Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Vorband irgend so ein Clown, der nach drei Songs ohne Scheiß erklärt, daß er das alles übrigens ernst meint und man doch mal versuchen soll, es so zu lesen. Dann Godspeed. Das SO36 ist an diesem Abend eine Leutesortiermaschine, die Deppen nach hinten sortiert. Im Anfangszustand ist es eng, und das Publikum besteht noch zur Hälfte aus den neuerdings üblichen desinteressierten Arschlöchern, die sich in schlechtem Englisch gegenseitig wegen der Lautstärke volljammern und nur da sind, weil sie zu viel Geld haben, um sich einfach nur irgendwo in einer Kneipe selber auf den Sack zu gehen. Wie immer ist der Trick, eine Insel von vernünftigen Leuten zu finden. Ich entscheide mich für die Zone um zwei Schränke Mitte Fünfzig, bei weitem die Ältesten im Raum. Glatzen, Jeansjacken, kleine runde Brillen, eisgraue Rockerbärte. Rocker, die ihre Gehirne nicht Anfang der 80er an einer Garderobe eingecheckt und vergessen und also den Schuß vermutlich gehört haben: Müssen gute Typen sein. (Ich täusche mich nicht, die beiden gehen ab wie die Zwanzigjährigen und unterhalten sich hinterher in der Garderobenschlange so liebevoll-begeistert über das GLÜCK, man fasst das nicht.) Leider übersehe ich den Blödmann vor mir, der alle paar Sekunden einen Trippelschritt nach hinten, von der Lautstärke weg, macht, seinen Speckrücken an mir hoch und runter reibt, mir seine allerspätestens an diesem Ort komplett alberne Herrenhandtasche in die Eier haut und dauernd von unten seine Kraushaare in meine Nase fusselt. Ich bin kurz davor, ihm zu sagen, was ich von seiner Sorte halte und daß er meinem sich gerade abspielenden GLÜCK im Weg ist, da setzt der sich allen Ernstes hin. Auf den Fußboden im SO36, mitten im Godspeed-Konzert. Von vorn filtern auch schon dauernd welche durch, es wird langsam lichter. Ich nutze die Gelegenheit und weiche nach vorne rechts aus, so daß der Blödmann, als es ihm da unten mit seinem Telefon doch unheimlich wird, jetzt langsam links an mir vorbei sich nach hinten durchpflügt und einer knipsenden Blonden mit Perlenohrringen an der Brust hoch und runter schubbert. Ich kriege das kaum noch mit, es spielt sich nämlich GLÜCK ab. Als ich kurz hochschaue und die Haare aus dem Gesicht mache, sehe ich die Übriggebliebenen, synchron, die Köpfe Richtung Fußboden hauen, alle mit dem gleichen FETTEN GLÜCKLICHEN GRINSEN. Und dann ist irgendwann der letzte Depp vor mir weg und wird, ich traue meinen Augen nicht, vom Universum instantan durch eine HART ROCKENDE Mittzwanzigerin ersetzt. Hochgesteckte Haare, schwarzes labbriges scheißegal-Top, Hose, niedere Stiefel. Sie macht mit zwei bestimmten Armbewegungen Platz für sich, stellt sich hin vor mich und legt los. Das ist eine todernste Sache für die. Ok, denke ich, das ist dann jetzt also die coolste Frau der Welt. Mal sehen, mit wem sie da ist. Dann spielt sich wieder GÜCK ab, und zwar doppelt, weil man ja so jemandem gar nicht zusehen kann ohne daß man selber mit reingerät in den Sog des BRUTALEN ERNSTHAFTEN RELIGIÖSEN ZUHÖRENS und mitmacht. (Godspeed live klingen nicht wie Godspeed, sondern als würde man einen Godspeed-Song durch ein von Brabus getuntes Walzwerk knüppeln.) Als das Licht angeht, denke ich, ok, jetzt mal sehen, mit wem die da ist. Sie dreht sich um, komplett sachlich, wie sie sich hingestellt hat, mitten im Gejohle noch. Schmale Lippen. Geht an mir vorbei und nimmt, drei Reihen hinter mir, ich schwöre, den spitzbärtigsten Einssechzig-Hardcore-Bruder, den man sich denken kann, zärtlich in den Arm. Der hatte einen Bundfalten-Ballon-Rock an und das Standing dafür. Mensch, ist das Leben geil und fair und richtig.

Godspeed You! Black Emperor. Fucking hell.

Link | 9. November 2012, 1 Uhr 27 | Kommentare (3)


3 Comments


Die richtigen Leute trifft man meistens auf den richtigen Konzerten.

http://www.youtube.com/watch?v=m_9w1UBNsh0

Kommentar by shoshannah | 10:12




Fantastisch! Danke! Dieser Text „made my luck“ (um beim GLÜCK zu bleiben). – Auch wenn ich zugeben muss, ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich bei einem solchen Konzert auf den Boden setzt…naja, aber ich gehe davon aus, dass er sich nicht auf den Beinen halten konnte. Bestimmt vor GLÜCK. Das wäre ein Erklärungsansatz.

Kommentar by Nilok | 17:25




Danke. Wie in einem Film, den es nicht gibt.

Kommentar by Anna | 11:52