulenken, die ja nicht zugegeben werden darf, weil alle, durchs ganze Spektrum, immerzu darauf bestehen, in die Zukunft zu schauen.

Link | 6. November 2012, 1 Uhr 16