Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Weil Städte es mögen, wenn ich dramatisch in ihnen auftrete, blies auch bei meiner Ankunft in Duisburg ein Sturm über den Bahnhofsvorplatz. Voraus wehte mein Haar die Königstraße hinauf, und noch durch den Aufzugsschacht pfiff stoßweise der Wind, als ich im fünften Stock in der Masse des gewaltigen Hotels Duisburger Hof verschwand für die Nacht.

Duisburg, eine Stadt, über die ich nichts weiß, ist wohl unzufrieden mit sich, so stellte ich fest am nächsten Morgen: Der Bahnhofsvorplatz ist eine Baustelle, der Bahnhof selbst bekommt bald eine Gläserne Welle, und das CityPalais, ein noch frisches Innenstadt-Einkaufszentrum, ist in seiner Kombination von Gimmicks und Billigkeit ein gebautes Äquivalent von Sneakern mit bunten Lichtern in den Sohlen: Hier hätte Omi stark bleiben müssen. Ich versuchte, nicht hinzusehen, bemerkte aber das Automatenkasino im Erdgeschoß, objektives Zeichen eines städtebaulichen Irrtums, trotzdem.

Das Ziel meiner Reise lag im Kantpark, wo, so kündigten ein großes Schild und ein erster Bagger an, derzeit Der Neugestaltete Kantpark entsteht. Der Kantpark war einmal ein sanft geschwungener Innenstadtpark mit mächtigen Kastanien, Plastiken und Inseln mit Betonmöbeln, aufgestellt für Bürger, die die Kunst lieben.

Brombeeren und Nesseln wuchern über große Teile dieses Parks hinweg, kränkliche Kürbisse kriechen durch die entlegeneren Ecken, und hoch stehen Gräser in den Fugen der wenig begangenen Pflaster. Die Stadtmöbel, die einst zu den Inseln gehörten, sind entwendet, zertrümmert oder entfernt — vermutlich entfernt: Denn überall, wo man noch sitzen konnte im Duisburger Kantpark, hatten sich Gruppen von Alkoholikern niedergelassen. In einer Senke zur geschwungenen Sichtbetonfassade eines Museumsbaus hockten Gestalten um einen kleinen Alufolienherd: ihre Körpersprache, als sie mein Herannahen bemerkten, wechselte von verzweifeltem Betteln um Privatsphäre zu sprungbereiter Aggressivität. Schilder an den Laternen forderten mich auf: „Zögern Sie nicht, 110 zu wählen. Ihre Polizei.“ Die CDU plakatiert, anläßlich des Wahlkampfes, in Duisburg: „Sicherheit und Ordnung. CDU.“

Das belagerte Museum im Kantpark, inmitten seiner Streuung von Aluminiumfetzen, Dosenböden, verbogenen Gabeln und leeren Briefchen, ist das Lehmbruck-Museum, gebaut 1956-1964, der erste Museumsneubau der Nachkriegszeit überhaupt, von Manfred Lehmbruck für die Arbeiten seines 1919 verstorbenen Vaters Wilhelm Lehmbruck. Ich war wegen der Architektur angereist, denn der andere Museumsbau von Manfred Lehmbruck ist das fünf Jahre später entstandene Federseemuseum in Bad Buchau. Mein Heimatdorf liegt nur wenige Kilometer entfernt davon, auf der anderen Seite des Federseemoors, dessen jungsteinzeitliche Besiedlung das Museum dokumentiert. (Erst vor einigen Jahren, bei einer Rückkehr zu diesem mir seit meiner Kindheit vertrauten klassisch-modernen Pfahlbau wurde mir klar, daß er nicht von einem namenlosen Provinzarchitekten entworfen worden sein konnte, und begann zu recherchieren.)

Das Duisburger Lehmbruckmuseum hielt, was die Photographien, die ich kannte, versprochen hatten: Ein Raum der Freiheit und der Rationalität, der Bescheidenheit nicht zuletzt. Man wird freigelassen in seinen Innenraum, bemerkt immer wieder mit einem kleinen respektvollen Grinsen, daß ein Weg, der einem einfallen könnte, auf eine Figur zu oder um eine Figur herum, tatsächlich gangbar ist: Es gibt die Treppe, es gibt das Licht, es gibt die Intimität, es gibt die Offenheit, die man braucht. Ich hatte das Glück, allein zu sein im Lehmbrucktrakt und mich eine Stunde lang bewegen zu können, und die Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck dabei von diesem phantastischen, für die ausgestellten Arbeiten gebauten, heute fast undenkbar großzügigen Haus in mein Formgedächtnis einschreiben zu lassen.

Das Gebäude agiert einen stolzen Trotz der Moderne nach anderthalb Dekaden Barbarei aus: Jetzt aber, jetzt erst Recht, wir bleiben dabei, aus dem Menschen etwas zu machen, ihm Orte zu geben, die ihn sich fühlen lassen, wie wir ihn uns denken können: frei, ruhig, rational, begeistert und, in einem Museum für einen expressionistischen Künstler, der sich für die Körper nachdenkender Frauen interessierte, eben auch: hingezogen und anrührbar.

Und das Scheitern dieser Freiheit, dieser Architektur der Selbstachtung des Menschen, hätte nicht manifester sein können als in den halblebendigen Figuren der Fixer und Alkoholiker direkt auf der anderen Seite der bodentiefen Gläser, die doch den Park im Museum und das Museum im Park hätten fortführen sollen.

Die Utopie scheitert, auch hier, am Alkoholismus. Psychogeographie funktioniert, aber Alkohol und Heroin lachen über ihre schwache Subtilität. Alle Hoffnungen auf eine Egalität auf dieser, meiner Seite des Glases und auf ein Glas, das irgendwann nur gegen den Regen noch da sein müsste, scheitern an der Übermacht des Elends. Der Figurenpark stellt, ungewollt perfide, nicht aus, was er er auszustellen angetreten war in den 1960er Jahren, aber was er ausstellt, ist die Wahrheit.

Traurig über die Chancenlosigkeit des Menschen und wütend auf mich selbst, weil ich das übliche sinnlose Aufrechnen der individuellen gegen kollektive Versagen in mir niederkämpfen musste, verließ ich den Lehmbrucktrakt und machte mich auf zum Anbau, der in einer desillusionierten Sparkassen-Moderne architektonisch nur noch davon handelt, nicht altmodisch zu sein, und in dem passenderweise gerade die eitle Quatschkunst des eitlen Quatschkünstlers Wurm ausgestellt wurde.

Link | 13. September 2017, 10 Uhr 37 | Kommentare (1)