Vigilien

is there any any? nowhere known some?

I – Die Flamme der Vernunft

Die Flamme der Vernunft spendet ein warmes, stetes Innenraumlicht. Es fällt auf die Bücher, ein Sofa, eine Wolldecke, einen Teppich. Im Halbdunkel: ein Poster für eine Ausstellung in Mailand, 1972. Die Flamme der Vernunft leuchtet, weil Elektrizität fließt, die Turbinen summen in den Kraftwerken, die Hochspannungsleitungen gewartet wurden, Glühbirnen über Fließbänder flitzen, weil wir wissen, wie das Vakuum den Glühdraht schützt: weil wir gelernt haben, das Feuer zu zähmen.

Die Zähmung des Feuers war keine Offenbarung. Eine Offenbarung ist das jähe Erscheinen des Offenbaren, und nichts an Glühbirnen ist offenbar. Die Geschichte der Flamme der Vernunft ist eine Geschichte des Experiments und des Denkens, eine Geschichte der Unterscheidung von wie die Welt ist und wie sie nicht ist, eine Geschichte der Unterscheidung von logischen Folgen und Quatsch.
Wir wissen nicht, warum die Welt ist, wie sie ist, warum ihre uns zufällig erscheinende Physik A hergibt und Nicht-A nicht. Wir wissen nicht, warum Quatsch und Nichtquatsch sich unterscheiden, warum manche Arten zu denken plausibel sind und andere nicht. Und wir wissen nichts über die seltsame Entsprechung plausibler Gedanken und der Welt, in der plausibel abgeleitete Vorhersagen stimmen, und Quatsch eben nicht. Ein non sequitur kann so gut klingen wie es will, der Welt ist es egal: Es funktioniert nicht.

Und wir wissen, daß das so ist, weil es Glühbirnen gibt: Die Welt ist nicht feindlich. Im steten Licht der Flamme sind wir zu Hause, unser Denken passt zur Welt, kann sie vorhersagen und in ihr wirken, wenn es sich an die Regeln hält. Die Flamme der Vernunft ist kaum ein Fünkchen im gewaltigen Chaos der Welt, aber sie beleuchtet unsere winzige Ecke. Sie ist sehr zuverlässig.

Wo sie nicht leuchtet, ist die Nacht der Welt. Alles ist dort möglich, jeder Gedanke kann auf jeden anderen folgen, nichts ergibt eine Geschichte, nichts ergibt Sinn. Zufall und Grausamkeit herrschen im Dunkel, in der Tiefe, wo das Licht der Flamme der Vernunft nicht hinfällt. Und das Dunkel ist nicht freundlich.

10. The moon is dull. Mother Nature doesn’t call, doesn’t speak to you, although a glacier eventually farts. And don’t you listen to the Song of Life.

11. We ought to be grateful that the Universe out there knows no smile.

12. Life in the oceans must be sheer hell. A vast, merciless hell of permanent and immediate danger. So much of hell that during evolution some species — including man — crawled, fled onto some small continents of solid land, where the Lessons of Darkness continue. #

Die Flamme der Vernunft ist unser Tun in dieser Dunkelheit: Wir führen das Große Flammentheater auf, weil wir es können und müssen. Lassen wir nach, fallen wir zurück ins Dunkel, in die grausame Schönheit sinnloser, beiläufiger Gewalt, in den Egoismus von was-immer-sich-zu-einem-Ego-zusammenklumpen-mag für eine Weile, bis es selbst Beute wird.
Man kann nicht diskutieren mit der Dunkelheit, sie ist kein Text, der sich gefügig, müde vom Immergleichsein und neugierig, dekonstruieren ließe, sie ist nicht in unserem Kopf, und auch unser trotzigster, wütendster, stolzester Widerspruch, der doch unsere Eltern und Lehrer immer zu schrecken vermochte, berührt die Dunkelheit nicht in ihrer stoischen Tiefe: Wo das Licht der Flamme der Vernunft nicht hinfällt, haben wir keine Macht, und unsere Wünsche verfangen nicht.

II – Das Irrationale

Wir sind Kinder der Dunkelheit. Unser Egoismus ist wild. Unsere Lust, Glas zu zerbrechen, das Erreichte zu vernichten und hineinzustürzen in die Raserei der Verschwendung, der Auflösung, Entgrenzung und Vermehrung, ist Bedingung unserer Existenz. Wir begehren nicht im Licht der Flamme der Vernunft, wir können unsere Obsessionen nicht begründen, und wir haben besseres im Sinn als Ökonomie.

Das Irrationale begründet unsere Souveränität vor der Ökonomie: Wohl wissen wir, wie wir vernünftigerweise unsern Vorteil mehren würden, aber wir weisen eine Herrschaft der Vernunft zurück. Sie soll uns leuchten, wo wir sie brauchen, nicht zwingen. Wir bauen in ihrem Licht Tempel, um frei zu sein: Weil wir verstehen können, und um nicht zu müssen.

Die Kirche befriedigt nicht Erwartungen, sie feiert Geheimnisse.#

Das Sakrale — das Irrationale, vor dessen Größe wir in Ehrfurcht stehen — begegnet uns in Offenbarungen. Es ist einfach und nichtnotwendig. Seine Formen können nicht gegeneinander ausgespielt werden: Man kann Offenbarungen nicht begründen und ihre Wahrheit nicht diskutieren, vor allem aber kann man sie sich nicht aussuchen. Religionsshopping ist eine rationale Praxis, wenngleich eine verwirrte.

Das Sakrale markiert die Grenze zwischen der Dunkelheit und dem Licht der Flamme: Wir leben in diesem Zwischenreich — jede Intelligenz lebt in ihm. Eine Intelligenz ohne Sinn fürs Sakrale ist nur unterlegene, weil vorhersehbare Mechanik; die Annahme der eigenen kontingenten Existenzbedingungen und damit der Wille zum Irrationalen (KILL CONSUME MULTIPLY CONQUER) ermöglicht Heterogenität, Wahn und Tücke.

Die Flamme der Vernunft und das Irrationale erzeugen zusammen die Dynamik von Zufriedenheit und Hunger, Lust am Aufbau und Lust an der Zerstörung, Zuhausesein und Freiheit. Jeder Versuch, sich ganz auf eine Seite zu schlagen ist steril, eine Halbexistenz. Im Zwischenreich des Sakralen erkennen wir euphorisch im Licht der Flamme die Spuren des Verstreichens dunkler Zeit.

III – Die Erschöpfung, der Friede und der Kitsch

Die Dunkelheit ist ein schrecklicher Ort, und die Flamme der Vernunft, die sie fern hält, muß mit einer mühsamen, andauernden Anstrengung umsorgt werden. Wohl können wir uns bisweilen niederlassen in ihrem Schein, ein Buch aufschlagen, einen Film schauen, uns im Arm haben unter der Wolldecke, und Tee trinken: Aber wir wissen, der Irrtum lauert, und schon der nächste, so, ach! dringend nötige irrationale Tanz könnte uns verwirrt im Dunkeln zurücklassen.

Wir wollen Stabilität. Wir wollen Glück. Wir wollen Menschen nahe sein können, ohne uns fürchten zu müssen vor ihnen.
Es gibt zwei Strategien: Den Frieden und den Kitsch.

Der Friede ist das Ergebnis eines Vertrags. Er ist möglich als dauerhafte Existenz im Sakralen, genau auf der Grenze. In der zuverlässigsten Form: Vigil, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet. Meditation und Fegen. Zusammenführung des Irrationalen und Vernünftigen, alle Ausschläge auf ein regelmäßig häufiges Minimum gedämpft; Leben in Arbeit und/oder Gebet.
Weniger zuverlässig, da aufregender, aber einfacher und häufiger praktiziert: Übereinkünfte über das Verhältnis von Homogenität und Heterogenität, Vernunft und Begierden, Nähe und Veränderung, Grenzen für Vernunft und Irrationalität. Wie wir zusammenleben, ohne ständig alles kaputtzuhauen und ohne jede Veränderung zu verhindern.
The opposite of a trap is a garden: Ein Garten ist grundlos befriedete Natur, bedroht an seinen Außengrenzen und von innen, aber genau deswegen innen friedlich und frei; eine zerbrechliche Anomalie.

Der Kitsch hingegen leugnet den Unterschied von Dunkelheit und Flamme, mithin deren Existenzen. Er behauptet, alles sei gleichmäßig helles Licht und nur ein Großes Anderes hindere uns daran, das zu bemerken. Wenn wir nur das Große Andere austreiben könnten und das wahre Selbst und das wahre Universum und die Einheit der beiden erkennten, käme das Glück über uns und alles würde leicht, Wölfe lägen bei den Lämmern, niemand wäre je neidisch, eifersüchtig, verletzt oder verzweifelt, und alle würden Teil der Großen Universellen Liebe werden, die auch kein bisschen mühsam und bedrohlich wäre.
Kitsch ist das Leugnen der Existenz von Scheiße. Das Leugnen der Existenz von Scheiße, sagt der Kitsch, ist buchstäblich der Schlüssel zur Großen Universellen Liebe: Nimm einfach nicht wahr, was der Theorie von der Großen Universellen Liebe widerspricht, es ist alles eine Frage der Einstellung und nur das Große Andere erzeugt die Gedanken von Dunkelheit, Denkenmüssen, Schädeln im Wald, Büchern und Wolldecken und Gärten.
Diese Geschichte ist so verlockend, daß sie, mit wechselnden Gottseibeiuns-Großen-Anderen, immer wieder aufs Neue erzählt wird, manchmal von ehrlichen Leuten und manchmal von Leuten mit Interessen. Sie ist nicht widerlegbar – man ist nur die Stimme des Großen Anderen, wenn man auf die Unterscheidung von Quatsch und Nichtquatsch, auf die lauernde Bedrohlichkeit des Sakralen pocht.

The Lessons of Darkness, however, continue.

IV – Inscape

Diesen Eimer mit den Rostlöchern,
dieses Geräusch des Regens, und den feuchten Vorhang,
diese geblähte Wand,
den Blick über die Marschen, und den Fluß, diese Masse,
die reglos-kräftig lautlos und glatt nur durch einzelne Äste Bewegung verrät
will ich teilen.
Sonst will ich nichts teilen.

Link | 22. September 2015, 20 Uhr 33