Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Die Neue Nationalgalerie, ein vertrauter, besonders mächtiger Ort, zur Zeit komplett mit einem ungeheuren Teppich ausgelegt. Das Wetter löst in uns nur diesen winzigen Diskurs aus: Daß es sich lohnt, zu leben. Das Wetter, und die Neue Nationalgalerie.

In der Garderobe, nur mit dem Lenker gelehnt an eine Doppeltür aus dunklem Holz, und auf grauem Grund: Ein kleines hölzernes Laufrad, davor im Bild: Ein kurzes Stück Absperrband zwischen Theke und Wand. Das Laufrad wartet dort, an der leicht verschrammten dunklen Tür, auf seinen Besitzer. Ich bin sehr stolz in diesem Moment, zu einer Zivilisation zu gehören, in der es das gibt.

Ich laufe in die Ausstellung hinein und durch sie hindurch und erst einmal ungeordnet darin herum, ich will erst wissen, was da ist, von den vertrauten Sachen. Capricorne, da bist du wieder. Auserwählte des Bösen, dort stehst Du über deiner dramatischen Wüstenei. Jäger mit der fixen Idee, alter irrer Freund, leise leise.

Eine Frau, Mitte/Ende vierzig, vor einem Kleebild, (Dunkelheit, daraus heraus leuchtende Schiff-Stellen), dreht sich um in den Raum hinein: Christoph! und macht eine beidhändig flehentliche Geste, kuck halt! und Christoph, auch eine gepflegte Erscheinung, bleibt stehen mitten im Raum: Ich-kannichmehr. I needa – cake. Ich muß grinsen. Christoph und seine Frau bemerken, daß ich sie beobachte und wohl im Verdacht habe, hier nicht nur Kuchen zu verhandeln, und lächeln zurück.

Ich lerne die Menschen kennen, weil ich mich um sie herumbewege: Die langsam voranwaltenden, Kunstsinn spielenden Bürgerlichen, die unsicher sich umschauenden Bald-nicht-mehr-Proleten, die Kunsterzieherin mit dem kleinen Mädchen (das ist EXpressionismus, nicht IMpressionismus!), die offensichtlichen Paare, die erst nach einer Weile erkennbaren Paare, die konzentrierten Frauen, die eifrigen Betrachter, die nichts auslassen und nie lachen, die Photographierer, die vom Land. Die vom Land: Die vielleicht nicht aufs Land gehören und das noch nicht wissen, es aber vielleicht morgen Abend bemerken werden, wenn sie zurückkommen dorthin, wo sie ihre Bedürfnisse nur in Strubbelhaare und Tücher und Piercings und Ringelpullis verpacken können.

Ein Bild erschreckt mich und überfällt mich: Eine vertraute Gestalt, vertraute… Verhältnisse. Gleich daneben hängt ein vertrautes Paar Augen, in einem Gesicht, in das sie nicht gehören (dem eines Knabenportraits). Meine Lieben sind alle hier: in Fragmenten.

Wieder oben, in der großen Halle, wo nichts ist außer dem Teppich, lehne ich mich an den Marmor, schaue in den nach Teppich riechenden Raum hinein und in die dunkle Deckenstruktur, und tippe eine Notiz ins Telefon.

Zwei Schwestern, eine acht oder neun, die andere zwölf oder dreizehn, hocken mittendrin auf dem Teppich. Die Große liest aus dem Theoriezettel vor, die Kleine lauscht. Begleitet wird die Installation von einem großen Kristallleuchter, so dass sich schließlich verschiedenste Anspielungen auf die europäische Kultur- und Kunstgeschichte gegenseitig überlagern.
Später sitzen sie nur nebeneinander und schauen den Leuten zu, die um sie herum über den ungeheuren, raumgefassten Teppich schlendern. Sie denken vielleicht, sie langweilen sich, aber da irren sie sich.

Die Deppen photographieren den Leuchter. Die Aufmerksamen bewegen sich wenig oder sehr konzentriert, lauschen auf die durcheinanderflatternden Sprachfetzen (Russisch, Französisch und Deutsch in diesem Moment) und lassen die Zeit und eine weitere Situation hindurchrauschen, durch den Großen Raum.

Sechs Photos mehr, auf denen ich zufällig und inkognito bin: Ich gehe durch den Raum, messe ihn ganz aus, von Ost nach West, auf dem Lichtgradienten, Hände in den Taschen, sehr bewusst durch meine Schultern hindurchschlendernd. Dann: Einmal (ich gebe vor, sie nicht zu bemerken), zweimal, direkt unter dem Leuchter, dreimal, ein viertes Mal von hinten, gegen das Licht. Minuten später, ich lehne an einer der ausgeräumten Garderobenboxen, werde ich noch einmal entdeckt, warte, bis die Kamera gezückt ist, gebe vor, nichts zu bemerken, und gehe nach links, zur Treppe, aus dem Bild hinaus, genau in dem Moment, in dem sie auslöst. Beim sechsten Bild bin ich mir nicht sicher. Falls es gemacht wurde, trage ich meinen Mantel schon wieder und bin in Bewegung, die Treppe hinauf, auf einer der unteren Stufen, auf der Seite des Museumsladens, aufgenommen von der Kasse aus.

Ich stürme in die Stadt hinein, wie ich vorher in die Ausstellung hineingestürmt bin, mich der Stadt versichernd. Am S-Bahnhof Friedrichsstraße bittet mich einer, ihm eine Semmel mit Braten zu kaufen. Ich gebe ihm meine paar kleinen Münzen, er hat auch schon ein paar, ich will es nicht übertreiben. Als ich meine eigene Semmel bezahle, kriege ich eine zweite dazu und werde gebeten, die unauffällig weiterzugeben. Ich bedanke mich, als wäre ich der mit dem Hunger.

Vor dem Bundespresseamt photographiert eine die Touristenschiffe und den kalten Streifen Sonne auf dem Wasser. Dann dreht sie sich unversehens um und photographiert ihren Begleiter. Der sieht so aus, daß man versteht, warum sie das gerne tut. Er lächelt verlegen, sie ist eigentlich zu nah dran und lehnt sich zurück. Sie selbst sieht aus wie Katja. Das ist eine sonderbare Kategorie bei mir: Frauen, die aussehen wie Katja. Katja hat keine große Rolle in meinem Leben gespielt, wir kannten uns kaum. Ich weiß nicht, wo sie heute ist, ich wusste nicht einmal, wofür sie sich interessiert hat, damals, vor zehn Jahren, als ich Katja flüchtig kannte. Sie ist auch nicht spektakulär schön. Aber irgendwie hat mein Gehirn diese Kategorie gebildet, nur bei ihr: Frauen, die aussehen wie Katja.

Auf der Brücke, getragen: d-g-f-d-c-d (in einer Welt, die sich unseren Begierden fügt, nicht wirklich.)

Am Bücherstand vor der Universität, meiner Universität, ich erinnere mich an die Aufregung und die Angst, kaufe ich Selbstbegrenzung von Ivan Illich, rororo aktuell, 1980. In der U5 lese ich die ersten Seiten, Es ist zu hoffen, daß eines Tages eine allgemeine Theorie der Industrialisierung mit genügender Kraft und Stringenz formuliert wird, um vor dem Angriff der Kritik zu bestehen. Ich denke dauernd das Wort Makramee, während ich das lese, und glaube auch, den typischen Makrameegeruch zu bemerken.

Link | 27. März 2010, 19 Uhr 39 | Kommentare (2)


2 Comments


Sind Sie das? http://www.flickr.com/search/?w=all&q=neue+nationalgalerie&m=text

Kommentar by goncourt | 12:31




Ich bedanke mich, als wäre ich der mit dem Hunger. – sind sie das denn nicht??

Kommentar by fabe | 21:19