Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Einer Laune folgend bin ich nicht zurück zum Hotel gegangen nach der sonntäglichen Arbeit, die ohnehin vor allem dadurch motiviert gewesen war, daß ich, allein in der Stadt, keinen besseren Ort zum Verzehr eines Frühstücks wusste als mein kleines Büro in der New Montgomery Street, direkt gegenüber dem Pacific Bell Building, dem ersten und vom Tag seiner Eröffnung 1925 an bis ins Jahr 1964 höchsten Wolkenkratzer von San Francisco und heute fast vollkommen leer wie auch das Gebäude, in dem meine eigene Firma einen Schreibtisch angemietet hat und wie die ganze Innenstadt um den Finanzdistrikt herum ebenfalls: Die hier ansässigen Softwarefirmen arbeiten jetzt verteilt aus den Wohnungen ihrer Mitarbeiter, und nur vereinzelt selbst an den Wochentagen kommt es noch vor, daß man eine junge Frau in modisch hochgekrempelten breiten Jeans und einem LinkedIn-Rucksack sieht, wie sie ratlos an der Tür eines geschlossenene Peet’s Coffee-Cafés rüttelt. Ich wanderte also, nachdem meine Pflicht getan und die mich durch das Fenster wärmende Sonne hinter dem steinernen Pacific Bell-Koloß verschwunden war, zuerst landeinwärts die Market Street hinauf und dann, ohne Blick auf die Karte, nordwärts mit dem Plan, nicht innezuhalten und über die Hügel der Stadt auszuschreiten bis ich irgendwo am ehemaligen Hafen ankäme, der dort, wie ich von einem früheren einsamen Besuch wusste, sich erstreckte bis fast zur berühmten Brücke hinüber. Ich geriet, nur wenige Blocks von meinem Hotel entfernt, nach Chinatown hinein, wo sich, anders als im Techno-Kapital-Teil der Stadt, ein fast normales Bild menschlicher Geschäftigkeit zeigte, kauften die Einwohner der San Franciscoer Chinatown doch fröhlich durcheinander und mit einer tatsächlich sehr chinesischen Mischung aus Nachlässigkeit und Disziplin ausnahmslos alle recht zerzaust aussehende Masken tragend, ihre Lebensmittel in den zahllosen Gemüse-, Fleisch- und Delikatessengeschäften der Stockton Street ein. Auf einer kurzen Strecke wird diese dann zuerst noch italienisch und dann vor allem sehr teuer, je näher man dem alten Hafen kommt, um dann am Wasser zu enden, wo ebenfalls genau wie bei meinem vorherigen Besuch und also wohl gegen die Pandemie ganz gefeit ein regelrecht widerwärtiges touristisches Treiben herrschte. Es stieg sogleich die Erinnerung an meinen ersten Besuch an diesem schrecklichen Ort wieder auf und an meinen damaligen Versuch, irgendwo auf dem ganzen langen Stück am Wasser einen ruhigen Stein zu finden, der touristisch unbewirtschaftet genug gewesen wäre, um auf ihm ein paar Seiten eines mitgebrachten Buches zu lesen und in die Bucht hinauszuschauen und herauszufinden, ob sich vielleicht doch ein Gedanke oder doch wenigstens eine Stimmung einstellen könnte in dieser Stadt. Diesmal wollte ich es gar nicht erst versuchen, obwohl ich Evelyn Waughs „A little learning“ in der Tasche bei mir trug und gern darin gelesen hätte, und so machte ich kehrt und mich auf der Kearny Street auf den Rückweg, nur um nach wenigen Metern festzustellen, daß der Telgraph Hill sie tatsächlich unterbricht. Ich stieg also, da ich schon einmal hier war, ohne viel Hoffnung hinauf zum Coit Tower, und tatsächlich wurden die Häuser auf dem Weg in die Höhe immer teurer, verrammelter und trostloser, die Zahl der an den Hügel geparkten Teslas stieg, und Polizeifahrzeuge kreisten ständig auf den leeren, sonnenbeschienenen Straßen um die vergatterten Häuser. Abgestoßen von dem Gedanken, mir ein Wahrzeichen anzusehen und mich dafür in eine Schlange zu stellen, umkreiste ich den Coit Tower nur und setzte meinen Weg auf der Kearny Street fort, wo auf den steilsten der Straßen auf den Treppen sich ganze Trauben von Elenden eingefunden hatten, die den unbeschreiblichsten Elendenverrichtungen nachgingen. In Erinnerung geblieben ist mir das Waschen betongrauer Hände und eines zementigen Stücks Stoff in einer Art betongrauen brösligen Schleims, auf das ich mir keinen Reim machen konnte in den wenigen Augenblicken, die ich mir erlaubte, bevor der Waschende meine Neugier bemerken hätte müssen und mich in die Szene hineinziehen hätte können. Beim häufigen Wechseln der Straßenseite, einer Art Slalomabfahrt mit Toren aus entsetzlich gescheiterten Biographien, überfuhr mich schließlich noch beinah ein glänzender Tesla, der trotz Freigabe meiner Querung durch eine Ampel und obwohl mich der Fahrer bemerkt hatte, nach kurzem Zögern in meine Bahn hineinbeschleunigte, so daß ich mich mit einem schnellen Sprung in relative Sicherheit bringen musste und in den Schutz eines Gebäudes flüchten, bevor das Fahrzeug nachsetzen konnte. Das Gebäue, wenn ich mich nicht irre, gab sich auf einer in den Gehsteigbeton eingelassenen Plakette als das erste von einer Gewerkschaft betriebene Freudenhaus des Westens aus, oder etwas in dieser Art.

Link | 7. Februar 2022, 5 Uhr 24