Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Es ist vielleicht ein Spaziergang. Wenn mich jemand fragen würde, denke ich, würde ich wohl sagen: Ich gehe spazieren, ich gehe ziellos umher. Im Stadtbad sitzen sie noch und lachen. Ich finde es gut, daß kein Wasser im Bad ist, ein prächtiges Bad ohne Wasser, im Zustand des Verfalls hat es seine Bestimmung gefunden; Menschen, die Wassersport treiben sind mir unheimlich, Menschen, die sich um ein verfallendes Bad ohne Wasser kümmern dagegen mag ich. Der Copyshop hat zu, es muß spät sein. Ein sehr helles Mädchen steigt auf ein Fahrrad, hoffentlich fällt es nicht oder zerbricht auf den Pedalen. Viel Licht im Stuckgeschäft, ich denke: Ein Stuckgeschäft, ein junges sogar, sie formen auch deinen Körper aus Stuck, wenn du willst. So etwas ist nicht für dich, über Stuck denkst du nicht nach, deine Sorgen sind anderer Natur. Ich kriege es aber nicht hin, das Westdeutschenwort „prekär“ in diesem geistigen Tonfall zu denken, in dem man es denken muß, leicht vorwurfsvoll, mit der Miene eines geprellten Siebenjährigen. Was immer meine Lage ist, prekär jedenfalls ist sie nicht, beschließe ich. Vor mir im Mauerpark fährt die Polizei Schritt, einmal überhole ich sie fast, da packt die der Ehrgeiz, sie beschleunigen und verschwinden. Gespräche links und rechts im Dunkel, Flaschenklirren. Jemand hat eine Theorie zur Beziehung von Filterlosen und Sauberkeit. Zwei tauchen auf und gehen vor mir her, er hat ein Fahrrad und sie hübsche Beine, sie sind gerade weit genug weg, um ihr Gespräch zu verbergen, er fährt einen Bogen, da wird sie lauter, aber ich verstehe trotzdem nicht, was sie sagt. Kitsch ist so überflüssig, denke ich, weil so viel Platz für Normalität ist. Die beiden haben links und rechts fünfzig Meter Platz für Normalität und noch vier Stunden, bis es hell wird. Wie immer sie zueinander stehen, sie brauchen keinen Kitsch. Einige Fenster in der hohen Front der Gleimstraße zum Park sind noch hell, auf einem Balkon sitzen zwei Silhouetten beim Wein. Es ist nicht so, denke ich, daß es keinen Überfluß an Glück gäbe. Abundare, von unda, die Welle: Überfließen. In der Schwedter höre ich einen Baum dem Wind antworten, fast unverfälscht ohne Motorradbeimischung, es ist das schönste Geräusch seit Wochen. Endlich der Schwedter Steg, der sich nachts immer vor einem ausstreckt, als zöge ihn etwas über die Gleise. Bis zur Mitte gehe ich, der Klang der Schritte ist charakteristisch, metallen und hohl, aber sehr leise. Der helle Bahnhof Gesundbrunnen leuchtet und zwei fast leere Bahnen kreuzen sich. Ich wäre gern unten im Gras, drei Haufen Steine liegen dort, aber man kommt nicht so leicht dorthin, jedenfalls nicht, wenn man sich nicht auskennt. Der türmt sich immer, der Wedding am Gesundbrunnen, da drüben hat E. gewohnt, mit seiner verrückt heruntergekommenen Küche und seinem Vollbart, es gibt Bilder. Er sieht aus wie ein Verschwörer darauf, dabei frittiert er nur Kartoffelstreifen. Er wohnt jetzt in Leipzig, der hat die große Hure Babylon verlassen. Ich bin noch da. Ausgerechnet ich. Ich sitze auf keinem Balkon und trinke Wein, die Zeiten sind auch schon wieder vorbei, aber ich wäre nicht hier auf dem Steg, wenn ich auf einem Balkon wäre, und es ist gut hier, weil ich nicht hier sein muß. Ich bleibe, solange ich es aushalte, reglos zu stehen und keinen Grund zu haben dafür. Über dem Aldi ist das Fenster einer Wohnung, wo ich einmal einziehen wollte, eine WG, sogar eine sehr nette. Meine Stadtgeographie spannt sich um WGs, die mich einmal nicht haben wollten. Tote Bifurkationen amüsieren mich. Über der Wohnung, es ist ein Haus mit sehr vielen Schornsteinen, steht der Mond zwischen sehr vielen Schornsteinen. Er zeichnet ihre Umrisse scharf, auch die eines dünnen Stahlgeländers; daß es verbogen ist, macht mich dankbar. Ich denke, daß ich den Mond mitnehmen muß für mein Weblog, ich muß diesen Mond mitnehmen. Erst sehr spät bemerke ich, daß ich nicht mehr allein auf dem Steg bin, ein Paar, sie barfuß, in einem grünen Kleid, er mit Bart und langen Haaren, sehr handfeste, aber kultivierte Typen beide, mitte dreißig vielleicht; ich lächle vorsichtig, ertappt beim Anstarren des Mondes über den Dächern, und als ich vorbeigehe, sagt er – Sag doch mal hallo! Ich sage – Hallo! Und er: – Was machst Du so? Wir haben uns gefragt: Was macht so einer, so relaxt und allein nachts auf der Brücke? Student? Künstler? – Student, sage ich, aber nur gerade noch so. Was denn, will er wissen, ich achte das Ritual: – Einmal raten! – Mit Musik was, rät er, dann überzeugt: Schauspiel? – Oh, Schauspiel, sage ich und mache eine Pause, sie wiederholt – Schauspiel!?, dann dementiere ich – Nein, aber da traut mir jemand was zu. Dann sage ich, was ich wirklich mache, die beiden sind auch damit zufrieden, dann rate ich ihnen, sich auf der Mitte des Steges noch einmal umzudrehen, wegen des Mondes über den Schornsteinen des Hauses mit der WG. Das ist vielleicht ein Tick zu viel Intimität, bemerke ich, aber sie bedanken sich und wünschen mir eine schöne Nacht, ich ihnen auch. Ich ihnen auch. Schauspiel, etwas schöneres hätten sie kaum sagen können. Ich probiere eine Martin-Wuttke-Geste und verbringe den Rückweg durch den Mauerpark in Gedanken auf der Bühne. Ein bisschen Kleist und ein bisschen Schiller und ein bisschen Hauptmann fallen mir ein, und im Geiste rumple ich mit alter Sprache herum und versuche die Sexyness einer leeren schwarzen Probebühne zu fassen zu bekommen. Vielleicht ist es der leichte Ernst dieser Orte, der nur den Schauspielern gehört, sie geben nur ganz selten davon ab. Schauspiel. Werde ich nie studiert haben. Die Form des leichten Ernstes ist eine jugendliche Form, insofern werden Schauspieler nicht alt, nur wir anderen. Menschen haben zweierlei Eigentum: ihre Lebenszeit, ihren Eigensinn. Vielleicht hat die Bühne diesen Ernst nicht allein. So etwas kann nur einer formulieren, der den leichten Ernst kennt, es ist ein leichter und ernster Gedanke. Alexander Kluge ist einer, der nie aufgehört hat, wie ein Neunzehnjähriger zu denken, so schnell und so ernst und so rauschhaft wie man als Neunzehnjähriger eben liest und denkt. Vor dem Stadtbad Oderberger sitzt ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren neben einem Neunzehnjährigen. Ich lächle gegen das Licht an und bemerke zu spät, daß sie weint. Er bemüht sich um Abstand und Trost, das kenne ich, eine zerbrechliche Situation. Hoffentlich haben sie mein Lächeln nicht gesehen, falls sie auch nur einem Hauch von Hohn darin gelesen hätten, es täte mir sehr leid.

Link | 14. Juni 2006, 2 Uhr 16 | Kommentare (8)


8 Comments


Schön.

Kommentar by stralau | 7:51




Vigilien gehört für mich zur notwendigen Entschleunigung der hektischen Blogosphäre. Dieser Post bestätit das. Gut gemacht.

Kommentar by Flohbude | 8:00




danke [der kommentarklassiker, wenn man eigentlich in tausend worten beschreiben möchte, was einem so gut an dem text gefallen hat. dabei stört schon ein wort wie „danke“ den nachhall.]

Kommentar by malo | 8:24




wunderbar.

Kommentar by undundund | 13:42




Auch danke, aber auch bitte: Bitte lesen.

Kommentar by froschfilm | 15:46




Großartig, danke.

Kommentar by Sonntagsblogger | 10:26




Scheinbar zielloses Umhergehen – da kräht vielleicht die eine oder andere To-Do-Liste auf ihrem Miste. Aber diese Zwischenzeit zwischen Nacht und Morgen bietet die ganz besonderen Momente vor der Rente!

Kommentar by Moewenglanz | 21:12




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Kommentar by ruhepuls | 19:09