und gestern ritten die blogs darüber

Spät nachts, irgendwann im Jahre 2000irgendwas, hocke ich nach einer Lesung mit meinem ganz persönlichen Popliteraturgott auf dem schmutzigen Toilettenboden einer Hamburger Spelunke namens: Das Dorf. Draußen lärmen besoffene Spiegelredakteure, allerlei (Möchtegern-) Literaten und andere Groupies. Gott weiß, wer ich bin, denke ich, oder besser: was ich einmal sein wollte. Und: Etwas ist zu Ende und nichts fängt an. Einmal Internetliteraturgeschichte geschrieben und zurück.

Der Anfang ist lange her, im Sekundentakt des Netzes für immer verflogen. Nicht einmal die Webseite gab noch einen Hinweis darauf: Auf www.ampool.de bekam man zeitweise alles und nichts. So genannte „Netz-Nutz-Links“ führten zu Italien-Urlauben, Billig-CDs und Goldzähnen, zu Wellness-Wochenenden, Zooläden und Luxushotels. Kaum zu glauben, dass diese Adresse einmal die glamouröse Homebase der deutschen Popliteratur war. Heute ist sie wieder zu kaufen. Eine Internetplattform, gegründet 1999 von Sven Lager und Elke Naters, betrieben von einer elitären Gruppe von Popschreibern, die den herrschenden Schöngeistern des Literaturbetriebs einen wilden Traum entgegensetzten: Schreiben ohne Filter, Veröffentlichen in Echtzeit. Ohne Umwege und Lektoren – Literatur als Event, Literatur als Experiment. Mit dabei namhafte Autoren wie Helmut Krausser, Rainald Goetz, Tom Kummer, Stefan Beuse, Andreas Neumeister, Christian Kracht, Moritz von Uslar, Michael Lentz, Eckhart Nickel und Georg M. Oswald, um nur einige zu nennen.

„Na und?“, möchte man an dieser Stelle einwerfen. Ein Blog wie jeder andere, eine Meinungsbörse, wie es sie inzwischen zu Tausenden gibt: für Italien-Urlauber, Billig-CD-Käufer und Goldzahninteressenten, für Wellness-Junkies, Zoolädenbesitzer und Luxushotelgäste. Und eben auch für Autoren und solche, die es gerne wären. Der Zauber ist weg, die Luft ist raus, was damals aufregend war, macht seit gestern meine Oma.

Richtig. Trotzdem übersieht man dabei zwei entscheidende Dinge. Erstens, wie blutjung das deutsche Netz damals war und wie viele Wünsche und Ideen es aufzunehmen vermochte. Ein neues Medium, dem man nicht nur zutraute, die Kommunikation unter den Autoren zu revolutionieren, sondern von dem man auch dachte, es würde die literarischen Inhalte verändern. Zweitens, dass es bis heute keinen vergleichbaren Versuch in Deutschland gibt und gab, die Gunst der Pionierstunde zu nutzen und die Grenzen zwischen Schriftsteller und Publikum so dünn und durchlässig wie nie zuvor zu machen. Denn von Beginn an war das Projekt zweigeteilt: In einem Gästebuch namens www.imloop.de konnte jeder, egal ob Autor, Journalist, Kritiker, Leser oder Möchtegernliterat entweder offen, oder – was die Regel war – hinter Pseudonym versteckt, schimpfen, loben, dichten oder kommentieren. Mehr als einen „internetfähigen“ Computer, den bloßen Willen und eine Enter-Taste brauchte es dazu nicht. Die sonderbare Intimität, die sich zwischen den etablierten Autoren und den schreibenden Kunstfiguren entwickelte, das eigenartige Gefühl, einer virtuellen Gruppe am Puls der Zeit anzugehören, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Genauso wie die Tatsache, dass man auf diese Weise die wichtigsten Vertreter der deutschen Gegenwartsliteratur innerhalb kürzester Zeit persönlich kennen lernen konnte. Noch heute werde ich manchmal von Freunden und Bekannten mit meinem Pseudonym angesprochen. Ähnlich geht es Menschen, die in ihrem literarischen Second Life „Deadly Medicine“, „TomTom“, „zak“, „Faustus“, „LOTOS“, „Monik“, „HalfManHalfBiscuit“ und „The Crab“ heißen: ein schräger, manchmal amüsanter, manchmal auch beängstigender Effekt, wie ihn zum Beispiel auch Computerspieler auf einer LAN-Party erfahren. Aber der Literaturbetrieb ist nicht die Gamerszene, und ich bin sicher, wer heute versuchen sollte, über einen Blog an echte Schriftsteller heranzukommen oder sich einen Namen bei ihnen zu machen, muss scheitern.

Natürlich gibt es auch heute noch Foren, in denen Netzliteratur, Rezensionen und Notate gepostet werden. Zum Beispiel das gute alte www.forum-der13.de oder die spätestens seit Kathrin Passigs Sieg beim Klagenfurter Literaturwettbewerb respektierten und wohl auch bisweilen gefürchteten Webseiten www.hoeflichepaparazzi.de und www.riesenmaschine.de. Ich wage jedoch zu behaupten, dass sie zum Phänomen Internetliteratur nichts wirklich Neues beigetragen haben. Das liegt nicht etwa an ihren minder prominenten oder begabten Teilnehmern, sondern vielmehr an dem Umstand, den der Schriftsteller Rainald Goetz in seinem Internettagebuch von 1997 so treffend programmatisch mit dem Andy Warhol Zitat „Abfall für Alle“ betitelt hat und dem er im „Vanity Fair“-Blog dann ironischerweise selbst zum Opfer fiel. Dem Umstand nämlich, dass ein Literatur-Blog niemals seine endgültige und tödliche Form findet und damit auch keine nachhaltigen Inhalte erschafft. Wie im Meer schwimmen nicht etwa die schönsten und besten Beiträge ganz oben, sondern nur die aktuellsten. Der Resttext sinkt ab, wird zugedeckt und erstickt von unablässig nachfallenden Buchstabensedimenten, die paradoxerweise jederzeit, ganz oder in Teilen wieder nach oben gespült werden. Freilich nur, um aufs Neue in den ewigen, die Autoren und Leser gleichermaßen süchtig machenden, auf Dauer jedoch unbefriedigenden Kreislauf einzutreten. Wenn man so will, hat das Internet einen Anfang, aber kein Ende. Logischerweise wurden die Macher von www.ampool.de die Geister, die sie riefen, nur dadurch los, dass sie den Blog töteten, wie man Vampire killt. Sie trieben dem Projekt, mit dem sie einmal angetreten waren, den Betrieb mit seinen klassischen Regeln und Formen zu unterwandern oder zumindest zu umgehen, einen gedruckten Holzpfahl ins digitale Herz: „The Buch“. Denn nur das Druckwerk vermochte die virtuellen Ozeane für immer und ewig zwischen den Deckeln zum Stillstand und damit zur endgültigen Literaturwerdung zu zwingen.

Später beging ich einen weiteren Mord – als Herausgeber von „im LOOP“. Denn als das Popliteraturforum starb, vergaß man, das Gästebuch zu schließen. Glücklicherweise, denn aus ihm gingen in den folgenden Jahren mit Saša Stanišic (Luchterhand), René Hamann (Tisch 7) und Thomas Melle (Suhrkamp) mindestens drei sehr begabte und interessante Talente hervor. Aus hoffnungsvollen Kunstfiguren wurden echte Schriftsteller aus Fleisch und Blut. „im LOOP“ ist jedoch keine Verbeugung des neuen vor dem alten Medium. Denn diese kleine Sammlung von Texten aus dem deutschen Netz ist ganz bewusst mit dem „Books On Demand“ (BoD) realisiert worden. Jenem Verlag also, der erst durch Internet und Digitalisierung entstanden ist. Nur so konnten die Texte ihre ursprüngliche, provisorische, zum Teil auch bewusst oder unbewusst fehlerhafte und unmittelbare Form behalten, die eben genau das ausmacht, was Netzliteratur im besten Sinne sein kann.

Mein persönlicher Popliteraturgott stolpert frühmorgens aus einer Bar. Er wankt gefährlich, und einen Augenblick lang fürchte ich, er könnte vor ein Auto laufen oder stürzen und sich verletzen. Doch als ich – selbst unsicher auf den Beinen – den Kopf in die kalte Hamburger Nacht strecke und ihm nachsehe, ist er schon ein ganzes Stück weiter, schwankend, mit einer Hand in sein Mobiltelefon tippend. Ein Gesamtkunstwerk, ein feiner Mensch, denke ich. Und: Etwas ist zu Ende und nichts fängt an. Ein gutes Gefühl.

Ja genau.
Das ist das Schreiben ins Verschwinden.
Sozusagen schon die Zeile im Grab der Zeit.
Nur noch zu lesen, wenn schnell in die noch offene Erde
geschaut wird.

Das ist nie und nimmer ein Buch.
Das ist wie ein flüchtiger Tanz zwar zum Bild werden kann,
aber ein Bild niemals zum flüchtenden Tanz.

Was geschieht dann im Intermedium?
Danach grabe ich, verzweifelt mit aufgerissenen Fingerkuppen
dahingaloppierenden Cookies, ohne Unterlass.
Herzblut. Das Blut der Madonna.
Heiligenblut.
Plötzlich rinnt es über meine Lippen.

Morgen reiten die Clubs darüber.

(Alinia, imloop)

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