Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Eine heftige Querbewegung weckte mich, eine zu schnell überfahrene Weiche vermutlich, und die Gefahr, in der ich mich für einen Augenblick wähnte, schärfte die grauen Konturen der Kunststoffschalen. Ich drehte mich auf den Rücken und atmete lauschend. Nichts außer den Schienen, und manchmal, nach einer Kurve, ein sehr weit entferntes Geräusch von gequältem Metall, Gartentor im Nebel, am anderen Ende des Dorfes. Die Vorhänge am Fußende der Koje zitterten leicht und strahlten kalt. Konzentriert, um mir nicht den Kopf zu stoßen und meine Begleitung nicht zu wecken, faltete ich mich einmal ein und andersherum wieder aus, kam also mit dem Kopf am Fenster zu liegen und hob den Vorhang mit dem Handrücken vorsichtig an. Hügel, Sand, Geröllfelder, manchmal niedere, dachlose Häuser aus Betonsteinen; mehr Licht schon, als ich erwartet hatte. Ich glaubte, obwohl das unmöglich war, den heraufziehenden heißen Tag zu riechen, Spiritus und Zimt. Erinnerungen wurden produziert in diesem Moment, und daß ich es bemerkte, ärgerte mich. Ich legte mich zurück, erkannte den vermeintlichen Geruch des heißen Tages als den Geruch des fremden Waschmittels, mit dem mein sandraues Leinen gekocht worden war, und schloß die Augen. Kacheln, Tee, Bildschirme mit singenden Frauen. Einmal, dachte ich mir, aus einem Fenster blicken ohne das Bewusstsein des Erlebens und des gefräßig tackernden Zeitwurms. Einmal, dachte ich, die Frankfurter Allgemeine Zeitung aufschlagen und in ein Honigbrot beißen und beim Überfliegen der Wirtschaftsnachrichten mir denken: Das ist gut, ich werde Philip anrufen und ihn fragen, was er davon hält, und ihn bitten, ein bisschen früher zu verkaufen, es wird schneller gehen mit dem italienischen Haus — statt dieser Überzeitlichkeit immerzu, dieser Dankbarkeit, in der keine Geröllhalde im Morgenlicht eines heißen Tages sicher war vor ihrer schon erkennbar werdenden Erinnerungsform.
Natürlich wusste ich, daß ich nicht fair war mit mir selbst: Ein Honigbrot ist ein Honigbrot und Normalität, und die Honigbrote der letzten Wochen waren längst versunken und vergessen wie es sich gehörte; wie aber könnte ich annehmen, den Nachzug zu vergessen und die Hügel und die Ziege? Zumal der Zug selbst ein Relikt war, vielleicht schon, als die Strecke gebaut wurde, jetzt aber endgültig in die Peripherie gedrängt: Sein Zweck war zweifelhaft; es mußte davon ausgegangen werden, daß die Reisenden diesen Zug nahmen aus keinem anderen Grund als ihrem Interesse an der Reise. Die Existenz des Zuges war möglicherweise also Folklore geworden, wie unsere Anwesenheit im Zug, das Buch neben dem Kissen, auf dem meine Brille lag und eins meiner Haare, und die gute Laune am Abend zuvor und unser Leben insgesamt — Folklore: Authentisch und pittoresk, aber nicht Teil der Wirklichen Infrastruktur.

Link | 13. Dezember 2013, 23 Uhr 24 | Kommentare (1)


Ein Kommentar


Eine bestimmte Strecke?

Kommentar by shoshannah | 0:37