Nebenbei. Zur Herrschaft gehört eine Legitimation: eine Erzählung, die erklärt, warum Macht ausgeübt wird, wie sie und von wem sie ausgeübt wird, und warum das richtig ist. Zu dieser Legitimationserzählung gibt es jetzt mindestens drei Haltungen der Bürger:
1. Die Bürger glauben die Erzählung. Also etwa: Es gibt eine Souveränität, die vom Volke ausgeht, und die, mehr oder weniger aus praktischen Gründen, an die Institutionen der Legislative und von dort aus weiter delegiert wird. Die Erzählung begründet die Existenz der Herrschaftsinstitutionen unmittelbar.
2. Die Bürger glauben die Erzählung nicht, handeln aber, als würden sie sie glauben, weil sie den Nutzen der Erzählung als Erzählung einsehen und wollen, daß auch alle anderen so handeln, als würden sie die Erzählung glauben. Zum Beispiel: Wohl wissen wir, daß die Wahlen alle vier Jahre vor allem die Funktion einer stetigen und kontrollierten Umwälzung der Macht haben, wir sprechen aber weiter das hohe Vokabular des Gemeinschaftskunde- und Geschichtsunterrichts. Das funktioniert nicht nur obwohl, sondern gerade weil alle so agieren. Die Erzählung dient in diesem Fall nicht zur Begründung von Herrschaft und ihren Institutionen — diese brauchen als natürliche Fakten menschlichen Zusammenlebens gar nicht erst begründet zu werden — sondern dazu, ein sich in die Macht hinein erstreckendes, stabilisierendes Als-Ob zu etablieren, das die Gegner einer potentiellen Machtausdehnung argumentativ immer besser bewaffnet als ihre Betreiber: Wer seine Macht über das von der Erzählung Legitimierte hinaus ausdehnen will, isoliert sich argumentativ aus der Gemeinschaft, markiert sich als gefährlich, und bringt alle anderen (und deren gemeinsames Interesse an Kontrolle von Macht) gegen sich auf.
3. Die Bürger glauben die Erzählung nicht, ertragen aber die Herrschaft als Herrschaft, weil die Kosten einer Veränderung höher sind als zu erwartende Gewinne bei einem Umsturz. Der Erzählung begegnen sie mit offenem Hohn (eine simple Frage der Würde). Dieser Hohn spiegelt sich im Zynismus der Macht, die sich kaum Mühe gibt, eine argumentativ zusammenhängende Erzählung abzuliefern, sondern, wenn herausgefordert, kurzerhand und von der Naivität der Untertanen enerviert die Zähne bleckt und auf die wirklichen Quellen von Souveränität (Bewaffnete Strukturen der Loyalität) verweist. Die Erzählung ist in diesem Fall eine bloße Farce, und sie ist offensichtlich geschmacklos, weil ihre Glaubwürdigkeit nicht mehr ausgelotet werden muß, sondern ohne jede Rücksicht auf die Bereitschaft der Beherrschten, die Erzählung zu tragen, diese für Dummköpfe nehmen kann. (Geschmacklos ist, was eine Unterscheidung nicht zutraut.)
Eine Variante von #3 ist der Verweis der Herrschaftsinstitutionen auf die eigene Machtlosigkeit: Ein solcher Verweis ist entweder eine zynische Lüge, oder, noch unheimlicher, korrekt: Dann weiß niemand mehr, wer wirklich herrscht, und die Legitimationsgeschichte ist noch abgeschmackter.