Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Applied Ballardianism von Simon Sellars, Memoiren aus einem parallelen Universum: Memoiren vielleicht, psychotische Halbfiktion eher, sicher eine kleine Geschichte von Sellars‘ Themen — Micronations, Nichtorte, Psychogeographie, Ballard — eine Sammlung von Theoriefragmenten und eine anekdotische Diagnose des Zustands von Academia, insbesondere der kritischen Geisteswissenschaften, von einem, der ihre Geistverlassenheit nicht erträgt.

Und natürlich angewandter Ballardianismus, Bericht eines halben Lebens, verbracht in einem vollständig von Ballard konfigurierten Wahrnehmungsmodus, in dem die inhumane Qualität bestimmter Typen von Raum und die mit ihnen verbundenen Gewaltformen aufleuchten wie im Wärmebild und attraktiv werden wegen der durch sie erschlossenen Verbindungen zu primordialen Persönlichkeitsanteilen.

Für nicht-Ballard-Leser ist Applied Ballardianism vermutlich ein vor allem konfuser Text, für Leser tatsächlich eine Wiederbegegnung mit dem schwer zu greifenden, sorgsam nie explizierten, zutiefst widerwärtigen Hintergrundrauschen des Ballard-Universums. Der Text handelt in der Hauptsache von „Sellars“ Scheitern an seinem Versuch, diesen Hintergrund theoretisch zu fassen, von seinem Scheitern am kritischen Jargon, der text- und wirklichkeitsfern seinen Stuss vor sich hinblubbert, und Scheitern an den Ideen, die übrig bleiben, wenn man den Jargon weglässt.

Der (durch Sellars selbst irgendwann) weitestmöglich jargonbefreite Kern seiner Ballard-Deutung ist, so scheint es, schon dies: Im Spätkapitalismus herrscht eine Konsumkultur, die den planetaren Raum vollständig ausfüllt, vor der man also nirgendwohin mehr physisch fliehen kann. In ihr existiert ein prekärer, durch einen enormen Überwachungsapparat und seine ständige Bildproduktion aufrechterhaltener Friede. Da wesentliche menschliche Bedürfnisse in dieser totalen Zone des Konsums aber unbefriedigt bleiben und unerträgliche Langeweile die Folge ist, gibt es zwei Arten des Widerstands, die jederzeit spontan oder auseinander entstehen können: Den Rückzug in vom Kapital nicht kontrollierbare innere Räume, und den Ausbruch äußerer, extremer Gewalt wider die Konsum- und Medienordnung, gerade für die Kameras performt.

Das ist nun kein unvertrautes Raster, sondern eins mit spätestens seit der Jahrtausendwende hoher kultureller Sichtbarkeit: Fight Club und Tiqqun und die ganze frühe Netzkultur bieten nahezu identische Wirklichkeits-Großerzählungen an.

„Sellars“ Scheitern in Applied Ballardianism könnte nun durchaus seine Ursache darin haben, daß dieses Raster bananas ist: Er bemerkt ja durchaus, daß die spontane Straßengewalt, die er so anzuziehen scheint und die ihm als verräterisches Symptom erscheint, nicht von vom Kapitalismus gelangweilten Moms in Malls ausgeht, sondern von jungen Männern und manchmal von einem jungen Mann namens „Sellars“. Immer wieder versuchen ihm Leute auch zu sagen, daß die Form von Maskulinität, die er lebt, schwer mit seiner erklärten Abscheu vor Gewalt zu vereinbaren ist.

Was dagegen nie zur Sprache kommt ist, vor welcher Alternative Ballard seine Angriffe auf den Spätkapitalismus denn eigentlich angeblich vorträgt. Diese gewaltlose Welt, in der der Friede von selbst und ohne CCTV herrscht, weil der gebaute Raum den Bedürfnissen der Menschen entspricht und niemand sich langweilt: Wie geht die nochmal? Wo findet man sie bei Ballard, auch nur angedeutet?

Die Ballard-as-Fight-Club-Lesart ist, als würde man darauf bestehen, Barry Lyndon als Kritik am Absolutismus und am System der Kabinettskriege zu lesen. Kubrick interessiert sich aber nicht für Jakobinismus, er interessiert sich dafür, was Menschen für Tiere sind. Und wie Kubrick nicht sagt: „das wären totale Supertiere, wenn nur der Absolutismus abgeschafft wäre“ kann man Ballard nicht unterstellen, sie zu Supertieren zu erklären, wenn nur endlich der Spätkapitalismus mal aufhören würde. Die Diagnose, bei Kubrick und Ballard, ist: „Die Gewalt ist der Hintergrund. Ob man gepuderte Perücken oder Konsum und CCTV auffährt zur Zivilisierung: Sie lässt sich bestenfalls mühsam unterdrücken. So ein Tier ist nämlich der Mensch.“

Not pretty. Das macht die Diagnosen nicht weniger wahr: Natürlich gibt es eine allpervasive globale Konsumkultur und das in seinen Ausmaßen gar nicht zu überschätzende Vernichtungswerk des Lonely Planet — Sellars kann ein Lied davon singen und singt eins. Es gibt nur keine Schuldigen, nicht einmal systemisch, und keine friedlichen Alternativen: Nicht bei Ballard jedenfalls. Es gibt nur uns und die Hölle, die wir sind, und einen erbarmungslosen Blick darauf, Augenlid nach unten gezogen.

Wie Mark Fisher (und andere gute Leute aus dem Zero Books/Urbanomic-Umfeld) hat Sellars aber selbst: Sehnsucht nach der Zukunft, die einmal war. Sehnsucht nach einer Welt, in der benevolente, gute, groß gedachte Architektur uns befriedet und Zellen von Raum befreit. Und es geht ja, es ist ja möglich.
Einen Weg allerdings durch den Ballard gehen zu wollen, befeuert von adoleszent-männlichen Gewaltphantasien auf den an all der Gewalt schuldigen, weil langweiligen Konsumerismus loszugehen, ist einigermaßen absurd: dicit Sellars, am Ende seines Weges. Stimmt wohl, überrascht nicht total: Memoiren aus einem schon sehr parallelen Universum.

Link | 19. August 2018, 20 Uhr 02