Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Zeitformen also: Stabile Zeit, eskalierende Zeit.
Stabile Zeit, die die Geschehnisse in ihr nur trennt (damit nicht alles gleichzeitig passiert), aber nicht bestimmt. Anders: aus einem Weltzustand lässt sich nicht auf einen Wert der Zeitvariablen schließen, wie wir es beim Betrachten von Filmen tun: Es gibt zum Beispiel keine Mobiltelefone, also sind wir in den Neunzigern oder früher. Statt dessen: Die Zeit im Garten ist seit seiner Vollendung stabil, er sieht heute so aus wie vor zehn, zwanzig, oder fünfzig Jahren (nehmen wir einen idealen Garten an).
In eskalierender Zeit ist dagegen positive Rückkopplung am Werk, und die Zeitvariable bestimmt den Weltzustand eindeutig; eine Trennung der Geschehnisse geschieht nicht nur der Zahl nach, sondern wesentlich: Geschehnisse sind unterschieden, weil der Weltzustand unterschiedlich ist; es gibt, mit anderen Worten, Fortschritt. Man könnte auch sagen: Die wesentliche, nicht nur zahlenmäßige Unterscheidbarkeit der Weltzustände erzeugt die Zeit, sie entfaltet sich erst, wenn die Unterscheidungsprinzipien angewendet werden. Thermodynamik, Tod und Fortschritt erzählen dieselbe Geschichte.

Strategien gegen die Totalität des Todes (den Fortschritt): Aufgabe des Prinzips der Individualität, oder Isolation des Todes im Individuum. Die erste Option ist die Option der Ameise: Sie erinnert sich nicht, ihr Tod kann sie nicht kümmern, sie lebt in einer Welt ohne Fortschritt. Ihre Zeit ist stabil, weil sie selbst nur der Zahl nach unterschieden ist von ihren Nachbarn, und alle zusammen sind sie nur der Zahl nach unterschieden von denjenigen Ameisen, die ich (der hoffnungslos Individuierte) zuvor einmal störte, zum Beispiel letztes Jahr im Sommer. Die zweite Option ist die Option des Spaziergängers im Garten (des Mönchs, der alten Eheleute): Gestorben wird nur hier drin, wo es unvermeidlich ist im Tausch gegen die große Individualität, nicht draußen, im Garten; der Garten (die Zelle, der Wald, das Feuer, das Licht) hat keine Zeit, der Spaziergänger nimmt die Zeit auf sich, um sie fernzuhalten von der Welt, die er liebt.

(Fragen: Warum ist Fortschritt in der Natur absurd, wie ist also ihre Zeit stabilisiert; kann man den Garten und den Spaziergänger als Aufspaltung der Zeitform der Natur lesen, warum ist das nötig?, lässt sich die Natur als Garten lesen? — natürlich lässt sie, aber welchen Widerstand leistet sie dabei und was verrät er über die Zeit –, warum eskaliert Kenntnis der Wirklichkeit, wie sie die Naturwissenschaft aus der Natur schürft, die Zeit überhaupt?)

[unsortiert, arg]

Link | 24. August 2013, 12 Uhr 21 | Kommentare (8)


8 Comments


http://en.wikipedia.org/wiki/Time_and_Again_(novel)

– ach, sehen Sie, das interessiert Sie dann sicher, ich habe es gelesen, und dachte dann: Interessant, dass es so sein soll, dass man für die Zeitreise nichts aufbrechen oder überwinden oder zur Seite schieben muss, man muss nur das Zeitlose finden.

Andererseits dachte und denke ich dann: „Betrug“ und misstraue dem, was Sie als zeitlos anbieten, wirklich. Gerade der von Ihnen so oft bemühte Garten ist es nicht: Eher doch das absolute Kampfgebiet zwischen Zeit und Zeitlosigkeit, eine eingegrenzte Natur (wie der allererste Garten), in der der Mensch selbst gebietet, dass der Baum nicht weiter zu wachsen habe, und die Blume hier blüht, nicht das Unkraut, und fühlt sich mit der Natur so recht versöhnt, wo er sie in Wirklichkeit dauernd zurückschlägt, ausreisst und vergiftet. Wirklich zeitlos ist der Garten doch nur, wenn er anfängt, wieder wild zu wachsen, wenn der Mensch stirbt, und die Brombeeren und Nesseln schon durch die Kellerfenster drängen, während ein Makler mit Taschenlampe versucht, Normalität zu verbreiten, während der Tod noch groß im Raum steht, wenn er anfängt, suspekt zu wuchern, auf Viktorianischen Bildern, wo sich gerade die Gefühle gegen die zeitbehafteten Konventionen auflehnen, und in den verschlossenen Gärten der viktorianischen Literatur, mit der Macht des über lange Zeit Unterdrückten,
[hier
http://de.wikipedia.org/wiki/Der_geheime_Garten
und
hier
http://maerchenfibel.com/maerchen/der-selbstsuechtige-riese
]
eben ein Bild des Menschen, oder dann gar nichts mehr, wenn er konserviert ist, aus der Zeit entfernt, in die er gehört, etwas, in dem man herumgeht und sich die Stiefmütterchen ansieht.

Man kann es natürlich treiben bis zum Extrem und das Bild sogar umkehren: Am Ende von „Karte und Gebiet“ kauft der Held des Buchs (ich mag ihn) sich einen Abschnitt Wald, und ummauert ihn so, dass auch ja niemand mehr hineingelangt, um darin seine Bilderwelt zu erzeugen: Die Natur, wie sie schliesslich Schluss macht mit AlleDem. Letztlich natürlich hiflos, aber Individualität und Zeitlosigkeit, das kommt bei Houellebecq oft vor, ich finde es gut, wie er drüber nachdenkt.

[Den ersten Paragraphen, ja?]

Kommentar by E. | 0:01




Sich im Garten ausgerechnet mit der Natur zu versöhnen, wäre Unsinn. Er ist ja eben Natur, aus der der für sie wesentliche Tod entfernt wurde oder vielmehr wird, denn das ist eine selbst fortgesetzt gewalt- und mühsame Anstrengung, einverstanden: Das Gärtnern! aber nicht der Garten.

Ich würde denken, das gehört zu den Antinomien des Gartens: Wie seine immer problematische räumliche Grenze definiert ihn die Entropie, die ihn bedroht.

Kommentar by spalanzani | 21:44




Fortschritt in der Natur ist nur langsamer, passiert aber via Evolution doch?

Kommentar by froschfilm | 22:16




Evolution mit Richtung („hier oben“) ist glaube ich nicht haltbar. Sie ist einfach nur eine Strategie zur Umweltanpassung, und solange es keinen Fortschritt in der Umwelt gibt, kann die Evolution auch keinen in die Organismen hineinerben.

Kommentar by spalanzani | 17:10




Ich sehe gar nicht, wo ich etwas anderes geschieben hätte, ausser dass sie nicht schreiben können, „entfernt“, Sie können nur schreiben, „zurückgedrängt“, und eben deshalb ist der Garten auch nicht zeitlos, „seit seiner Vollendung“ – die Vollendung gibt es ja gar nicht.

http://i903.photobucket.com/albums/ac238/e_s_/IMG01363-20130316-1221_zps08157111.jpg
– so sieht es eben aus, wenn der Mensch stirbt.

Und ja, seit ich mit Erstaunen festgestellt habe, dass ich in dieser Kulisse aufgewachsen bin,
http://i903.photobucket.com/albums/ac238/e_s_/ljimb_zpsf2fd76c0.jpg
glaube ich sie erst recht nicht, die Zeitlosigkeit der Gärten – was natürlich paradox ist, denn dem Film schien es ja darum zu gehen. Der Garten wurde übigens inzwischen wieder reichlich umgebaut, „originalgetreuer“.

Kommentar by E. | 7:52




Im übrigen hatte ich mir schon auch überlegt, die Evolution anzuführen, war nur nicht sicher, ob es ein sehr gutes Argument ist, weil ihre Mechanismen schon seit langer Zeit stabil sind: Was aber nicht heisst, dass es hier nie neue Konzepte gegeben hat, und damit auch Fortschritt. Die Evolution beginnt mit Einzellern, und „erfindet“ dann den Sex – nicht als Anpassung an die „Umwelt“ (Ausser Anpassung gibt es übrigens auch spontane Mutation und Einwirkung von aussen), sondern als Korrektiv der Fehlerhaftigkeit der Fortpflanzung durch ungeschlechtliche Zellteilung, also der eigenen Algorithmen – persönlich finde ich das ein verdammt cleveres und charmantes Konzept, und ob man glauben soll, dass etwas ähnlich schlaues nie wieder passiert, das weiss ich nicht. Sie können es jedenfalls nicht ausschliessen. Im Übrigen, was heisst das: „Anpassung an die Umwelt“ – welche Umwelt? Die Umwelt der Umwelt? Also wir?

Kommentar by E. | 21:01




Wenn sich die Menschen über die überlegene Charmanz des Sex unterhalten ist es natürlich ein bisschen, wie wenn die Löwen sich einigen, daß Antilope besser schmeckt als grüner Salat – ja, schon, wer würde widersprechen! Aber Fortschritt?
Ein neues Konzept macht ja noch keinen Fortschritt, dazu braucht man ein Ziel, auf das das neue Konzept absichtsvoll einzahlt, und das der Evolution zu unterstellen ist ja wohl verwegen.

(Umwelt ist alles, was nicht System ist. Aber interessant: Ich weiß tatsächlich nicht, auf was „Evolution“ eigentlich definiert ist. Sicherlich nicht sinnvoll auf der ganzen „Natur“ (alles was grün ist außer Menschen), sicher nicht Individuen, aber was dann? Sind es Spezies? Oder Gene?)

Kommentar by spalanzani | 21:32




Hmm. Fortschritt mit Ziel, darum ging es doch gar nicht? Sondern nur: Kann ich Zeitunterschiede erkennen? In der Natur kann ich das, aber eben nur in Äonen.
Zu den Fragen: Coccinella, übernehmen Sie!

Kommentar by froschfilm | 11:15