Wer, vielleicht qua Neigung und Lektüre, in seiner Jugend in eine Opposition zu den Verhältnissen gebracht ist und sich also als ein Fremder empfindet unter zum Beispiel den Karrieristen, die sich, gleich wie postmateriell sie sich selbst wähnen, für Autos, Kühlschränke, Fernseher und Titel doch wohl hinreichend interessieren müssen, um sie zu erjagen, wird mit der unvermeidlichen Pflicht, sich selbst zu versorgen, vor eine paradoxe Wahl gestellt: Zu seiner Selbsterhaltung kann er die Selbstvernichtung durch ökonomische Abstinenz wählen oder die Selbstvernichtung durch ökonomisches Handeln. Wählt er die ökonomische Abstinenz und versorgt sich nicht selbst, wird er arm sein, bitter, neiderfüllt, mit dem Luxus so unvertraut wie mit den herrschenden Praktiken der Welt, und weder teilhaben noch empfinden können: Nicht einmal ein Eremit wird er sein (es gibt keine Eremitagen, die er sich leisten könnte), sondern einfach nur eine traurige Gestalt, die mit den Jahren weniger und weniger begreift: Selbstvernichtung durch ökonomische Abstinenz. Handelt er dagegen ökonomisch und versorgt sich selbst, wird er von der Logik der Macht ergriffen, von der Rhetorik der Effizient, am Ende ist er vorgesetzt, was doch kein anständiger Mann erträgt, besitzt eine Salzmühle von großer Perfektion, und kommt nicht mehr zum Lesen: Er wird einer von ihnen sein, ohne als einer von ihnen genießen zu können.
Die paradoxe Wahl nicht treffen zu müssen ist der Sehnsuchtspunkt der Fremden in den Verhältnissen: Vertraut mit der Welt wollen wir sein, um sie zu spüren ohne Ablehnung, die uns vernichten würde, aber fremd in ihr: Unsere Fähigkeit, sie anders zu lesen, als sie selbst sich liest, vollständig intakt. Der Welt der paradoxen Wahl halten wir kalte Haltung entgegen: Wir gehen durch die ökonomische Abstinenz (falls wir sie wählten) oder durch das ökonomische Handeln (falls wir es wählten) kalt hindurch als gepanzerte Subjekte mit geschlossenen Visieren. Wir schauen durch Linsen, wir entscheiden, wann der Verschluß klickt oder offen bleibt, wir sind Sensoren, um nur auf keinen Fall Zahnräder zu sein. Unser Verhältnis zur Maschine ist alles in allem problematisch. Zu unseren Werten gehören Genauigkeit, Bewusstheit und Luzidität. Wir mögen Autoren der neuen Sachlichkeit. Musil, Jünger, Benjamin, manchmal Brecht oder (verspätet!) Arno Schmidt. Wir haben einen Narren am Bauhaus gefressen, seine Knochen liegen bleich vor den Türen. Wir haben Geschmack, der uns bewahrt vor den Irrtümern, der Partei „Die Linke“ oder den deutschen Fahrzeugmarken zum Beispiel. Die Obszönität der Bitterkeit stößt uns ebenso ab wie die Obszönität des Erfolgs, wir sind, mit einem Wort, vornehm, vornehmer als wir es uns leisten können. (Und wir verteidigen mit allen Mitteln in einer erbarmungslos lustigen Umwelt unsere Fähigkeit, nicht ironisch zu sein.)
Ich gehe durch den Tunnel zwischen den Bahnsteigen der U6 und U2 am U-Bahnhof Stadtmitte. Menschen, Menschen, Schritte, Harmonika. Die Hälfte der Decke entblößt rotlackierte H-Träger mit Nieten, schau hier, Geschichte, die andere ist mit gebürstetem Edelstahl, Lieblingsmaterial der Modernitätsspießer, belegt. Ich bin nicht sicher, ob es noch etwas wahrzunehmen gibt, in dieser Stadt. Ich erreiche den Punkt, auf den die Linien des Tunnels zwischen den beiden Bahnhöfen Stadtmitte zulaufen. Ich bin nicht sicher, wovon das die Mitte ist. Ich bin nicht sicher, wo die Mitte von irgend etwas ist. Ich bin nicht sicher, ob ich statt dieser Stadt die Stadt Shanghai beobachten müsste, eine kommende, noch gar nicht recht existente Stadt, oder New York, eine Stadt, die sich gerade an die Anwesenheit von Geschichte gewöhnt, oder Dubai, oder, nun, man muß sich dran gewöhnen: Shenzhen — oder spielen die Türme gar keine Rolle? Ich mißtraue den großen Narrativen von Veränderung, der China-Erzählung, der Netzerzählung, der ökologischen Erzählung, ich frage mich: Solange niemand sich einen Menschen ausdenken kann, der diese Welten bewohnen soll, einen überzeugenden Typus, der eine Kontur hätte, muß mich das alles kümmern? Sicher ist, Berlin beginnt mich zu langweilen, das Gentrifizierungegeschwätz ist nicht zu ertragen, dieser Megadiskurs zum Thema Holzspielzeug und Pastinaken, contra oder contra, und wer darf dagegen sein?
Wir vermeiden die paradoxe Wahl als Figuren, Projektionen souveräner Individuen, aufmerksam, mit weit geöffneten Augenschleusen, durch die der kalte Strom der Dinge die stahlglatten Pfeiler unseres Bewusstseins umspült. Wir mißtrauen den Wertsystemen der Wärme, dem Hippietum und der Welt des Mittelstands der Mittelstädte.
Aber: Ein Raum, dunkles Parkett, Teppich, ein Spiegel. Gesprungener, stellenweise fehlender Putz. Bücher, draußen der Baum und drei nasse Katzen. Die andere Welt, der Teil unter dem Bruchstrich. Dämmernder Ort der Nichtteilnahme, Syberbergs Bayern —
Erhebet ein Zwist sich,
So stürzen die Gäste,
Geschmäht und geschändet
In nächtliche Tiefen,
Und harren vergebens,
Im Finstern gebunden,
Gerechten Gerichtes.
— die andere Welt, der Dimension der paradoxen Wahl entrückt, in der der Tod denkbar ist (Ruhe soll sein dann, und was soll dann mich schrecken?), wo ein Hahn silberhelles Wasser auf ein Blech tropft, weg flattern die Tropfen im Wind, oder —
Listen. It is night in the chill, squat chapel, hymning in bonnet and brooch and bombazine black, butterfly choker and bootlace bow, coughing like nannygoats, suckling mintoes, fortywinking hallelujah; …
— die andere Welt, in der wir stundenlang hier verharren, wartend auf die schweren Güterzüge, deren Donnern für Sekunden jede Gegenwart verschlingt, bevor das Rauschen der Auen wiederaufsteht hinter uns, und der Fluß vorn sich seines Geräuschs erinnert.
Einsturzgefahr:
Das Schloß Charlottenhof
— Siam —
ist einsturzgefährdet.
Ein Hinweisschild weist darauf hin
Hier sollten Sie nicht sein
Und wenn Sie doch hier sind
rechnen Sie
mit dem Einsturz.