Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Meine Fresse, sagte ich ergriffen zu den Wolken, denn da war es wieder. Den ganzen Tag lang schon hatte ich ein Gefühl hilfloser Freude gehabt und jetzt, als Schlieren in gelb und rot und gold über das Dach des Amtsgerichts zogen und eine ferne Harmonika eine mir unbekannte, stark synkopierte Melodie spielte – südamerikanisch? – war es wieder da; eine kühle Brise griff in mein Haar, fast fühlte ich ihre Finger, und der Moment verschmolz mit den anderen Momenten dieser Art, mit einem Abend am Fenster in einer engen südfranzösischen Gasse, mit einem Abend auf der Terrasse direkt hinterm Deich auf Fehmarn, mit einem Sonntagmittag auf einer Anhöhe im Schwäbischen und den anderen Momenten: Da war es wieder.

Wenn mich einer fragte: Was für einer bist du? Und ich müsste so eine Fänger-im-Roggen-Antwort geben, dann würde ich sagen: Ich bin der, der am offenen Fenster sitzt, liest und wartet auf das Geräusch des Schlüssels in der Tür; und während er sitzt und liest und wartet, lauscht er den Rufen und dem Lachen der Kartenspieler, irgendwo draußen in der Gasse, unsichtbar und fremd.
Oder ich würde sagen: Ich bin der, der im Park den Mädchen nachsieht, wie sie davongehen in ein Leben, in dem er nicht vorkommen wird, mit sanften Bewegungen ihrer weichen, verrückten Wirklichkeit, wie sie fröhlich und in Anmut an ihm vorbeigehen; ich bin auch der, der es versteht, ihre Grausamkeit zu nicht zu bemerken.

Wenn ich Sie jetzt nicht glauben gemacht habe, ein guter (oder bis zur Dummheit sentimentaler) Mensch zu sein, haben Sie kein Herz, lieber Leser (oder eine Abneigung gegen Kitsch).

Link | 17. August 2004, 21 Uhr 02 | Kommentare (5)


5 Comments


Max Goldt zu Kitsch (in Las Vegas, „Kitsch“ und „Satire“, dass ich hier neulich auch schon zitierte: http://gig.antville.org/stories/860801/#891010):
(…) Entbehrlich ist allein der Begriff „Kitsch“ – eine Totschlagvokabel, die aufgrund semantischer Überlastung gar nichts mehr transportiert außer einer diffusen Überlegenheitsssehnsuht des Sprechers und daher geflissentlich gemieden werden sollte.

Kommentar by froschfilm | 17:07




Von einer noch viel diffuseren Überlegenheitssehnsucht zeugt es allerdings, dem Sprachgebrauch anderer eine diffuse Überlegenheitssehnsucht als Motiv zu unterstellen. Dieses Argument ist leider komplett rekursiv und folgt dem Muster „Das ist doch bloß so ein Gestus, mit dem Du mir unterstellst, meine Haltung sei Gestus. Hollahi-hollaho, ich bin aber objektiver!“

Und das Lamm sprach: „Hurz“.

Kommentar by spalanzani | 17:39




Nun ja, wenn man argumentiert, muss man doch behaupten, man wisse es besser. Dem Max-Goldt-Fazit geht übrigens noch eine knappe Seite im Text vorraus, die aber den Kommentarrahmen gesprengt hätte.
Ich bin übrigens gar nicht der Meinung, dass man „Kitsch“ als Begriff abschaffen sollte. Unsinnige (unscharfe) Begriffe wollten schon die logischen Positivsten abschaffen und sind kläglich gescheitert.
Mit „Kitsch“ müsste man ja auch „Kunst“ verbieten.

Wieauchimmer, mir gefiel dein Eintrag.

Kommentar by froschfilm | 17:52




Nunja, dann wäre ich der Mensch, der sich still ans andere Ende der Parkbank setzen würde.

Kommentar by Doloris | 18:01




sehr freundliche und aufschlussreiche entwarnung vor bösen bots. bin zum ersten mal hier, aber das seit beinahe einer halben stunde und lese alles, was es zu lesen gibt, mit gefällt der stil, deshalb kein gewünschter kommentar speziell zum letzten artikel, mehr eine ganzheitliche durchwegs positive kritik.

Kommentar by veronika | 20:06