Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Berlinale. „Ne touchez pas la hache“. Ich mochte den Film. Ich habe mich geärgert über die anderen im Kino. Der Ton war über einem konstanten Hust- und Rotzpegel kaum hörber. Dafür können die armen Infizierten nichts, aber es war ärgerlich.

Neben mir saß eine junge gutaussehende Blonde, die alle 10 Minuten eine Anderthalbliterflasche Wasser ansetzte mit Geschwapp und Geplatsch, einen saugenden Schluck tat und wieder absetzte. Man muß viel trinken, sonst kriegt man Falten, bevor jemand wichtiges bemerkt hat, daß man schön ist. Es ärgerte mich umso mehr, als ich selbst Durst litt und man mir gerade gesagt hatte, ich sähe todkrank aus.

Da saßen lauter wohlgenährte gesunde vernünftige Leute mit Erkältung in diesem Kino.

Dauernd gingen welche raus. Sie hoben ihre raschelnden, dicken Einkaufstüten über ihre Köpfe und zwängten sich durch die Reihen. Ich hasste sie aus vollem Herzen. Nicht nur, weil ich den Film mochte, sondern weil sie sich so wichtig nahmen, sich und ihren blöden Freitagabend. Wie kann man nur einfach tun, wozu man grade Lust hat.

In „Ne touchez pas la hache“ geht es um zwei Liebende im bonapartistischen Frankreich. Keine Musik, dafür Tafel-Einblendungen wie im Stummfilm. Es wird mehr gesprochen als gespielt. Die Gespräche sind lang und umständlich. Historische Kostüme sieht man zuhauf, aber sie spazieren nicht durch rauschende Feste und Sonnenschein, sondern durch die schiere gesellschaftliche Ödnis und ein februargraues Paris. Die Liebenden scheitern fürchterlich. Erst an ihren gewohnten Rollen, dann an ihrer eigenen ungeheuren Stärke. (Die gesellschaftliche Konvention und die Religion, die immer wieder als Schuldige verhandelt werden, spielen in Wahrheit gar keine Rolle, das wird aber nie ausgesprochen). Die beiden sind unglaublich hart zueinander. Immer wieder taucht ein gallebitterer, ebenfalls februargrauer Humor auf, der die Überspanntheit der Geschichte balanciert.

Der Film ist nicht schön, nicht unterhaltsam, nicht spannend und nicht lustig. Er ist auf eine fast bösartige Art interessant. Er zeigt radikale Menschen, wie es sie zumindest heute kaum gibt. Mich hat das gefreut, die anderen fanden den Film darüber unglaubwürdig und nicht-nachvollziehbar.

Hinterher habe ich mich gestritten. Den Film gutzufinden sei ein Zeichen meiner zwanghaft anderen Meinung. Und mein Wunsch nach einer von einem Musikwissenschaftler gelieferten Rezension des jüngst besuchten Konzerts sei Ausdruck meines Willens zur Klugscheisserei. Ich fühlte mich unnötig verletzt, verstand aber, daß der erste Affront von meiner Seite gekommen war: Man hätte Nachsicht mit dem Publikum üben müssen, nicht mit dem Film. Den Film nicht schlecht zu finden war sozial ein Problem. Es wäre wichtiger gewesen, durch gemeinsames Lästern Empathie zu produzieren als darauf hinzuweisen, daß man ja doch kompliziertere Ansprüche an manche Filme haben kann als daß sie irgendwie gefallen.

Gestern wurde mir von anderer Seite gesagt, ich sei ein Snob. Ich verbrächte viel Zeit mit der Simulation von Lebensart. Ich denke, das hat damit zu tun, daß ich kein Plastik am Körper trage, obwohl wissenschaftlich bewiesen ist, daß alles an dem Plastik besser ist als an Filz oder Wolle. Snob. Ich hätte die Frechheit mit einer vollen Breitseite beantworten sollen: Prenzlauerberger Milchkaffee-Spießer. Ich hab’s nicht getan. Nicht aus mangelnder Streitlust (denn daran leide ich keinen Mangel), sondern aus Erschöpfung. Zumal auch hier der Affront von mir kam in der Vergangenheit. Ich mache mich manchmal eben darüber lustig, wenn Leute ihren speziellen Zeichendialekt für die eine codefreie Sprache halten, für die Reinheit und Ehrlichkeit und pure Vernunft selbst.

[Ich würde mich so gerne entschuldigen für das alles, für mein Augenrollen manchmal, das doch nur die Forderung nach Anerkennung des ganz Anderen ist. Aber ich müsste mich entschuldigen für meine Ungeduld mit unoriginellen Meinungen, und das wäre selbst unangemessen arrogant, das kann ich nicht machen. Es ist eine Crux.]

[es gibt eine herzlichkeit / jenseits von jonglieren]

Link | 17. Februar 2007, 2 Uhr 18