Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Zwischen der fransigen Linie des bewaldeten Hügellands und dem weicheren Schwarz tiefziehender Dezemberwolkenbänke blieb eine Gruppe langhalsiger Vogelsilhouetten lange genau im grausilberenen Streifen von Helligkeit. Erst, als in der Waldlinie ein tieferer Einschnitt sich auftat und vor dem Lichtstreifen ein rhombenförmiges Denkmal zwischen den laublosen Buchen sichtbar wurde, verschob sich mein Blick weit genug gegen die Formation der Gänse, um ihre schwarzen Körper in der über uns gespannten Dunkelheitskuppel zu verlieren.

Link | 17. Dezember 2012, 17 Uhr 05


Unsortiert: Der Ort, an dem gesprochen wird; was die Bedingungen des Sprechens sind, was als unanständig wahrgenommen wird, was als zu schnell, was als zu langsam, was als sachlich.

Sprechen auf dem Schulhof: Lauter, schneller, witziger, rücksichtsloser. Sprechen an der Universität: eitler mehr auf die Frauen schielend die Männer, deshalb mehr auf ihre Rolle als Frauen achtend die Frauen. Sprechen im Parlament, Sprechen in den Altbaubüros am Rande des Regierungsviertels. Sprechen in der Presse (in der BILD, in der FAZ, im Merkur). Sprechen im Internet.

Der Ort präfiguriert die Ergebnisse über die Modalitäten und Regeln des Sprechens, viel mehr vielleicht als das Denken oder die Herkunft der Gesprächsteilnehmer. (Die natürlich auch über Zugang zum Sprechort schon vorsortiert sind.) Die Rolle körperlicher An/Abwesenheit (physische Präsenz: Alter, Attraktion, Gewaltpotentiale, Zartheiten.)

Was es bedeutet, wenn sich der Diskurs verlagert und den Ort wechselt —

Link | 7. Dezember 2012, 14 Uhr 45 | Kommentare (4)


Johann Holtrop ist ein außerordentlich interessantes Buch, und der Unterschied zur vertrauten Literatur der Gegenwart könnte mir kaum größer erscheinen: Rainald Goetz ist immer genau und rettet sich niemals aus einem erzählerischen Problem in eine zur Offenheit-des-Kunstwerks umdekorierte, sehr leicht herzustellende Vagheit; nie belästigt er mich mit Symbolen und Kunstnebel; dabei ist er sich der Existenzmöglichkeit der Seele so sicher, daß er über sie sprechen kann als normalen Gegenstand, statt ihre Existenz in sprachlicher Performanz immerzu beteuern zu müssen; Goetz erzählt mit einem Erzähler, der nicht mit seiner Überforderung kokettiert, sondern in Welt, Wahrheit und Sprache sicher agiert, sogar wo er falsch liegt — das ist so wahnsinnig erfrischend, einem Erzähler einen Fehlgriff einfach mal verzeihen zu können, statt durch Schichten und Schichten von Kunst-und-Ironie-Absicherungen hindurchgraben zu müssen, um den Burschen überhaupt einmal bei einer Idee oder konkreten Darstellungen zu erwischen.

Johann Holtrop ist damit ein zweifaches Statement zu einer Hochstapelei, die gar niemanden täuschen muß, sondern sich einfach auf die korrupte Begeisterungsbereitschaft der anderen verlassen kann: im Büro im Gegenstand, in der Kunst in der Umsetzung.

Und damit zum Inhalt, ist doch bei diesem Buch die schöne Frage zulässig: Stimmt das? Ist das so? Wenn ich das so einbaue in mein Weltbild, bin ich näher herangekommen an die Wahrheit oder weiter weg von ihr?

Und da habe ich bei aller Begeisterung ein Problem mit Holtrop: Das mag alles stimmen, ich bin bereit es zu glauben; ich bin, jedoch, nicht bereit, es hinzunehmen. Der Effekt ist derselbe wie bei Dickens oder Tom Wolfe — diese abgrundtiefe Boshaftigkeit und Blödigkeit der Leute ist in der Welt sicherlich anzutreffen und plausibel, nur die mich niederschmetternde Generalisierung auf „die sind alle so“ mache ich nicht mit. Daß die Umstände, das Büro, das Angestelltendasein, als bestimmend für die Verhaltensweisen der Figuren im Roman angesehen werden müssen, steht immer wieder da — Funktionen und Folgen formaler Organisationen eben. Das entschuldigt und vermenschlicht die unsympathischen Figuren, immerzu möchte man sich ja Holtrops annehmen, ihn sanft in einen Stuhl drücken, ihm einen Tee geben, sagen: Komm erstmal runter, dann gehen wir das gemeinsam durch und finden raus, was zu ändern ist und was eben nicht. Daß Holtrop aber nur an eben der Stelle ist, an der er ist, weil genau das bei ihm nicht funktionieren würde, weil Büro und Angestelltenkonstellation aus allen Bewerbern den hysterisch-kaputtesten, wahnsinnigsten, unrettbarsten Maniker und Hektiker und Konzentrationsverweigerer selektioniert und an der Spitze der Organisation festgesetzt haben, bedeutet gleichzeitig, daß es kein Entrinnen gibt und tatsächlich keine kompetente Führung möglich ist: Nur immer Hochstapelei.

Und das ist nicht wahr, jedenfalls, ich glaube es nicht.

Dabei legt meine eigene Erfahrung nahe, daß Goetz so falsch nicht liegt im Allgemeinen: Vor ungefähr einem Jahr saß ich, beispielsweise, im Londoner Büro eines asiatischen Telefonherstellers, der seinen Angriffsritt auf Apple mit uns plante, und herein in die konzentrierte Produktdiskussion stürmte der einem Flugzeug gerade entstiegene Vorstandsverbindungsmann mit den Worten if you think marketing budgets, think hundreds of millions und schlug die Tür wieder zu und führte sich auch auf der anderen Seite der Glasscheibe und im Folgenden vollkommen holtrophaft auf bis in den Abend bei einem sehr teuren Inder hinein, wo schnelle Autos und das Große Leben für alle am Tisch Versammelten als geradezu unvermeidlich sehr überzeugend dargestellt wurden. Unnötig zu erwähnen, daß ein schlechtes Quartalsergebnis beim Telefonhersteller den Mann samt seinem Produkt spurlos von der Bildfläche verschwinden ließ — ein Muster übrigens, das in Konzernen ja zuverlässig zu beobachten ist: Ernsthaft schlechte Zahlen irgendwo, und weg vom Fenster sind die Hysteriker und Zukunftsnarren.

Auch von anderen Leuten und schließlich von mir selbst kenne ich manche Holtropismen: Die Verachtung fürs Finanzielle und die entsprechenden Sprüche („Geld und Blech skalieren immer“, hat mich mal ein Vorstand angedröhnt); die Neigung zum Schwafeln, zum Machtleertext, zur hohlen Brillanz als bequemer Alternative zum konkreten und substanziellen Arbeiten am Problem; die Fahrigkeiten und häufigen Themenwechsel, die mit dem Delegieren einhergehen und auch meistens tatsächlich unvermeidlich und sogar nützlich sind. Schließlich den Moment, in dem es darauf ankäme, die bislang breit gestreute und zum Zwecke der Erzeugung von Sicherheit vorgespielte Kompetenz wieder zu aktualisieren und hinabzutauchen in ein lange delegiertes und jetzt komplett fremd gewordenes und von anderen Leuten möglicherweise unbeobachtet über lange Zeit abgefucktes Einzelproblem: Was für eine Kraft es erfordert, sich genau dann, unter maximalem, immer komplett ignorantem Druck, überhaupt zu konzentrieren und genau zu konzentrieren auf dieses eine fremde Detail, das jederzeit sich auch als überschätzt und als das falsche Detail erweisen kann, und dann überfährt einen von hinten die Zeit und die Ratten hatten Recht mit ihrer ohne eigene Ahnung verbreiteten, auf die Person gerichteten Hetzparole „er kann es nicht“ — das alles gibt es, es deformiert, es ist schwierig. Aber es ist möglich, manchmal haut man daneben, aber insgesamt ist es möglich und ich habe kompetente Führung eben auch schon erlebt, vor allem aber: reality is king. Wo sich die Ratten und Hochstapler auf Dauer durchsetzen (oder das Rattenhafte und Hochstaplerhafte in zuvor integren Leuten), bricht die Realität ein mit Macht und Posaunen und entfernt sie.

Goetz glaubt, jedenfalls im Holtrop, nicht an die Möglichkeit von kompetenter Führung. Es gibt keine positive Figur, niemanden, der es kann. Keine Chance, ein Angestelltendasein zu überleben — nicht im Management jedenfalls, nicht an der Spitze und, das ist bemerkenswert, auch nicht in der Mitte. Interessant ist Goetz‘ Blick auf das mittlere Management, er spricht vom „mittleren Deppen“, durchaus in Komplizenschaft mit seinen Protagonisten: Denn das ist genau die Perspektive der schnelldrehenden Topleute und Strategieberater. In Deutschland heißt das auch „Lehmschicht“ (Interessant wäre übrigens die Frage, wo das Wort herkommt. Neulich habe ich es im Zusammenhang mit Siemens wieder gelesen — ist es dort von Beratern etabliert worden oder ist es ein Siemenswort, das die ja in München konzentrierten Berater von Siemens her übernommen haben?) Die Idee bei der „Lehmschicht“ ist: Das Topmanagement möchte den Konzern auf die Zukunft vorbereiten und dazu Änderungen vornehmen. Die „Lehmschicht“ der mittleren Deppen denkt aber, alles besser zu wissen und macht im Bewusstsein von Unverzichtbarkeit und großer Masse einfach weiter wie bisher — und die nötigen Anpassungen bleiben stecken. Unter der Lehmschicht (so die Perspektive der Topleute) ist die flexiblere Masse der einfachen Mitarbeiter, die man im Zweifel immer zwingen oder tauschen kann — nur kommt man nicht durch durch den in seinem Spezialistentum komplett festgedachten Mittelbau. Ich bin sehr skeptisch, was diese Sicht der Dinge angeht. Natürlich sind die Beharrungskräfte in Unternehmen irgendwo implementiert, und das ist der Mittelbau, aber zumindest in Fällen, wo der Mittelbau irgendwie an die Realität noch angekoppelt ist, verweigert er sich machbaren und verständlichen Änderungen eigentlich nicht grundlos, in meiner bescheidenen Erfahrung, und hat ein gutes Gespür für holtropschen Hektikerunfug und Pseudo — ein etwas sesselfurzerisches und uncooles Gespür, aber kein schlechtes.

Sei das, wie es mag, ich erwähne es vor allem, weil es deutlich macht, wie sehr Goetz auf die Welt der Topleute konzentriert ist im Holtrop und wie nahe er herankommen dürfte an ihren spezifischen Wahn, selbst wo er das Element der Inkompetenz-von-allen überzeichnet (was zum Wahn ja gehört!).
Es gibt nur selten falsche Töne — ich zweifle zum Beispiel an der hohen Berührbarkeit von Thewe durch Mitarbeiter, die irgendwie mit Bau assoziiert sind — die wäre nur in sehr viel kleineren Firmen plausibel, genau wie die Verwendung des Wortes „Chef“. Man sagt „Vorstand“, nicht „Chef“. „Chef“ heißt ein Mittelmanager, mit dem man wirklich zusammenarbeitet. Vorstände, auch wenn sie am Standort sitzen und mit zum Thai gehen, sind eher keine „Chefs“.

Irritiert haben mich schließlich die vertrauten Namen und Geschichten, die da so sonderbar neu konfiguriert sind. Stellenweise, vor allem zum Ende hin, liest sich das, als habe man die FAZ- und SZ-Wirtschaftsteile der letzten paar Jahre geschreddert und zu einem Suhrkampbuch neu zusammengeklebt, was so falsch als Beschreibung des Entstehungsprozesses ja gar nicht sein dürfte. Schön und gut: Wirklichkeit Wirklichkeit, Anwälte Anwälte, aber irgendwann dachte ich: Wenn jetzt gleich noch ein schwäbischer Modelleisenbahnhersteller namens Karstadt Pleite geht, les‘ ich’s nicht zu Ende. Das passierte dann nicht, aber auf der letzten Seite, als ich also schon ohne Druckmittel war: eine Ratiopharmgeschichte. Ausgetrickst. (Auch: Daß die trashtriviale Ehebruchsgeschichte dann nicht passiert, toll!)

Zusammengefasst: Etwas weniger radikal in der Form, als ich nach den Interviews erwartet hätte, aber was da gemacht worden ist, funktioniert hervorragend, ist interessant, macht großen Spaß und stimmt, wenn auch nicht so allgemein wie angeboten.

Wer das übrigens für ein antikapitalistisches Buch hält, sollte sich mal das Gehirn waschen gehen.

Link | 3. Dezember 2012, 17 Uhr 02 | Kommentare (3)