Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Berlin ist unheimlich. Die Asche überall, die Toten, die Garben im Sandstein, die Seelen derer, die an diesem Ofen in meinem Arbeitszimmer saßen, den es schon viele Dekaden lang nicht mehr gibt; wer hat meine Küchenmöbel gebaut aus OSB und Terrakottafliesen, die ich schon ein Jahrzehnt lang mich weigere gegen etwas von IKEA zu tauschen? Die Regentropfen, die vom genieteten, vielfach lackierten Stahl der Hochbahn in unsere Nacken fallen, kalt, die Ströme von Rinderblut in den Rinnen, wo sie heute Fahrräder verkaufen; die Kugeln und Aggregate, Lichtbögen und Lederhandschuhe, die Hundertschaften vor den Werktoren, Feuer in den Dachstühlen und die in Zeitlupe fallenden Scherben der Oberlichter, die Welt aus Zucker und Dreck, Tempo vor der Zeit.

Ich hatte die Angst verloren vor diesem Ort, vor diesem unter dem Gewicht der Toten in den weichen Sand sinkenden faulen Koloß, diesem Schatten seiner selbst, diesem Glutrest der Moderne, ich hatte die Angst verloren, die mich begleitet hat in die Wohnungen meiner Kommilitonen, mit der Frage: Warum sehen sie es nicht? Warum sehen sie nicht den Engel der Geschichte, oder hören den Wind in ihren Schwingen, oder fühlen die Asche prasseln auf ihren Wangen?

Aber Monate des Friedens an einem weniger dichten Ort, einem Ort mit ein, zwei wunderlichen Geistern, von denen man Dias fand, haben die Angst zurückgebracht bei der Rückkehr nach Berlin, die Fassungslosigkeit angesichts der Ungeheuerlichkeit einer Gegenwart auf dieser Ruine, den Ekel vor der Überhebung der Lebenden, Six Bells Chime.

Link | 23. April 2021, 0 Uhr 34


Nur ein paar hartgesotten Ergriffene klatschen noch, dünn und herausgefallen, von den Rängen. Das Gemurmel ist mit dem Licht gekommen, Rascheln der Programmhefte, die schon Souvenirs sind oder nur nicht liegengelassen werden aus Artigkeit. Kühle Luft kommt durch die Türen, Sauerstoff, die musikdichte, zerwühlte Atmosphäre löst sich auf von unten. Benommen gegen einen hochgeklappten Sitz wippend, wartend, lächelnd; ein silberhaariger Herr nimmt seine Frau am Ellbogen, unbestimmt, man weiß nicht, um einem Nachbarn den Vortritt aufzuzwingen oder aus eigener Ungeduld. Den Blick schweifen lassen, wo ist das blaue Kleid auf der anderen Seite? In welches Leben verschwindet sie? Und unzeremoniell räumt ein einsamer Perkussionist seine Sachen beiseite auf dem erledigten Parkett.

Link | 9. April 2021, 22 Uhr 22


Also, sprechen wir ohne weitere eigene Krachtiaden und Montreux-Allusionen über Eurotrash. Voraussetzen sollten wir, um das Diskursfeld nicht erst selbst auskundschaften zu müssen, vielleicht diese kluge Rezension von Christian Metz.

Eurotrash handelt allerdings nicht von Schuld und Erinnerung, wie die anderen Bücher von Christian Kracht nicht von Schuld und Erinnerung handeln.

Die nationalsozialistischen Verbrechen sind nicht das Thema Krachtscher Literatur – dazu ist Kracht zu jung und er hat zu viel Geschmack; schreibt einer seiner Generation, oder gar meiner, dazu, ist es immer schlimmer Feuilleton-Streberpulp. Trotzdem sind bei Kracht alle irgendwie Nazis, geben Nazigeld aus; Reichtum kommt, so scheint es, immer aus dem Kosmos von Bernt Engelmanns Macht am Rhein: Alte, manchmal feudale oder koloniale Vermögen, die in Komplizenschaft durch die NS-Diktatur gerettet oder junge Vermögen, die in ihr auf nicht mehr aufzuklärende räuberische Weise erzeugt worden sind. Schreckliche herrschsüchtige Charaktere, Männerbünde mit all ihren Abgründen, zwei Geschosse hohe Büros in jungen Versicherungskonzernen, mit Messing-Doppelportalen und paranoider Fernsprech- und Überwachungstechnik in Bundespost-Erbsgrün und Gold: Die Welt, in der der Journalistenklub im Springer-Hochhaus entsteht. Kein erfundenes Milieu, aber eins, das weitgehend unsichtbar ist und auch nach dem Faserland-Ereignis, zumal es zunächst lange viel Verwirrung gestiftet hat, unsichtbar geblieben ist.

Eurotrash handelt, wie die anderen Krachtbücher und die Zeitschrift, von einer spezifisch europäischen Version des Reichtums. In Eurotrash zeigt Kracht eine seiner Karten und erwähnt Bataille direkt: Verschwendung ist, wenn man in Reichtum hineingeboren ist, die einzige Chance auf Souveränität — tragischerweise macht Verschwendung souverän, entschuldet aber nicht. Der schuldigen Herkuft von Reichtum ist nicht zu entkommen, und bataillesches Anagieren gegen ihn vertieft die Schuld eher als sie sie aufhebt. Krachtfiguren sind von vorn herein Verdammte aus genau diesem Grund.

Das alles ist wahr in einem Große-Literatur-Sinn: Der Durst nach Vernichtung in einem in batailleschen Begriffen korrekt beschriebenen Universum ist so universell wie der Ekel vor der Akkumulation und der prometheische Stolz der Verschwendung.

Ironischerweise hat uns das alles nicht interessiert. Bestenfalls sind wir von Kracht im Lauf der Jahre auf diese Spur gebracht worden — aber zu Bataille führen zu viele Spuren, um ihn zu verpassen. Ironischerweise war Faserland libidinös erfolgreich genau als ein Buch für uns Kleinbürger, die vom Reichtum träumen: wie Proust eine Mogelpackung, vordergründig mit Erinnerung und der menschlichen Erfahrung an sich befasst, in Wirklichkeit eine Chance für den Snob, sich was abzuschauen und sich hineinzubegehren in eine verschwenderische Elite.

Eurotrash liefert keinen fan service: Das ist gut. Im Gegenteil scheint das Buch einen redlichen Versuch zu machen, uns noch einmal auszubuchstabieren: Was ihr so attraktiv fandet an der Faserlandwelt war, vielleicht, Jugend? Das Milieu kann es doch nicht gewesen sein!

Aber natürlich war es das Milieu. Von der Schuld hatten sie uns viel beigebracht, an den Gymnasien der 90er. Vom Reichtum hatte uns niemand was verraten. Nichts. Dabei musste er irgendwo sein, fabelhaft reich wie Deutschland ist — uns war gesagt worden, die Fernseher und Videorekorder unserer Eltern seien dieser Reichtum (weil: Afrika!), ein Audi 100 sei der Reichtum. Faserland hat diese bundesrepublikanische Reichtums-Omertà zerstört, diese im Nachhinein schon enorm unplausible Geschichte von den Fernsehern und Videorekordern und afrikanischen Kindern entlarvt. Nein, er ist, durchaus, ein Milieu.

Der Nazischmutz ist dabei ein erstklassiger Klassenmarker: Mein Großvater war Essenholer und Kabelzieher in den Gräben der Ostfront, offenbar ein Flinker. Zu einem Totenkopfanstecker oder gar einem richtigen Kriegsverbrechen hätte es so einer nicht gebracht. Diejenigen von uns, die Großväter bei der SS hatten, lassen’s wissen heutzutage: Elite ist Elite. Wir andern sind heimlich ein bisschen neidisch.

Die Schweiz bleibt das Andere zu diesem Deutschland, in dem über Reichtum nicht gesprochen wird. In der Schweiz ist der deutsche Reichtum lange aufgehoben worden, in der Schweiz ist der eigene Reichtum kein Problem. Man schaut ja, als Schweizer, mit elterlicher Sorge über den Bodensee: Schafft Deutschland es irgendwann, sich dauerhaft nicht-charismatisch führen zu lassen, wie eine richtige Republik, und sich wohlzufühlen dabei? Unregiert, also frei unter der Herrschaft des Rechts? Und also das eigentliche Problem zu lösen?

Oder fallen sie doch wieder, die Deutschen, obwohl längst vorbildlich republikanisch verfasst, in die alte würdelose Sehnsucht nach heroischer kollektiv-moralischer Aktion? Und schaffen es die Deutschen, wieder Eliten zu erzeugen, die sich selbst ertragen? Die Bilder besitzen und Musik machen und mit alten jüdischen Damen in New York Tee trinken können und einfach angenehme Leute sein, wie das in der Schweiz und anderswo möglich ist, also ohne das bizarre verdruckste Theater, das sie viele Dekaden nach dem Krieg aufgeführt haben? Reicht die kulturelle Kraft, nachdem die jüdische Intelligenz nun einmal ermordet oder vertrieben ist, eine wirkliche Elite hervorzubringen, aus den Scherbenhäufen der SS- und der Essenholerfamilien und dem enormen Reichtum, der ja da wäre? Oder, so denken sich die Schweizer väterlich und sorgenvoll, ist es jetzt für immer zappelige Barbarei, da im Norden?
Eurotrash, das gar nicht in Europa stattfindet, sondern in der Schweiz, sagt auf seiner Kleine-Literatur/Faserland-2-Ebene: Vermutlich, leider, letzteres.

Link | 5. April 2021, 20 Uhr 43


Der Anblick fiedriger Tannen vor dem Haus, die Kühle der Luft nach dem Morgennebel, reglose Klarheit des Wassers im Trog, fern eine Vielzahl kleiner Glocken; meine Hände wärme ich im Pullover an den Ellbogen, als ich ans Fenster trete.

Die Vorstellung großen Reichtums hatte für mich mit wirklichem Geld nie viel zu tun: Geld wurde verdient oder geerbt oder durch Spekulation erworben, all das waren unreine, mit menschlicher Ambition und Konkurrenz und Niedertracht in Verbindung stehende Felder. Großer Reichtum könnte, das wusste ich immer, nur über einen Zufall zu mir kommen, in Form eines anonymen vergessenen Kontos, auf das ich beiläufig und unverschuldet Zugriff bekäme und das mehr oder weniger unerschöpflich sein müsste, ein blendend goldenes Leuchten aus einer Edelstahlschublade. So ist es mehr oder weniger gekommen.

Man landet, ganz prosaisch und routiniert, als mache man Zwischenhalt auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, um die fürchterliche Lügner- und Trockenbrezelairline United zu vermeiden, in Zürich. Dort verlässt man den Flughafen, passiert die Rauchverbotsschilder mit den durchgestrichenen Pfeifen, und steigt am Hauptbahnhof in einen Zug nach Bern, und da wird man dann durchaus abgeholt. Das diskrete Ritual des Öffnens der Kassette in Bern ermöglicht diesen vollkommen losgelösten Reichtum: Geld, das alle Verbindungen zu seiner Herkunft verloren hat, ist schandlos. Und von dort aus ist es dann natürlich leicht, nach Einzahlung auf ein ganz normales Konto bei der UBS, etwa nach Marokko zu fliegen und etwa die Villa E für ein paar Tage zu mieten und nasse Fußpatscher auf den heißen Polygonalplatten zu hinterlassen, Facial Fuel und eine Tube Odol Med 3 auf dem Spiegelsims. Nach Kiehl’s und Malin+Goetz kommt nicht mehr viel, und eine bessere Zahnpasta als Odol Med 3 kann auch großer Reichtum nicht kaufen.

Oder man lässt das mit Marokko und fährt nur nach Montreux weiter oder bis Montpellier und sitzt am Aquädukt auf einem kühlen Stein und liest im Proust bis man hungrig genug ist, die Scheu vor den Altstadt-Boulangerien und dem eigenen Ungeschick im Französischen zu überwinden.

(Mit wem muß man sprechen, um unerschöpflichen Reichtum in ein Cologne zu verwandeln, das eingestellt und angepasst ist auf die eigene niedrige Kopfschmerzgrenze? Gibt es diese Nummer, bei Guerlain? Ich wäre sehr enttäuscht, gäbe es sie nicht.)

Link | 31. März 2021, 1 Uhr 36


Türen sind nicht geheuer, weil nicht einzusehen ist, daß auf ihren anderen Seiten immer dieselben Räume wiederzufinden sein werden. Wie die Spiegel, ihre noch unheiligeren Cousins, stehen sie deswegen unter scharfer Beobachtung.

Ist hinter dieser Tür der vertraute Flur, beleuchtet gar für gar niemanden, so daß nur ein Staub im Lichtkegel in den Wärmesog der Birne gerät? Der Flur, in dem meine Cordjacke hing und den ich mit der Cordjacke photographierte, bevor ich sie unverhüllt auf die Beutel mit den Eierschalen und fauligen Orangen in den großen schwarzen Container legte?

Oder ist hinter dieser Tür diesmal ein Verschlag mit einem deckellosen Abort mit schwarzem Rand? Knietief auf den Salz-und-Pfeffer-Kacheln nasser Rollensumpf und viermal vom Xerox xeroxierte Flyer? Der Gedanke: Das ist jetzt einer dieser Momente. An der Beschichtung der Wände gelbe Blasen von gelangweilten Feuerzeugen, Telefonnummern, die Antifaflaggen? Und das An- und Abschwellen der Musik beim Öffnen der Tür, ein durchlaufender Wasserhahn, ein Körper, der nebenan gegen die Stallwand wankt mit Gepolter und leise flucht.

Beim nächsten Öffnen der Tür drängen Gitarren und Wummer-der-aus-den-Wänden-kommt über die Szene, und ich banne sie in einer offenen Hand und presse sie zusammen. Mit Edding notiere ich, links, schräg aufwärts, während auf der anderen Seite der Platte der Kampf um Gleichgewicht und Fassung weitergeht:

noch rumpeln die güterzüge auf dem durchgangsgleis
nordwärts und südwärts, mailand und amsterdam
durch die dunkelheit
zwischen den bengalischen fenstern des kali- und salzkonzerns
und dem gekränkten denkmal für die neue eisenbahn
(wie wesen aus einer fremden welt erschienen die weißen züge
zwischen den streuobstwiesen und blaubedoldeten bauerngärten
im summen der letzten netzlosen sommer)

Link | 14. März 2021, 0 Uhr 39


Die Fähigkeit der Literatur, ein erweiterter Lebensraum zu sein, gedeiht und verdirbt nach rätselhaften Regeln. In einem Jahr scheint Literatur ein sinnloser Ersatz zu sein für ein Leben, das selbst intensiv sein soll und die Krücke des Phantastischen nicht braucht, in einem anderen Jahr scheint sie die einzige mögliche heiße Quelle der Intensität überhaupt zu sein. Aus den Lebensumständen allerdings — glücklich, unglücklich, ereignisreich oder langweilig — lässt sich nicht ablesen, ob man ein Jahr der ersten oder zweiten Sorte vor sich hat. Durchaus möglich, daß es an der verfügbaren Kunst liegt und gar nicht am Leben.

Wer sehr bezogen ist aufs Tätigsein, sich als Teil eines wirksamen Geists versteht, lernt, zwischen dem zwanzigsten und dem vierzigsten Lebensjahr, wie schwer es ist, tatsächlich zu wirken: Das ist vielleicht das Überraschendste. Man hält, mit zwanzig, viel zu viel für machbar, und überschätzt die Rolle von Willen und Energie. Dieser Wille und diese Energie werden dann schon aufgewandt, aber aufgewandt für den Erwerb von Fähigkeiten, Routine und Sicherheit, und das in einem Ausmaß, das man sich nicht hätte vorstellen können. Je mehr man allerdings zu wirken lernt, desto deutlicher wird, wie klein die Effekte sind und immer sein werden, wie klein der eigene Beitrag ist und wie zäh man ihn beitragen muß.

Das gilt für Literatur wie für Technologie, oder für das Führen eines guten Lebens selbst: Nicht zurückzufallen hinter das schon von anderen Erreichte ist schon an und für sich kein übler Kraftakt. (Denn zunächst einmal gilt es zu wohnen und zu essen und Musik zu hören, sich selbst und anderen ein Freund zu sein, Freude dran zu haben und überhaupt die Flamme am Leben zu halten.)

dunklespiegel.tumblr.com

Link | 24. Dezember 2020, 23 Uhr 55


Oft denkt man am Ende eines Tages, aufgeteilt in einstündige Gespräche, daß man verschluckt werden müsste vom schwarzen Schwall, der über einen käme wie ein Mantel in einem Windstoß, der keine Außenseite hätte und einen also verschlänge, wenn er sich kehrt: So müsste man verschwinden in einem schwarzen Schwall. Dann wäre Stille, dann spräche man nicht weiter die Sprache der Verwaltung zur Welt. Denn daß man eitel ist ist verzeihlich, eitel ist ein jeder, der mit einem Funken geboren wurde, aber daß man seiner Eitelkeit schmeicheln lässt von der Bewunderung fürs gewandte Sprechen der Sprache der Verwaltung, ja gerade für die kleinen Lichter, die man ihr aufzusetzen vermag, das beschwört den schwarzen Schwall, den Durst nach einem großen einhändigen, über die Mundwinkel rinnenden Schluck aus dem grünen Ballon, der hinter dem Messer und den Äpfeln und der blakenden Kerze steht; unstet ist das Licht, kalt stößt der Wind herein durch beide Fenster, auf wallt der Mantel ohne Außen.

Link | 12. Dezember 2020, 0 Uhr 28


Nebelbäusche ziehen um die Burg und durch meine Kiefern seit Tagen, aber in meinem Kamin lodert ein Feuer und im Küchenfenster steht ein frischer lautloser Schnittlauch im Licht.

Ich besitze eine leichte, weite schwarze Hose, in deren Taschen 0,5-Liter-Plastikbecher passen. So muß ich mein Wasser nicht austrinken, bevor es losgeht, sondern kann einen Rest im Becher lassen und in die Hosentasche stecken und habe beide Hände frei, zum Abstützen in einem verschwitzten Rücken vor mir, zum Klatschen über dem Kopf, zum Bewegen. Und dann, wenn alle klatschnass sind und heiß und kaum noch können und sich nach Bier sehnen und einen schicken müssen, habe ich noch einen lauwarmen wunderbaren Schluck Wasser in der Hosentasche und kann bleiben wo ich bin, bis das Licht angeht und der Menschenkörperdruck wieder abfällt.

Link | 28. November 2020, 21 Uhr 16


Der Moment ist nur zu verstehen, wenn man den Rahmen des Vernünftigen selbst aufgibt und sich in die bühnennebligen Abgründe der politischen Ästhetik begibt.

Das Unmaß und die Unvernunft sind keine unvermittelten Erkrankungen des Gemeinsinns, sondern ihrer Herkunft nach ästhetischer Trotz: Die Lust an der Zerstörung ist die Unlust am Unzerstörten und Unzerstörbaren, der vernünfigen, überlegt-überlegenen Verwaltung der Welt, die es so gut meint und gut macht und so offenkundig Recht hat.

Die Sehnsucht nach Hitler, oder die Sehnsucht Hitlers: Nach Geschichte, nach Größe, nach spontaner Aktion.

Solche Sehnsüchte sind sogar theoretisch unerfüllbar im unaufhaltsamen Modernisierungsprozess: Es ist leichter, das Ende der Menschheit zu denken als das Ende der Modernisierung, mithin der Vernünftigmachung der Welt. Die Modernisierung „Kapitalismus“ zu nennen ist der Versuch, sie als politischer Aktion zugänglich darzustellen. Niemand auf der Linken hat aber einen ernsthaften Entwurf für eine Welt nach dem Kapital, und Curtis Yarvin ist in seinem jüngsten Text wirklich kurz davor zu bemerken, welche Rolle ihm der Ultrarealismus der Macht zuweist, den er so entschieden vertritt und der auch von ihm selbst mit einer rechten Position verwechselt wird.

Versuche, die Modernisierung politisch zu behandeln, müssen unvernünftig sein. Vernünftig ist Joe Biden, vernünftig die Gefügigkeit für die abstrakte Intelligenz des Globalismus und des Kapitals. Vernünftig ist die Pandemiebekämpfung durch Zuhausebleiben.

Daß das Wertesystem der Menschlichkeit, des Ausgangs aus der Armut, der medizinischen Versorgung, der Versorgung überhaupt, der Sicherheit, des guten Lebens in Häusern und des Besuchs von Konzerten das Wertesystem der Modernisierung ist, müssen Kommunisten leugnen und Neurechte, andernfalls mäßigten sie sich sofort. Mäßigen aber dürfen sie sich nicht, ihre Maßlosigkeit ist ihre Position.

Die Sehnsucht nach dem Unmaß, nach dem Außen der Modernisierung, ist exakt die Sehnsucht Hitlers. Deswegen rufen unmäßige Ereignisse den Geist Hitlers auf, und mäßigende Stimmen mahnen sofort: Das kann man nicht vergleichen! Hitler aber vergleicht alles mit Hitler.

(Und Trump war natürlich, was passiert, wenn man statt von Wagner vom Kabelfernsehen träumt.)

Link | 28. November 2020, 20 Uhr 50 | Kommentare (1)


Die Sommer waren böse geworden um das Jahr 2020 herum. Saison um Saison brannte die Augustsonne erbarmungsloser herunter auf die Wälder und die Maisfelder, und wenn es regnete, dann in so fürchterlichen Ausbrüchen roher Gewittergewalt, daß die Menschen sich duckten in Ihren Häusern und keine Freude zu empfinden vermochten am doch ersehnten Regen, der nun in nutzlosem Überfluß über die rissigen Böden schäumte. In diesem August des Jahres 2020, als die Hitze ihren Höhepunkt erreichte, übernahm ich mein Haus auf dem Land, auf einem Basaltkegel im Dorf einer Burg, die schon vor den Schwedenkriegen jede militärische Bedeutung verloren hatte.

Vom Burgfried wie vom Haus aus schaut man über heiße Steine ins Tal und in die dunstige Ferne und den Taunus hinein. Schweigend nahm ich tagelang Bestand auf in dem seit einiger Zeit schon leeren Haus, das zuletzt allein von einer alten Dame bewohnt worden war. Efeu und Brombeeren schickten sich an, über dem Dach zusammenzuschlagen, und ich glaubte einen Plan der alten Dame überall ablesen zu können, ganz im Inneren, am Kamin ihres Hauses, zu verschwinden und den Efeu sie langsam übermannen zu lassen in ihren späten Jahren.

Alle Hähne saßen fest in diesem Haus, und suchte man sie zu betätigen, zerfielen sie und das Wasser tropfte und rann langsam in die Abflüsse. Alle Fenster waren undicht, und wenn die jähzornigen Gewitter des Sommers losbrachen und die Schlagregen in die Fugen und Anschlüsse der Dächer trieben, roch es nach nassem Zement überall und vielköpfige Rinnsale ließen ausgelösten Kalk auf den heißen Steinen zurück beim Verdunsten.

Anfang September dann war die Hitze gebrochen und ich kehrte nach Berlin zurück, das mir immer lieb gewesen ist in dieser Spätsommerzeit, in der ich zuerst in die Stadt gekommen war und die Moderne meine Blasen werfende Provinzgedankenwelt klären hatte lassen wollen. Auf dem Rad unterwegs durch die abkühlende Stadt erkannte ich die Erstsemester: Sehr jung, sehr allein, intelligent und bettelarm und unvertraut mit ihren Schicksalen; auf ihren Wegen, die wenigen zufälligen, der kommenden Kühle geschuldeten, schon brüchigen Freundschaften der frühen Tage passieren zu lassen.

Ich trug mein Fahhrad in die Wohnung hinauf, wischte mit einem bereit liegenden weichen Tuch den Staub vom Schutzblech, und hörte COIL.

[Solarpunk & Nachtleben]

Link | 7. September 2020, 21 Uhr 36 | Kommentare (1)


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