Vigilien

is there any any? nowhere known some?

– Ey wat machstn du’n hier? rief der eine junge Typ freudig überrascht; – Weesick selba nich, äh, Döna fressn glaubick! antwortete der andere schon über die Schulter am Arm einer resoluten Sechzehnjährigen, die ihn zur Treppe zog und ihm den Plausch nicht gestatten wollte. Warschauer Straße, großer Samstagabendumsteigebetrieb.

Ich hatte es mit einer für Oktober sehr lauen Nacht zu tun, das Blickefangen war außerordentlich leicht. All diese unglaublich schönen Menschen waren unterwegs, ich konnte mir nicht vorstellen wohin. Überhaupt konnte ich mir nicht vorstellen: Wo schliefen die? Wo kam so viel Schönheit und Kraft unter? Warum brach das nur samstagabends frei, welche Wände hielten das alles während der faden Tage?

In der U-Bahn saß einer und zeichnete, die andern versuchten ihm zuzuschauen, er war aber gewitzt und saß günstig. (So fanden wir nicht heraus, ob er zeichnen konnte.) Eher zufällig las ich während der langen Fahrten „Fabian“ von Kästner, es war sonst nichts im Haus gewesen, aber natürlich machte es Spaß, durch diese Stadt zu fahren mit der Lektüre. Im Südosten ist zur Zeit überall Ersatzverkehr, alle naselang muß man durch einen überdimensionierten Bahnhof und den Bus suchen, speckig und verklebt und sinnlos groß ist alles, aber im Glas der kleinen Bude hängt die Pappe „Suche Floristin“, und so geht das halt.

In all der nächtlichen Bewegung und Jugend und Gloria ist das beherrschende Thema aber Schlaf: Alles passiert noch immer unter Glocke, noch ist der Ort nicht wieder aufgewacht, trotz allem nicht, es geht um nichts, das ist es, man gewinnt nicht, man verliert nicht, man hungert nicht, nur irgendjemand baut überall leere Sandsteinfassaden und Bahnhöfe, damit wir merken, daß Zeit vergeht. (Ein Erwachen kann man sich tatsächlich nur als Explosion denken, wenn überhaupt.)

[Parties immerhin, Stahlbäder der Eitelkeit. Der eine Typ erklärt der armen L., daß er in Cambridge gewesen sei und fließend Französisch spreche („fließend“ sagt er), daß man die Geschichten des anderen Typen über Franzosen, die sich in WGs schlecht benommen haben, aber nicht generalisieren dürfe. Ich schäme mich. Eine Stunde später erzähle ich trotzdem unkontrolliert von mir selbst, verdammter Muskat; wenn ich noch etwas vorhabe in diesem Leben, dann das zu lernen: Wie man auf Parties trinkt und plaudert ohne Selbstgefälligkeitskater tags darauf — man sollte ein zweites Leben erfinden, eines, das noch schlechter zu verkaufen ist.]

[In meiner süddeutschen Heimatstadt mache ich längst das Gegenteil, ich lüge den alten Gefährten die Hucke voll, Geschichten mit weißen Anzügen und Ebenholzknäufen die niemand glaubt, ich rolle die Augen und sage: Du ahnst nicht, was hinter den Kulissen der Hauptstadt… alles, alles, um der Ödnis wechselseitiger Lebenswegevaluation zu entgehen, ohne mich dem Kontakt mit Leuten entziehen zu müssen, die ich eigentlich mag — schwierig, aber inzwischen lustig -]

Link | 23. Oktober 2006, 1 Uhr 00