Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Der Wikipedia-Eintrag zu Hubertus Bigend ist außerordentlich interessant, nicht nur, weil er eine fiktionale Variante seiner selbst enthält, sondern wegen der Verweise auf zwei Lesarten der Figur. Erstens:

I’ve always had a sense of Bigend as someone who presents himself as though he knows what’s going on, but who in fact doesn’t. It’s just my sense of the subtext of the character: he’s bullshitting himself, at the same time as he’s bullshitting all of us. (Quelle, Gibson selbst.)

Zweitens: [Bigend] espouses a curiously communal and transnational approach to marketing [and represents] a shift in the nature of capitalism and, consequently, a change in the way postindustrial technologies deployed by capitalism interact with the self. (Alex Wetmore 2007, „The Poetics of Pattern Recognition“)

Der Witz an Bigend ist: Er ist der größte denkbare Bullshitter und gleichzeitig tatsächlich der Größte, insofern man der Größte sein kann, und das ist ohne Bitterkeit gesprochen. Wenn er am Ende von Zero History im Hermès-Ekranoplan in den Sonnenuntergang verschwindet, kann man das nicht bewerten, nur als adäquates Zeichen seiner großartigen Größe akzeptieren.

Hubertus Bigend ist intelligent, charismatisch, mit einem sicheren Sinn für Wirklichkeit begabt und rücksichtslos gegenüber sich selbst und Leuten, die sein Spiel aus freien Stücken mitspielen, und eben genau kein egomanisches Arschloch — das sind die Qualitäten von guten Anführern, wie man sie durchaus trifft in den Unternehmen. Dazu kommt bei ihm aber: die Begabung zur Kunst, zum Zugang zum Bewusstsein; für die Verstärkung der schwachen Signale aus der libidinösen Tiefe der Existenz. Damit gehört er in die Liga der extrem seltenen Anführer/Künstler — Welles, Kubrick in unserer Epoche — Riesenfiguren, deren Überlegenheit, wenn sie arbeiten, keine Zweifel erlaubt.

Die neue Qualität aber, die Bigend über diesen Typus hinaushebt, ist eine völlige Abwesenheit von menschlicher Demut, seine Fähigkeit, sich selbst zu bullshitten. Welles und Kubrick sind demütig, weil sie Einsicht haben in die Wirkweise ihres Anführertums und die menschliche Schwäche. Auch wenn sie die Größten sind, was sie sehr wohl wissen, wissen sie auch, daß sie dienen: Sie dienen dem, das gesagt werden muß; ihr Selbst ist menschliches Medium, nicht Ziel. Von diesem Dienen ist Bigend befreit, nichts hält ihn, nichts reguliert den Bullshit, er muß, was er macht, vor keinem Tribunal rechtfertigen, das ihn zur Demut verurteilt. Bigend ist der Anführer/Künstler, der endlich Geld (a.k.a. die Manipulierbarkeit der Menschen) begrüßt, statt sie zu fürchten. Welles hat sich von War of the Worlds nie erholt, weil er bemerkt hatte, daß er alles konnte: Nichts ist stärker als auf Libido geschnittene Illusion (siehe unbedingt: Trailer für F for Fake) — und die war vollständig im Bereich seiner Mittel.

Hubertus Bigend hat sich, mit dem Abwerfen der Demut, auf das accelerationistisch/eskalative Paradigma des Kapitals endlich eingelassen (womit wir im Kern Gibsonscher Luzidität sind) und ist Teil des Großen Positiven Feedbacks geworden: Hubertus Bigend selbst eskaliert. Fällt der Feedbackdämpfer Demut aus — der Wille, nicht Hubertus Bigend zu sein, also die Geschichte von der eigenen Größe bewusst und gegen besseres Wissen abzulehnen — bekommt die Maschine privilegierten Zugriff auf ihren Treibstoff Libido.

Was ist diese Demut für ein Ding? Ist es einfach nur das Alte Europa in uns, das sie fordert, im Zeichen der Liebenswürdigkeit eine letzte Bastion? Was haben wir nur gegen den Bullshit?

Link | 31. August 2013, 15 Uhr 54


Das Besondere: Das große Ding, die gelebte Literatur, die Geschichte, die dem bisherigen sinnlosen Treiben Sinn gibt, das Zusammenkommen und Kohärentwerden, das unzweifelhafte Glück. Das Gewöhnliche: Die Zahnbürste, die zu Hause in ihrem Glas auf dich wartet, ein Busfahrschein, ein Gehaltszettel, und das Grab.

Das Besondere ist niemals lebbar, die immer wieder aufs Neue erzählten Geschichten von seiner Lebbarkeit sind Lügen; schöne Lügen, die glauben zu wollen wir gute Gründe haben, aber Lügen. Das zu akzeptieren ist das Schwerste, und Versuche, das Besondere zu leben, enden (anders als die schönen Lügen) in nichts als Verzweiflung und Gewalt und Schleifen. Die fortgesetzte Denkbarkeit des Besonderen im Gewöhnlichen muß stattdessen das Ziel sein, das Gewöhnliche offen zu halten für das Leben über dem Leben. Es ist eine nichttriviale Praxis: Die Dehysterisierung des Glücks; die Freude an der Lüge als Lüge.

[Iteration III]

[Praxis: Das Weglaufenwollen und Neuerfindenwollen noch abschaffen; aber wie sind die Schizostrategien zu bewerten? Unklar. Man bleibt doch überfordert.]

Link | 31. August 2013, 12 Uhr 27 | Kommentare (2)


Zeitformen also: Stabile Zeit, eskalierende Zeit.
Stabile Zeit, die die Geschehnisse in ihr nur trennt (damit nicht alles gleichzeitig passiert), aber nicht bestimmt. Anders: aus einem Weltzustand lässt sich nicht auf einen Wert der Zeitvariablen schließen, wie wir es beim Betrachten von Filmen tun: Es gibt zum Beispiel keine Mobiltelefone, also sind wir in den Neunzigern oder früher. Statt dessen: Die Zeit im Garten ist seit seiner Vollendung stabil, er sieht heute so aus wie vor zehn, zwanzig, oder fünfzig Jahren (nehmen wir einen idealen Garten an).
In eskalierender Zeit ist dagegen positive Rückkopplung am Werk, und die Zeitvariable bestimmt den Weltzustand eindeutig; eine Trennung der Geschehnisse geschieht nicht nur der Zahl nach, sondern wesentlich: Geschehnisse sind unterschieden, weil der Weltzustand unterschiedlich ist; es gibt, mit anderen Worten, Fortschritt. Man könnte auch sagen: Die wesentliche, nicht nur zahlenmäßige Unterscheidbarkeit der Weltzustände erzeugt die Zeit, sie entfaltet sich erst, wenn die Unterscheidungsprinzipien angewendet werden. Thermodynamik, Tod und Fortschritt erzählen dieselbe Geschichte.

Strategien gegen die Totalität des Todes (den Fortschritt): Aufgabe des Prinzips der Individualität, oder Isolation des Todes im Individuum. Die erste Option ist die Option der Ameise: Sie erinnert sich nicht, ihr Tod kann sie nicht kümmern, sie lebt in einer Welt ohne Fortschritt. Ihre Zeit ist stabil, weil sie selbst nur der Zahl nach unterschieden ist von ihren Nachbarn, und alle zusammen sind sie nur der Zahl nach unterschieden von denjenigen Ameisen, die ich (der hoffnungslos Individuierte) zuvor einmal störte, zum Beispiel letztes Jahr im Sommer. Die zweite Option ist die Option des Spaziergängers im Garten (des Mönchs, der alten Eheleute): Gestorben wird nur hier drin, wo es unvermeidlich ist im Tausch gegen die große Individualität, nicht draußen, im Garten; der Garten (die Zelle, der Wald, das Feuer, das Licht) hat keine Zeit, der Spaziergänger nimmt die Zeit auf sich, um sie fernzuhalten von der Welt, die er liebt.

(Fragen: Warum ist Fortschritt in der Natur absurd, wie ist also ihre Zeit stabilisiert; kann man den Garten und den Spaziergänger als Aufspaltung der Zeitform der Natur lesen, warum ist das nötig?, lässt sich die Natur als Garten lesen? — natürlich lässt sie, aber welchen Widerstand leistet sie dabei und was verrät er über die Zeit –, warum eskaliert Kenntnis der Wirklichkeit, wie sie die Naturwissenschaft aus der Natur schürft, die Zeit überhaupt?)

[unsortiert, arg]

Link | 24. August 2013, 12 Uhr 21 | Kommentare (8)


Und, mehr noch als das: Der pappel-gesäumte Weg, eine lange Flucht, auf einen leuchtenden Nebelpunkt, zur einen Seite ein Graben, und die weite Moormarsch, zur anderen Ausläufer der Gärten und ein letztes Geräte-Rundhaus (kalte Bretter am Stein und gesprungenes Grün in den Fugen) —
das ich im Sommer sehe, ohne den Nebel in der Tiefe, das Spalier der Bäume von Schwalben durchschossen von links nach rechts, und durchschlagen vom Licht, als es freibricht und auftost vom trockenen Kies —
das im November ich sehe, mit dem Nebel, Krähen hoppelnd zwischen den Halmen halberfroren, die Bäume zusammengerückt und verflochten, Kälte im Kreuz und hell nur dort vorn, dort.

Link | 11. August 2013, 22 Uhr 52


Ich betrete das Band, gehe weiter, genieße die Geschwindigkeit. Rechts liegt eine Riesin in Unterwäsche, der Text empfiehlt, sich mit nichts weniger als Perfektion zufrieden zu geben, oder etwas in der Art. Ich versuche, nicht hinzusehen, weil ich ungern ein berechenbares, männliches Reptiliengehirn bin, hebe aber doch jedesmal kurz den Blick. Links flirrt der Deloitte-Schriftzug auseinander in viele tausend unterschiedlich schnell sich bewegende weiße Partikel auf schwarzem Grund. Zusammen mit meiner Bewegung auf dem Band ergibt sich ein beeindruckender Tiefeneffekt. Deloitte wirbt für eine Karriere bei Deloitte; man kann es weit bringen als Managementberater und kommt hoch hinaus. In der Mitte des Tunnels, für den Bruchteil eines Moments, Vogelgezwitscher, und wie immer schaue ich auf zum Vogelmobile über dem Band. Dann, kurz vor dem Rolltreppenschacht, die Werbefläche des Kunden mit dem Produkt, von dessen langfristiger Entwicklungsplanung das schlafende Macbook in meiner Tasche träumt — meine einzige Möglichkeit, in diesem Tunnel eine Spur zu hinterlassen. Jeden Montagmorgen seit März tragen mich die Bänder durch den Tunnel, ein erlöschendes Bild, bis Oktober rechne ich damit, vollständig verschwunden zu sein. Die Erfolge bauen sich unmerklich auf, als bloße Beierscheinungen des Verstreichens von Zeit. Es sind die Niederlagen, die als höhnische Ereignisse auftreten und klare Botschaften zustellen wollen. Die Rolltreppe hebt mich in den Schacht, wo das unwahrscheinliche, mit einem nicht zu erklärenden blauen Streifen bemalte und auf drei Meter aufgeblasene Sinnbild eines Knaben den Ankommenden entgegenuriniert.

Das Haus (man hört einen Specht im Hintergrund) hat zwei Stockwerke, das obere davon vollgepackt mit Büchern, einem Sofa, Schreibtisch, Projektor und Leinwand, das untere wird dominiert von der Küche, mit Fenstern zum Garten, der ein bisschen weniger gepflegt ist, als er sein könnte, aber zum Essen unter den Bäumen genau richtig zerzaust ist; ein Saftkrug steht noch draußen, abgedeckt. In der Küche auch: Einweckgläser, Krümel auf der sonnenwarmen Tischdecke.

Link | 11. August 2013, 17 Uhr 07 | Kommentare (2)