Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Gegenwärtig ist es wieder einfach, in der Geschichte eine Richtung zu erkennen: Die Rückschläge sind selten geworden und haben eine beherrschbare Qualität angenommen. Die Erinnerung an eine höllische Welt, in der ein trockener sicherer Schlafplatz und genug zu Essen unerreichbare Phantasien waren, ist mehr als drei Generationen alt. Zum Mars zu fliegen kommt uns nicht mehr unrealistisch vor, genausowenig das Ziel, in nicht allzuferner Zukunft mit dem solaren Energiebudget ohne Rückgriff auf fossile Reserven auszukommen. Automation und Ephemerisierung sind so offenkundig real und erzeugen ein so klares Bild der Zukunft, daß das Erschrecken vor dieser Zukunft kein Erschrecken vor einem möglichen Rückfall in die Höllen des frühen 20. Jahrhunderts ist, sondern ein Erschrecken vor einer insgesamt inhumanen Welt.

Die interessante politische Verwerfung läuft deswegen spätestens in diesem Jahrzehnt tatsächlich nicht mehr zwischen dem roten und dem blauen Menschenbild, sondern zwischen rotblauer Reaktion und grauer Vita Activa.

(Die rotblaue Reaktion ist in Deutschland grün, mit einem Begriff von Natur, der sie als Zweck behandeln möchte; blau, auf einer atavistischen Welle ethnischer Panik reitend; und rot, mit der rührenden Forderung, die Wirtschaft solle dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Von der genuin schwarzen, christlichen Variante hört man kaum noch etwas, reaktionär empfindende Christdemokraten schöpfen offenbar auch lieber aus der blauen Quelle.)

Gemeinsam ist vielen Varianten dieser kulturell extrem breit aufgestellten Reaktion, daß sie sich nach Statik und Nullsumme sehnen: Eine Natur, in der in alle Ewigkeit das zum Circle of Life verkitschte permanente Blutbad der Evolution sinnlos und richtungslos bleibt. Ein ethnisch homogenes Museum des Deutschen Reiches, nur echt mit falschen Adligen und agrarischer Lebensform. Oder eben ein Museum der amerikanischen 70er, mit Männern in Stahlwerken.

Das Sehnsuchtsgrundmodell ist dabei immer Gormenghast: Eine endlose ungestörte Folge von Söhnen, die ihre Väter ersetzen, um genau dasselbe zu tun wie ihre Väter. Denn: Immerhin sind in Gormenghast alle Akteure menschlich. In der Zukunft aber, die sichtbar wird in der Perspektive der Geschichte, in der wir tatsächlich zu leben scheinen, spielen Menschen kaum noch eine Nebenrolle. Eine von ihnen losgelöste Produktivität, externalisierte Intelligenz, sogar eine autonome Ästhetik erscheinen dort, aber viele unserer zum „Menschlichen“ verherrlichten ererbten Lebensbedingungen verschwinden: Familie in Wärme und Terror, Körperlichkeit in Glorie und Zerfall, Zusammenleben im Rudel in Freundschaft und Gruppengewalt.

Die Graue Option begrüsst eine solche inhumane Zukunft. Nicht um ihrer selbst willen, sondern als aufregendere und für den Einzelnen jetzt lebbarere und ehrlichere Alternative zu allen vorgeschlagenen rotblauen Varianten von Gormenghast: Die graue Option nimmt euphorisch Teil an der inhumanen Geschichte und betreibt sie, statt sie untauglich zu verhindern zu suchen. Mit anderen Worten, die Graue Option ist die Option der klassischen Bond villains, und nicht ohne Grund ist in der letzten Dekade eine postkalifornische Ideologie entstanden, deren ehrlichste Vertreter bewusst auf Bondvillain-Coolness anspielen: Ihrem Tribe kann man mit Rhetorik von „Menschen verbinden“ und „Idealismus“ nichts mehr erzählen.

(Bond selbst übrigens ist ein Agent im Dienste der Regierung seiner Majestät, also Gormenghasts, durch und durch der immer siegreiche Bewahrer der alten menschlichen Ordnung. Daß er einmal pro Generation neu erfunden werden muß, weil die frisch bewahrte alte menschliche Ordnung für ein neues Publikum nicht mehr wiedererkennbar wäre, zeigt nur, daß Gormenghast realiter nie eine Chance hatte und hat.)

Link | 7. April 2018, 15 Uhr 35